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Innere Erzählstrukturen

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Erzählebenen

Es ist als erstes zwischen verschiedenen Erzählebenen zu unterscheiden. So gibt es nach dem gängigen Kommunikationsmodell des Erzählens (A. Nünning 1989, Coste 1989, Sell 2000) eine Ebene, auf der der Erzähler (also die im Text konstituierte Erzählerfigur) mit einer Leserfigur kommuniziert. Diese Ebene der Narration oder narrativen Kommunikation kann implizit oder explizit gestaltet sein. So redet die Erzählerin in Lilian Faschingers Magdalena Sünderin (1995) ihr Gegenüber explizit an: „Und jetzt werden Sie mich anhören, Hochwürden“ (11). Diese fiktive Figur ist die Person, an welche sich die Anrede der Erzählerin richtet. Sie existiert textintern als (nicht nur auf der Plotebene ausgestaltete) Figur, die zuhört und auch als handelnde Person auftritt. Die Kommunikationssituation des Erzählerberichts ist die einer Beichte. Andere Romane weisen Erzähler auf, die ihr Gegenüber überzeugen, irreführen oder betören wollen. Neben solcherart intrafiktionalen Leser-/Hörerfiguren (Hochwürden ‚existiert‘ in der Fiktion auf der Geschichts- und Kommunikationsebene) gibt es viel häufiger Leserfiguren, die relativ vage bleiben und mit denen sich der tatsächliche Leser identifizieren mag, oder von denen er sich auch eventuell absetzen möchte. Wenn im viktorianischen Frauenroman die Erzählerin ihren „dear reader“ apostrophiert, so wird ein inniges Verhältnis auch zum realen Leser suggeriert; Laurence Sternes „Dear Madam“-Kommentare hingegen, in denen er der Leserfigur Dummheit vorwirft, dienen einer metafiktionalen Posse, bei der der Leser sich von dieser Leserfigur ironisch distanziert.

Impliziter Autor bzw. Leser

Manche Erzähltheoretiker setzen um diese Kommunikation von Erzählerfigur und Leserfigur noch eine weitere Kommunikationsklammer zwischen einem sogenannten impliziten Autor (implied author – Booth) und dem impliziten Leser (Iser). Der implizite Autor ist in Wirklichkeit keine Figur, sondern ein Leser/Interpreten-Konstrukt, das den Sinn des Werkganzen in eins fasst. Sätze wie „In Little Dorrit [Klein Dorrit] will Dickens die Übermacht gesellschaftlicher Zwänge demonstrieren“ konstruieren eine Autorabsicht, die auf der Lektüre des Romans und der damit verbundenen Spekulation über seine Bedeutung basieren. Dickens ist hier nicht mit dem historischen Charles Dickens gleichzusetzen (dem realen Autor), sondern mit dem Bild, das sich der Leser von der Werkabsicht macht. Parallel dazu ist der implizite Leser (engl. implied reader, frz. lecteur implicite) nicht mit dem realen Leser gleichzusetzen, sondern ein Konstrukt des Interpreten, der eine Rezeptionshaltung aus dem Werk abliest. So kann man sagen, dass in vielen Dickens-Romanen trotz aller sozialkritischen Elemente eine sehr bürgerliche Weltsicht vertreten wird, dass es sich um Texte handelt, deren LeserInnen sich dem viktorianischen Arbeitsethos und der Verschleierung sexueller Realitäten verpflichtet fühlen.


Abb. 4: Die narrativ-kommunikative Situation (zitiert nach Chatman 1978: 151)

