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I. Erzählung und Erzählen

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Erzählung ist überall

Wenn wir heute von Erzählung reden, so assoziieren wir damit unweigerlich die literarische Erzählung: den Roman, die Novelle oder die Kurzgeschichte. Das Wort „Erzählung“ kommt jedoch vom Verb „erzählen“, und erzählt wird allenthalben um uns herum, nicht nur im Roman. Im Deutschen ist der Begriff „Erzählung“ ganz auf den Akt des Erzählens konzentriert. Eine Erzählung ist also vor allem dort anzutreffen, wo uns jemand etwas erzählt: der Nachrichtensprecher im Radio, die Lehrerin in der Schule, der Klassenkamerad am Schulhof, der Sitznachbar im Zug, der Zeitungsverkäufer am Kiosk, der Ehepartner beim Abendessen, der Reporter im Fernsehen, der Journalist in seiner Kolumne und der Erzähler des Romans, in dem wir vor dem Zubettgehen noch schmökern. Auch sind wir alle selbst täglich Erzähler in unseren Gesprächen mit anderen, manchmal auch berufliche Erzähler (ob als Lehrer, Pressesprecher oder Kabarettisten), und zuweilen erzählen wir sogar ‚ganz richtig‘, etwa beim Vorlesen der Gebrüder Grimm als Gutenachtgeschichte für die Kleinen. Das Erzählen ist also eine gängige und oft unbewusste Aktivität in der mündlichen Sprache und erstreckt sich von dieser über mehrere Gebrauchstextsorten (Journalismus, Unterricht) bis hin zu dem, was wir prototypisch als Erzählen auffassen, nämlich das literarische Erzählen als Kunstgattung.

Doch damit noch nicht genug. Wie in der Forschung immer deutlicher wird, ist das menschliche Gehirn so konstruiert, dass es viele komplexe Zusammenhänge in Erzählstrukturen oder in Metaphern (Analogien) fasst. So wie wir eine Beziehung metaphorisch als ein Haus beschreiben können, das der eine Partner mühsam erbaut und mit Liebe eingerichtet hat, während der andere es sorglos verkommen lässt, bis der Putz bröckelt und das Dach einstürzt, genauso begreifen wir auch unser Leben als eine Reise, die narrativ gestaltet werden kann. So ereignen sich oft einige unerwartete Dinge im Leben, die den Gang der Geschehnisse radikal ändern – z.B. das unerwartete Zusammentreffen mit dem späteren Ehepartner. In unserer Rekonstruktion des eigenen Lebens als Geschichte betonen wir gern, dass verschiedene Ereignisse spätere hervorgerufen und beeinflusst haben. Das Leben wird wie eine zielgerichtete Ereigniskette beschrieben, die trotz mancher Hindernisse und dank einiger Glücksfälle zum Jetztzustand geführt hat und die noch weitere vorhersehbare Stadien und unerwartete Entwicklungen für uns bereithält. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Psychoanalyse narrative Lebensentwürfe mit in den Therapieprozess integriert, ja manche Psychologen das Erzählen ins Zentrum der Therapie stellen.

Erzählen und Geschichte

Die Bedeutung des Erzählens für die menschliche Kultur lässt sich auch an der Tatsache erkennen, dass Schriftkulturen ihre Ursprünge in Mythen suchen und diese später in den Werken der Geschichtsschreibung niederlegen und analog zu den Erklärungsprozessen individueller autobiografischer Erzählungen die Leistungen ihrer Vorahnen und die Fortschritte der Nation bis zur Gegenwart als Geschichte(n) bzw. Erzählung ins kulturelle Gedächtnis einschreiben. Auch andere Bereiche von Kultur und Gesellschaft verfassen sich ihre eigenen Geschichten – es gibt die historische Sprachwissenschaft, die eine Entwicklung des Deutschen aus dem Indogermanischen erzählt‘, wie es eine Musikgeschichte, eine Literaturgeschichte und eine Geschichte der Physik gibt. Auch der Nationalstaat hat eine Geschichte, und der Aufstieg und Fall von Institutionen (z.B. des Merkantilismus oder der Sklaverei) werden ebenso narrativ dargestellt wie die Fortschritte der Gentechnologie. Das Erzählen bietet uns eine grundlegende Erkenntnisstruktur an, die uns hilft, die unübersichtliche Vielfalt der Ereignisse zu ordnen und Erklärungsmuster dafür zu liefern.

