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III. Das Erzählwerk
ОглавлениеDer Kontext des Erzählwerks
In diesem Kapitel möchte ich einen Bereich in meine Darstellung einbeziehen, der in traditionellen Erzähltheorien ausgeklammert wird – das publizierte Buch, die dramatische Aufführung bzw. die Produktion und Rezeption der Erzählung in der realen Welt. Selbstverständlich ist dieser Bereich in der klassischen Erzählforschung zu Recht marginalisiert worden – der Literaturwissenschaftler, der textnah philologisch verfährt, muss diese soziologische Komponente geradezu vernachlässigen, um einmal semiotisch an das heranzukommen, was im Text steht und sich bei der Lektüre dem Leser sprachlich und narrativ erschließt. Hingegen hat in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten die Tendenz zugenommen, Literatur auch soziologisch und insbesondere anwendungsbezogen zu untersuchen, also den Kontext genauer ins Auge zu fassen. Seit dem New Historicism amerikanischer Prägung ist auch in den Literaturwissenschaften das Text-Kontext-Verhältnis ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, wobei primär ideologische Fragen und rezeptionstheoretische Aspekte eine Rolle spielen. Während Stephen Greenblatt, der wichtigste Vertreter des amerikanischen New Historicism, sich damit befasst, wie literarische und nichtliterarische Diskurse im Rahmen eines Foucault’schen Diskursbegriffs Macht ausüben, an Macht partizipieren oder Macht unterminieren, haben andere Studien sich verstärkt mit Zensur, Publikationsmedien und -institutionen sowie mit dem Leser befasst. (Vgl. u.a. Smith 1993.)
Der Autor
Auch der Autor ist inzwischen wieder verstärkt ins Blickfeld der Literaturwissenschaft getreten. So hat Roland Barthes’ Totsagung des Autors (Barthes 1968) sich für die ideologischen Interessen der British Cultural Studies und des New Historicism wenig nutzbringend erwiesen, wenn auch der Autor als Individuum hinter seine Funktion als Träger ideologisch aufgeladener Diskurse zurücktritt. In der Erzähltheorie spielt der Autor neuerdings ebenfalls eine wichtigere Rolle, nämlich einerseits in allen Texten, deren Autoren diskriminierten Gruppen (z.B. ethischen Minderheiten) angehören (postkoloniale Texte, Einwandererliteratur, Frauenliteratur), und andererseits in Texten, in denen der Autor sich selbst einbringt. Diese letztere Kategorie umfasst u.a. ältere Erzählungen, in denen zwischen Autor und Erzähler nicht nur nicht geschieden wird, sondern sogar der Erzähler sich auf seine Identität mit dem Autor beruft. Ein gutes Beispiel für so einen Text ist Aphra Behns mittlerweile klassische Erzählung Oroonoko (1688), eine Romanze mit einer peripheren Ich-Erzählerin, die sich als die Autorin selbst darstellt. So hat sie z.B. wirklich den Federschmuck der Indianer von Surinam, von dem sie im Roman spricht, mit nach London genommen, und dieser wurde sogar in einem Dryden-Stück als Requisit eingesetzt. Zweitens gibt es auch eine ganze Anzahl postmoderner Romane, in denen Autobiografien und Ich-Romane referentiell verschwimmen, es für den Leser schwierig wird, festzustellen, ob die Erzählerfigur eine fiktionale oder eine real autobiografische ist. Ein Beispiel für diese Ambivalenz ist Henry Millers Tropic of Cancer (1934), ein Text, den Miller als autobiografisch sah, während Leser ihn als fiktional lasen (vgl. Cohn 1999:35).
Schließlich hat es innerhalb der Erzähltheorie von Fotis Jannidis einen Vorstoß gegeben, eine „Rückkehr des Autors“ in die Erzählforschung zu proponieren (1999). De facto ist der Autor über die Fiktion des implied author (impliziten Autors, Booth 1961) ja schon lang im narratologischen Diskurs verankert gewesen, wobei allerdings kontrovers bleibt, inwieweit der implizite Autor einen Personenstatus hätte. Insofern, als der implizite Autor Intentionen des Textes ‚artikuliert‘, ist er eine Person; insofern er als ‚das Textganze‘ und die ‚Sinn-Intention des Textes‘ beschrieben wird (vgl. unten in Kapitel IV, sowie Heinen [2002]), wird daraus eher eine nebulöse Konstruktion ohne anthropomorphe Züge. Schon Genette und Cohn lehnten daher die Figur des impliziten Autors ab, und kehrten zur Diade Erzähler-Autor zurück (Genette 2003; Cohn 1999; 132–49; 2000).