Funktionen des Erzählers

Was hat der Erzähler eigentlich für Funktionen im Erzähltext? Hier haben wir uns zunächst auf die Kommunikationsfunktion konzentriert. Der Erzähler hat jedoch eine ganze Reihe anderer Funktionen, die kurz zu referieren wären. Die folgende Darstellung basiert auf Nünning (1989, 1997), die wohl ausführlichste Beschreibung von Erzählerfunktion. Erstens hat der Erzähler eine erzähltechnische Funktion: Er präsentiert die erzählte Welt. In dieser Funktion kann der Erzähler verdeckt bleiben und muss als expliziter Erzähler nicht hervortreten. Zweitens hat der Erzähler eine kommentierende oder erklärende Funktion: Er erklärt, warum Ereignisse eintreten, führt sie auf politische oder soziale Umstände zurück, deutet die Motivation der Charaktere u.a.m. Diese Funktion erfordert eine explizite Erzählerfigur, meist auch eine, die mit einem „ich“ im Erzähltext auftritt. Wichtig ist, dass diese Kommentare sich auf die dargestellte Welt der Erzählung beziehen. Solche Bewertungen und Erklärungen zielen primär darauf ab, die Sympathie bzw. Antipathie des Lesers für bestimmte Charaktere zu wecken (Sympathielenkung) und ein Normensystem für die erzählte Welt bzw. für deren Rezeption zu entwickeln. Drittens geriert sich der Erzähler oft als Moralist und Philosoph, der allgemein gültige Thesen vertritt, insbesondere in Sätzen im sog. gnomischen Präsens (z.B. „Der Mensch ist ein Tier, das durch das Sprechen degeneriert ist“ oder „Boys will be boys“). Hier sind die Äußerungen des ebenfalls expliziten Erzählers auf die Welt an sich und nicht nur auf die Figurenwelt gerichtet, auch wenn sie implizit genau auf diese angewandt werden sollen. Der Erzähler äußert gnomische Einsichten nur, um die Ereignisse in der fiktionalen Welt als Beispiele für die allgemein gültige Regel auszuweisen. Auch die allgemein gültigen Aussagen des Erzählers dienen der Erstellung eines Normensystems, das die Interpretation des Textes durch den Leser erleichtern soll. Viertens hat der Erzähler vermittlungsbezogene Funktionen, die mit der Kommunikationssituation der Erzählung zusammenhängen (Anrede an die Leserfigur, metanarrative Äußerungen über den Erzählvorgang). Selbstverständlich verschwimmen diese Funktionen in Sätzen des Erzählerberichtes miteinander, z.B. wenn berichtende Sätze, die eine Person beschreiben, mit bewertenden Adjektiven versehen sind, also Funktionen 1 und 2 kombiniert werden.

Der unzuverlässige Erzähler

Ein besonderer Fall tritt ein, wenn eine Erzählerfigur ihre Glaubwürdigkeit einbüßt, weil sie die gesellschaftlich gültigen Normen in ihren Ansichten oder ihrem Verhalten verletzt. Ein solcher unzuverlässiger Erzähler (engl. unreliable narrator, frz. narrateur non-fiable) stellt die (fiktionale) Wirklichkeit verzerrt dar, entweder weil er von obsessiven Ideen geplagt ist (so könnte man den Binnenerzähler von Tolstois Kreutzersonate als besessen bezeichnen und seine Interpretation der Ehe für verrückt halten), sich durch seinen Diskurs als unmoralischen oder hinterhältigen Menschen outet (Jason Compson in Faulkners Schall und Wahn [The Sound and the Fury, 1956]), bzw. sich als naiver Zeitgenosse entpuppt, der die tatsächlichen Hintergründe des Geschehens nicht versteht (wohl aber der Leser, der quasi ‚zwischen den Zeilen‘ die Wahrheit herausliest). Ein Beispiel für den naiven unzuverlässigen Erzähler ist der Diener in Maria Edgeworths Roman Castle Rackrent (1800). In der deutschen Literatur ist Serenus Zeitblom, der periphere Ich-Erzähler in Thomas Manns Doktor Faustus (1947), ein unzuverlässiger Erzähler, da er die Geschehnisse um Adrian Leverkühn nur ungenau erfasst.

Der unzuverlässige Erzähler wird im Modell von Wayne C. Booth, der ihn ‚erfunden‘ hat, mit dem impliziten Autor in Verbindung gebracht: Der Leser erkennt nur dadurch den Ich-Erzähler als unzuverlässig, weil er dem impliziten Autor Meinungen zuschreibt, die mit den Ansichten des Ich-Erzählers konfligieren. Unzuverlässiges Erzählen erweckt den Eindruck, als ob der implizite Autor hinter dem Rücken des Ich-Erzählers mit dem Leser kommuniziere. Der Ich-Erzähler ist absichtlich als Figur konzipiert, die der Leser als unglaubwürdig entlarvt. Der unzuverlässige Ich-Erzähler ist daher ein Zeichen von Fiktionalität – reale Ich-Erzähler entlarven sich selbst, sie werden nicht durch Werkinterpretation und Werkintention lächerlich gemacht (Löschnigg 2006). Ansgar Nünning hat hingegen eine rezeptionstheoretisch fundierte Analyse des unzuverlässigen Erzählers vorgelegt (1998), in der auch auf textuelle Signale und Verdachtsmomente hingewiesen wird. So macht sich ein Erzähler wie viele der Ich-Erzähler in Edgar Allan Poes Kurzgeschichten verdächtig, wenn er fortdauernd beteuert, nicht zu lügen.

Fehlbarkeit

Ob Unzuverlässigkeit auch auktorialen Erzählern oder Reflektorfiguren zugeschrieben werden kann, ist unter Narratologen umstritten. Seymour Chatman hat jedoch für Reflektorfiguren den Begriff der fallibility eingeführt: Bloom in Joyces Ulysses wäre nicht unzuverlässig, sondern durch seine beschränkte Sicht fehlbar.