Erzählungen basieren auf Ursache-und-Wirkung-Zusammenhängen, die auf Ereignissequenzen angewandt werden. In der Historiografie kommen mehrere narrative Erklärungsmodelle zur Anwendung. Aus sicherer Distanz kann man – mit einer Metapher aus der Biologie – von Geburt, Reife und Verfall einer Nation reden. Man kann auch die Serie der Kontingenzen analysieren, die dazu geführt haben, dass jetzt ein gewisser Ist-Zustand vorhanden ist. Ein Beispiel dafür wäre das Problem, warum die Stadt Graz eine so starke protestantische Gemeinde hat. (Dies lässt sich nicht als notwendige Konsequenz eines Entwicklungsprozesses beschreiben, sondern hängt mit den Zufällen von Vertreibung und Wiederansiedlung im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation zusammen.) Es gibt aber auch nicht narrative Modelle der historischen Erklärung, z.B. solche, die allgemeine Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte annehmen oder aktuelle Ereignisse als identische Neuauflagen kardinaler Schicksalsmomente der eigenen Geschichte deuten: der 11. September 2001 als ‚Wiederholung‘ (durchaus auch im zwangsneurotischen Sinn) von Pearl Harbor.

Definition – Was ist Erzählung?

Womit wir auch bei der Frage sind, was denn dann überhaupt keine Erzählung mehr ist, oder wie man Erzählung definieren soll, um sie vom nicht-erzählenden Diskurs abzugrenzen.

In den bisherigen Ausführungen haben wir den Begriff „Erzählung“ so verwendet, wie er allgemein im Volksmund gebraucht wird, nämlich in vielfacher Bedeutung. Um zu einer Erklärung für das spezifisch Narrative des Erzählens zu kommen, müssen wir nun die hilfreichen Unterscheidungen der Erzähltheorie (auch Narratologie genannt) bemühen, um mehr Klarheit in das Wirrwarr zu bringen.

Oben haben wir gesagt, dass Erzählung von Erzählen kommt und dass Erzählen eine sehr weit verbreitete Tätigkeit ist. Im Deutschen ist daher der Begriff der Erzählung eng mit dem Sprechakt des Erzählens verbunden und somit mit der Figur eines Erzählers. Man könnte also Erzählung als all das definieren, was ein Erzähler erzählt. Doch, Achtung, was ist es genau, das der Erzähler erzählt? Ist es der Roman? Oder ist es die Geschichte, die in diesem Roman beschrieben ist?

Erzählakt – Erzähldiskurs – Geschichte

Hier erweist sich Gérard Genettes Unterscheidung zwischen den drei Bedeutungen des französischen Wortes récit (Erzählung) als Ausweg aus dem Dilemma. Genette unterscheidet zwischen narration (dem Erzählakt des Erzählers), discours (der Erzählung als Text bzw. Äußerung) und der histoire (der Geschichte, die der Erzähler in seiner Erzählung erzählt). Man kann auch die ersten beiden Ebenen der Erzählung zusammen als Erzählerbericht (frz. discours, engl. discourse) bezeichnen, indem man den Erzählakt und sein Produkt in eins fasst und sie von der dritten Ebene, der Geschichte (frz. histoire, engl. story) binär abgrenzt. Die Geschichte ist dann das, was der Erzählerbericht aussagt oder darstellt.

Geschichte als Fabel und Plot

Diese Unterscheidungen ermöglichen es uns, z.B. der Tatsache Rechnung zu tragen, dass dieselbe Geschichte in vielfacher Form dargestellt werden kann. So wird das Leben Karls des Großen in mehreren Geschichtswerken ganz verschiedenartig erzählt, und die Geschichte von Schneewittchen sieht in der Grimmschen Fassung ganz anders aus als in modernen Nacherzählungen und Parodien der Märchenvorgabe. Während nämlich im Märchen die Grausamkeit der Stiefmutter im Vordergrund steht, die kannibalische Züge trägt, wie auch überhaupt das Essen eine wichtige Rolle spielt, sind in modernen Fassungen die exzessiven Grausamkeiten der Grimmschen Märchenwelt oft eliminiert, wofür aber die etwas anstößige Situation von Schneewittchen im Haushalt der sieben (männlichen) Zwerge Anlass zu Spekulationen gibt. (Neben einer Vielzahl von Cartoons ist hier z.B. an Donald Barthelmes Roman Snow White [1967] zu denken.) Verschiedene Erzählungen fokussieren also ganz verschiedene Aspekte der Geschichte; oder: noch genauer – die Geschichten, die wir aus verschiedenen Erzähltexten rekonstruieren, sind oft komplementär zueinander. Sie ergänzen in parodistischer oder zeitgeschichtlich relevanter Weise die Lücken, welche frühere Versionen ‚derselben Geschichte‘ (Fabel) in ihrer Darstellung belassen haben (vgl. Stanzel 1977), oder schreiben die Geschichte einfach um, z.B. aus feministischer Sicht. Es gibt also eine Ebene der Geschichte, die Fabel, die in der volkskundlichen Motivgeschichte als Basis für alle Schneewittchenerzählungen gelten kann; andererseits gibt es mehrere Manifestationen dieses Motivs in verschiedenen Ereignisabfolgen und Charakterkonstellationen, also im Plot, die in jeweils existierenden Texten die Ebene der fiktiven Welt der Erzählung ausmachen.

Historie und Geschichte

Hier unterscheidet sich die fiktionale Erzählung (ob im Märchen, Roman oder Fernsehfilm) radikal von der Geschichtsschreibung. Während der Autor beim Schreiben eines Romans oder eines Drehbuchs die fiktive Welt entwirft und so gleichzeitig die Geschichte und – mit ihr untrennbar verbunden – den erzählenden Diskurs samt Erzähltext produziert, konstruieren Historiker aus Quellen (die auch Erzählungen sein können) einen möglichst überzeugenden und konsistenten Hergang der Dinge. Wichtig ist hier vor allem, dass es dem Historiker nicht erlaubt ist, den Aussagen der Quellen ohne guten Grund (Unzuverlässigkeit des Verfassers, Datierungsprobleme) zu widersprechen. Die entworfene Geschichte des Historikers darf nicht frei erfunden sein, sondern nur diejenigen Bereiche ausgestalten, die als Unbestimmtheitsstellen zwischen den Eckpfeilern der durch die Quellen vorgegebenen Elemente Spekulationen erlauben. Aber auch im historischen Diskurs gibt es keine eindeutige Geschichte, weil jeder Historiker im Rahmen seiner speziellen Sicht auf die Dinge verschiedene Aspekte der beschriebenen Epoche und Ereignisse weglässt und verschiedene andere betont.

Geschichte hat immer auch mit Perspektive zu tun. Nicht nur, dass kein Historiker oder Romanautor je die (wirkliche oder fiktive) Welt in toto wiedergeben kann (sonst erginge es ihm wie Tristram Shandy in Laurence Sternes Roman desselben Namens (1759–67), der es nach mehreren hundert Seiten Erzählung noch immer nicht geschafft hat, seine Geburt zu beschreiben, da er bereits in der Vorgeschichte seiner Empfängnis vom Hundertsten ins Tausendste kommt). Erzählung ist Selektion. Jede Historie ist zudem grundlegend perspektivisch. Sie verrät den Blickwinkel des Autors, seiner Nationalität und Herkunft, des Zeitalters, in dem er schreibt/schrieb, und sie ist auf ein Publikum zugeschnitten, das gewisse Vorurteile, ideengeschichtliche Überzeugungen und Erwartungshaltungen hat. Geschichte als Historiografie ist nie objektiv, auch wenn sie sich noch so um Wahrheit bemüht. So ist der schulische Geschichtsunterricht traditionell dem Nationalstaat verpflichtet gewesen, was nicht nur dazu geführt, hat, dass Kontakte mit anderen Nationen sich in der Freund-/Feind-Metaphorik dargestellt fanden, sondern auch alle weltgeschichtlichen Ereignisse vornehmlich aus ‚unserer‘ (nämlich der europäischen) Sicht präsentiert wurden. Folgerichtig erfuhren Ereignisse, die nur nationalstaatliche Konsequenzen auslösten, eine Aufwertung in histoire und discours (dem Plot) des Historiografen, während zentrale Ereignisse und Entwicklungen im Ausland nur am Rande gestreift oder gänzlich ausgelassen wurden. Der deutsche Geschichtsunterricht spiegelte somit den gängigen Eurozentrismus der europäischen Staaten wider, im Rahmen dessen das chinesische Reich, die Moguldynastie in Indien oder die Geschichte Afrikas vor der europäischen Kolonisierung kaum Berücksichtigung fanden. (Zur Ehrenrettung des deutsch[sprachig]en Geschichtsunterrichts sei hier jedoch darauf verwiesen, dass in den USA die Betonung der amerikanischen Perspektive noch viel drastischer ist.)