Figuren als Erzähler

Unterhalb der Kommunikationsebene zwischen Erzählerfigur und Leserfigur lässt sich eine weitere interne Ebene anberaumen. In der fiktionalen Welt gibt es nämlich auch noch weitere Erzähler, die Figuren sind und Erzählhandlungen ausführen. Sie wenden sich an andere Figuren und erzählen ihnen eine Geschichte. Solche Binnenerzählungen finden auf der Ebene der Geschichte statt (in Genettes Terminologie sind sie intradiegetisch), die erzählte Binnengeschichte (also die in ihr dargestellte Welt) befindet sich auf einer darunterliegenden Ebene, die Bal als hypodiegetisch bezeichnet. (Genette nennt sie metadiegetisch, was aber eine unglückliche Terminologie ist, da das Suffix meta, wie in „metalinguistisch“ etc., meist einen Kommentar über eine Sache, also eine darübergeordnete Diskursebene, bezeichnet.)

Rahmenerzählung

Neben der Binnenerzählung gibt es auch die Rahmenerzählung. Rahmen (im Folgenden mit eckigen Klammern symbolisiert) können entweder nur zu Beginn, nur am Ende, sowohl zu Beginn wie zu Abschluss der Erzählung, oder auch zusätzlich intermittent platziert sein. Nelles (1997: 147–49) nennt die erste Variante introductory, die zweite terminal framing. Im Deutschen könnte man etwa von A. einleitender Rahmung; B. abschließender Rahmung; C. umschließender Rahmung; und D. intermittenter Rahmung (interpolated frame) sprechen. (McHale [1987:117] charakterisiert Typen A und B als „missing end frame“ bzw. „missing opening frame“ [Wolf 2006:185-7].)


Abb. 5: Vier Typen von Rahmenerzählung

Beispiele

So beginnt Joseph Conrads Novelle Heart of Darkness (Herz der Finsternis) mit der Szene, in der Marlow, der Ich-Erzähler, und seine Freunde in einem Boot auf der Themse sitzen; dann folgt Marlows Geschichte; und am Ende finden wir uns wieder unter den Männern im Boot ein, die zugehört haben. Henry James’ Novelle The Turn of the Screw (Das Geheimnis von Bly) besitzt hingegen nur eine Rahmenhandlung am Erzählbeginn, in der eine Gruppe von Freunden Geistergeschichten austauscht, bis es zum Vortragen der eigentlichen Story kommt. Ein Beispiel für eine intermittente Rahmenerzählung ist Storms Schimmelreiter (1888), in der der Schulmeister seine Binnenerzählung vielfach unterbricht (vgl. unten in Kapitel XI) oder Tolstois Novelle Die Kreutzersonate (1889). Die unüblichste Kategorie ist B, Endrahmung. Hier sind Fälle am häufigsten, in denen die Binnengeschichte nicht erzählt wird, sondern eine Vision ist, aus der der Leser am Textende herauskatapultiert wird wie in Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow, wo (zumindest nach einer Lesart) der gesamte Roman sich als Film erweist, den Slothrop eben sah.

Mehrfache Rahmung

Wenn Charaktere Geschichten erzählen, stellt auch die Erzählebene, zu der diese Figuren gehören, einen Rahmen dar – Rahmen- und Binnenerzählung sind also rekurrente Elemente, die ineinander geschachtelt werden können:


Abb. 6: Rahmen- und Binnenerzählung

Die bekanntesten Texte mit komplexerer Rahmenstruktur sind die Märchen von Tausend und einer Nacht (vgl. Ryan 1986). Neuere Arbeiten zur Rahmenerzählung (Nelles 1997) haben auch hervorgehoben, dass Rahmungen sowohl auf der vertikalen wie der horizontalen Erzählebene platziert sein können – d.h. die eingerahmte Geschichte kann, wie in Tausend und einer Nacht, jeweils eine Geschichte sein, die eine Figur erzählt, und in dieser Geschichte wird wieder eine Geschichte erzählt (vertikale Achse) – die eingerahmte Erzählung ist jeweils in die intradiegetische Ebene eingebunden; eingerahmte Erzählungen können aber auch nebeneinander platziert sein, ohne dass die Vertikalität explizit verdeutlicht wird. Erst in der Interpretation erkennt man, dass die bewussten Textteile ‚eingerahmt‘ sind. Nelles unterscheidet des Weiteren zwischen epistemischer und ontologischer Rahmung, d.h. zwischen gerahmten Geschichten, die nur in der Gedankenwelt einer Figur existieren, und solchen, die tatsächlich in der fiktionalen Welt stattgefunden haben.

Erzähltheorie

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