Wir haben also festgestellt, dass fiktionale Erzählungen fiktive Welten kreieren, während Historiker kollektiv dieselbe reale Welt unter verschiedensten Perspektiven erzählend und erklärend darzustellen trachten. Als Leser konstruieren wir aus dem Erzähltext eines Romans die Geschichte (Figuren, Ort der Handlung, Ereignisse), während es bei historischen Texten die Historiker sind, welche auf der Basis der Quellen eine Geschichte entwerfen und diese dann sprachlich niederlegen. Man kann das so darstellen:


Abb. 1: Geschichte in Historie und Roman

Fabel vs. Plot

Um auf das Märchen zurückzukommen: Wenn man Erzählung mit Geschichte (Fabel) identifiziert, dann sind auch Darstellungen dieser Geschichte in anderen Medien Erzählungen. Im englischsprachigen Raum ist es daher nicht nur üblich, Roman und Film als narrative Gattungen zu analysieren, sondern auch Dramen, Cartoons, Ballette und Pantomimik. In den letzten Jahren wird sogar darüber debattiert, inwieweit Musik, Malerei und Lyrik sich narrativ verstehen lassen und narratologischer Analyse zugänglich sind. (Vgl. u.a. Nünning/Nünning [2002a], insbesondere den Beitrag von Wolf, sowie Hühn [2004] und einige der Aufsätze im Blackwell Companion to Narrative Theory [Phelan/Rabinowitz 2005].) Nehmen wir als Beispiel das Ballett Dornröschen, das eine zugrunde liegende Geschichte aufweist, die in Märchenform auch als Erzählung existiert. Hier werden Ballett und Märchen als alternative Manifestationen derselben Geschichte (Fabel) gesehen. Die russischen Formalisten, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts aktiv waren, haben für diese grundlegende Ebene, die mehreren Versionen (auch in verschiedenen Medien) zugrunde liegt, den handlichen Begriff der fabula geprägt. Wir werden daher im Folgenden die Fabel unterscheiden von der spezielleren Inkarnation des Sujets in der Ebene der Geschichte, also der (konstruierten) Ebene des Erzählwerks, die der Diskurs als fiktive Welt entwirft. Wir werden in Zukunft auf diese als die Plotebene oder die fiktive Welt referieren. (Die russischen Formalisten nannten sie sujet (sjužet), aber dies ist missverständlich, da das Sujet eines Romans im Deutschen sich eher auf dessen Thematik bezieht.)

Der Erzähler

Womit wir wieder zur Frage nach der Definition von Erzählung zurückkehren. Zum Teil wegen der gebräuchlicheren deutschen Termini „Erzähler“ und „Erzählung“ sind Definitionen der Erzählung im deutschen Sprachraum eng gefasst, also auf die Figur des Erzählers bezogen gewesen. Erzählung ist also die Geschichte, die ein Erzähler erzählt. Damit reiht sich die Forschung in die Tradition der Goetheschen Dreiteilung von Lyrik, Epik, Dramatik ein, wonach die Epik das grundlegend Narrative ist. Und die Epik hat einen Barden, einen Erzähler, der erzählt. Nach dieser traditionellen Auffassung gibt es also wohl Textgattungen, denen eine Geschichte zugrunde liegt – das Drama z.B. – aber diese sind nicht genuin narrative Gattungen, weil in ihnen kein Erzähler obwaltet. Aus diesem Grund ist in der Erzähltheorie von F. K. Stanzel (2001) das Drama keine Erzählgattung. Diese Zusammenhänge kann man so darstellen:


Abb. 2: Definition von Erzählung auf der Basis eines Erzählers

Das heißt: Die Erzählung ist eine Teilmenge der Gattungen mit Geschichte.

Im angloamerikanischen Sprachraum hat sich hingegen in der Folge von Seymour Chatmans einflussreichem Buch Story and Discourse (1978) eine eher weite Definition von Erzählung entwickelt, die auch andere Medien als die des erzählenden Diskurses zulässt. Hatte noch Gerald Prince in seinem Standardwerk, A Dictionary of Narratology (1987), die Erzählung definiert als:

narrative: The recounting […] of one or more real or fictitious EVENTS communicated by one, two, or several (more or less overt) NARRATORS to one, two, or several (more or less overt) NARRATEES (58)

so definiert Chatman zwar die Erzählung (narrative) als Konjunktion von Diskurs und Geschichte, erweitert aber die Diskursdefinition medial und setzt z.B. in Analogie zum Erzähler traditioneller Prägung einen „cinematic narrator“ (1990: 126–34) an, der eine ähnliche Vermittlungsfunktion in der Darstellung der Geschichte erfüllt wie der Erzähler im Roman. Da die vorliegende Einführung für Studierende in Einführungskursen philologischer Studienrichtungen konzipiert ist, werden wir im Folgenden nur selten auf den Film rekurrieren und uns hauptsächlich dem traditionelleren sprachlichen Erzählmedium zuwenden. Allerdings werden wir bei der Analyse des Handlungsschemas auch auf das Drama zurückgreifen, da sich die Plotanalyse für Roman und Drama weitgehend in Übereinstimmung befindet.

Geschichte und Handlung

Der Begriff „Plotanalyse“ bringt mich jedoch noch zu einem weiteren Punkt, nämlich der Bedeutung von Handlungsabfolgen für die Definition der Erzählung. Traditionell wird die Geschichte als eine Sequenz von Ereignissen begriffen, die einen Beginn, eine Mitte und ein Ende haben und meist über Komplikationen im Mittelteil Spannung erzeugen, welche sich durch die Lösung der Konflikte am Werkende aufheben. Die oben zitierte Definition von Prince versucht, das Narrative in einer Minimalausführung auf „ein oder mehrere“ Ereignisse zu beschränken. Doch ist das nur die radikale Ausführung der allgemeinen These, wonach Geschichte und Handlung einander gegenseitig bedingen.

Diese Verschränkung von Geschichte und Handlung stimmt auch größtenteils – in den meisten Erzählungen geht es in der Geschichte um Ereignisketten. Ereignisse sind also ein charakteristischer Teil von erzählten Welten. Manche Erzählgattungen leben fast ausschließlich vom Interesse des Geschehens („Und was passierte dann?“). Andererseits geht es in Erzählungen nicht vorrangig um Ereignisketten, sondern um fiktive Welten, in denen die Figuren der Geschichte leben, handeln, denken und fühlen. Neuere theoretische Entwürfe der Erzähltheorie wie die Theorie der möglichen Welten (possible worlds theory; siehe Kapitel X) und die natürlichkeitstheoretische Narratologie (Fludernik 1996) haben daher die Existenz von fiktiven Personen in einer fiktiven Welt in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Aus kognitionstheoretischer Perspektive ist es so, dass Handeln, Denken und Fühlen sich automatisch als Existenzbedingung einer menschlichen Figur darstellen, also implizit aus ihrer Existenz folgen.

Die Betonung auf „menschliche“ Figur ist ausschlaggebend. Ein Kriterium für das, was Erzählung ausmacht, ist die Notwendigkeit, menschliche oder menschenähnliche Protagonisten in den Mittelpunkt zu stellen. Texte, die Gene während der Zellteilung beschreiben, sind nur insofern ‚narrativ‘, als sie Ereignissequenzen nachzeichnen. Unter Erzählforschern ist jedoch unumstritten, dass ‚richtige‘ Erzählungen menschliche Protagonisten oder anthropomorphe Figuren (den sprechenden Hasen der Fabel, das sprechende Auto, etc.) haben. Auch wenn nicht alle Erzählungen die Gedankenwelt der Figuren in den Mittelpunkt der Geschichte stellen, so ist die Darstellung der Innenwelt von fiktiven Figuren für die fiktionale Erzählung charakteristisch, denn nur in der Fiktion ist es möglich, die Gedanken von anderen Personen einzusehen. (Diese Erkenntnis stammt von der Erzählforscherin Käte Hamburger [1957/1994].) Um aber der Erkenntnis, dass Ereignisfolgen in Gebrauchstexten auch irgendwie narrativ sind, Rechnung zu tragen, kann man für Ereignisfolgen den Begriff „Berichtform“ einführen und anmerken, dass Erzählungen typischerweise Ereignisketten in Berichtform enthalten und diese berichtenden Teile auch in nicht-narrativen Gattungen wie in einem biologischen Aufsatz über die Zellteilung zur Anwendung kommen.

Ein letztes Kriterium dafür, was eine Erzählung ist und was nicht, ergibt sich durch die zeitliche Verankerung des narrativen Geschehens. Dies hängt auch mit der Zentralität der Protagonisten als in kognitiver Hinsicht ‚realweltlichen‘ Figuren zusammen. Jeder Mensch ist in seiner Existenz an einen Zeitpunkt sowie an einen Ort gebunden. Was davor geschah, ist vergangen und im Gedächtnis verankert, was danach geschieht, wird Zukunft sein, die in Gegenwart und dann Vergangenheit übergeht. Eine wichtige Unterscheidung zwischen Lyrik und Erzählung ist daher, dass Gedichte ihr lyrisches Ich oft nicht zeitlich und örtlich fixieren, so dass die existenzielle Verankerung des Ichs in Raum und Zeit fehlt. Damit entfällt auch eine mögliche narrative Deutung solcher Gedichte.

Definition

Um nun die geschilderten Kriterien zusammenzufassen, können wir die Definition von Erzählung wie folgt angeben:

Eine Erzählung (engl. narrative, frz. récit) ist eine Darstellung in einem sprachlichen und/oder visuellen Medium, in deren Zentrum eine oder mehrere Erzählfiguren anthropomorpher Prägung stehen, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht existenziell verankert sind und (zumeist) zielgerichtete Handlungen ausführen (Handlungs- oder Plotstruktur). Wenn es sich um eine Erzählung im herkömmlichen Sinn handelt, fungiert ein Erzähler als Vermittler im verbalen Medium der Darstellung. Der Erzähltext gestaltet die erzählte Welt auf der Darstellungs- bzw. (Text-)Ebene kreativ und individualistisch um, was insbesondere durch die (Um-)Ordnung der zeitlichen Abfolge in der Präsentation und durch die Auswahl der Fokalisierung (Perspektive) geschieht. Texte, die von Lesern als Erzählungen gelesen (bzw. im Drama und Film: erlebt) werden, sind automatisch narrative Texte; sie dokumentieren dadurch ihre Narrativität (engl. narrativity, frz. narrativité).

Der letzte Satz bezieht sich auf stilistische Techniken in Erzählungen, wie die Möglichkeit, zuerst am Ende des Geschehens mit der Darstellung einzusetzen und dann im Rückblick die Ereignisse bis dahin zu beschreiben, wie dies in Hundert Jahre Einsamkeit von García Márquez geschieht. Wir werden diese Techniken ausführlich in Kapitel IV beschreiben. Desgleichen können Erzählungen auch zwischen mehreren Standpunkten wählen, z.B. ob sie die Ereignisse aus der Sicht des Erzählers oder einer Figur schildern, ob sie uns Einblick in die Gedanken der einen Figur, nicht aber der anderen gewähren. Im Film werden diese Effekte oft mit Nahaufnahmen erzielt. Diese Möglichkeiten werden wir in Kapitel VIII diskutieren. Zwischen der Plotund der Diskursebene erfolgen also mehrere Umstrukturierungen, die auch medial bedingt sind (Dramen, Filme und Romane gestalten ihre Diskursoberfläche in verschiedener Weise).

Zusammenfassung

Wir haben in diesem Kapitel gelesen, dass es fiktionale (erfundene) und nicht fiktionale Erzählungen gibt, ebenso wie es sprachliche (Roman, Alltagserzählung), visuelle (Ballett) und sprachlich-visuelle (Drama, Film) Erzählungen gibt. Verbale Erzählungen haben häufig einen Erzähler, der den erzählenden Diskurs, also den Erzähltext, produziert. Aus der Erzählung konstruieren wir die darunter liegende Handlungsstruktur (Plot), die auch Geschichte heißt und eine Manifestation der Fabel ist, des Motivkomplexes der Geschichte. Diese Zusammenhänge lassen sich wie folgt in Abbildung 3 darstellen:


Abb. 3: Fabel, Plot und Diskurs in verschiedenen Medien

Erzähltheorie

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