Biologisches Geschlecht des Autors
Ein besonders brisanter Aspekt von Autorenschaft ist der, ob der Autor ein Mann oder eine Autorin, eine Frau, ist. Die Frage nach dem Geschlecht des Autors war eigentlich soziologisch immer relevant, wurde jedoch vielfach ignoriert, da die Autorität eines Textes von einer implizit männlichen Autorenschaft abhing. Die Annahme eines männlichen Pseudonyms, eines pen name, wie es im Englischen so schön heißt, war besonders im neunzehnten Jahrhundert für Frauen eine wichtige Strategie, um ihren Werken im Literaturbetrieb Gehör zu verschaffen. (z.B. „George“ Eliot für Mary Ann Evans). Schließlich wurden Werke von Frauen für weniger seriös gehalten, auch wenn, oder gerade weil, sie am Markt in großer Zahl vorhanden waren. (Männer hatten gegen eine Flut von scribbling women anzukämpfen.)
Écriture féminine?
Das Geschlecht des Autors ist jedoch auch in der Literaturwissenschaft textimmanenter Prägung diskutiert worden, und zwar unter dem Aspekt der sprachlichen Differenz zwischen weiblichem und männlichem Diskurs, am Krassesten in den Vorstellungen feministischer Literaturtheoretikerinnen wie Luce Irigaray, die von einer écriture féminine, einem weiblichem Stil zu schreiben, sprechen. Die radikalen Sprachexperimente mancher postmoderner Autorinnen (wie Monique Wittig) sind jedoch nicht prinzipiell verschieden von radikalen Experimenten männlicher Autoren, die die Auflösung der Sprache betreiben – die Strategien werden jedoch zu verschiedenen Zwecken eingesetzt – bei Beckett etwa zum Zweck der Darstellung existenzieller Fragen, bei Wittig, um eine weibliche Körperzentriertheit zu beschreiben.
Zudem muss man darauf hinweisen, dass Autorinnen, deren Namen nicht als weiblich erkenntlich sind, gut und gerne von Lesern als männlich eingeschätzt werden, und dass sowohl Männer wie Frauen z.B. als Ich-Erzähler des anderen Geschlechts auftreten können, ohne dass dies einen besonderen Unterschied im Stil ausmachen würde. Andererseits gibt es Sprachen und Stile, in denen besonders ‚männliche‘ oder ‚weibliche‘ stilistische Elemente vorherrschen (das Japanische ist ein eklatantes Beispiel dafür), so dass die Erzählung ‚Weiblichkeit‘ oder ‚Männlichkeit‘ quasi als Performanz vorführt. Wie Robyn Warhol (1989) ausgeführt hat, bedienen sich viele viktorianische Erzählerinnen solcher performativer Weiblichkeit. Die ‚Geschlechtszugehörigkeit‘ des Autors ist also nicht direkt aus dem Text zu ermitteln, und eine markierte Weiblichkeit des Erzählerberichts muss nicht auf eine Autorin als tatsächlicher Verfasserin verweisen.
In diesem Kapitel möchte ich aber vorrangig nicht auf diese komplexen und auch umstrittenen Fragen eingehen, sondern einige grundsätzliche Aspekte des Text-Umfeldes einführen, die bei einer Interpretation hie und da eine Rolle spielen können.
Die Autorfunktion
Der Autor einer Schrift muss nicht immer derjenige sein, der den Text niedergeschrieben hat. Wie Harold Love in seinem Buch zur Textkritik ausführt, kann man zwischen mehreren Autoren unterscheiden. So gibt es ein precursory authorship, ein executive authorship, declarative und revisionary authorship (Love 2002: 40–50). Ein precursory author (Quellenautor) ist der Autor einer Quelle, die auf den Text entscheidend eingewirkt hat (z.B. Holinsheds Chronicles, die Shakespeares historischen Werken zugrunde liegen). Der executive author als ausführendes Organ ist für die Abfassung des Textes zuständig. Der declarative author hingegen ist derjenige, der als Autor am Titelblatt erscheint, auch wenn er mit der Textabfassung nichts zu tun hatte (der executive author ist das, was man gemeinhin als Ghostwriter bezeichnet). Beim revisionary author, der für Textänderungen zuständig ist, handelt es sich oft um den Herausgeber oder einen Verwandten des Autors. Nicht nur, dass also Autorschaft nicht so eindeutig definierbar ist, man muss auch die rechtliche Entstehung des Autorenbegriffs berücksichtigen. So hat Lukas Erne in seinem Shakespeare-Buch (2003) u.a. darauf verwiesen, dass erst im Verlauf der elisabethanischen Epoche der Begriff der Autorenschaft für Dramatiker entstand, da zuvor die Schauspieltruppe für die Stücke verantwortlich zeichnete.
Ein wesentlicher Bruch erfolgte im achtzehnten Jahrhundert, das nicht nur deshalb eine Wasserscheide im Verlagswesen darstellt. Im achtzehnten Jahrhundert wurde nämlich das copyright, das zunächst bei den Verlegern lag, nach einiger Zeit den Autoren zurückgegeben. Davor konnte ein Verlag dem Autor eine geringe Summe zahlen und dann bei Erfolg des Buches den gesamten weiteren Profit einkassieren. Doch auch diese neue Regelung brachte nicht viel für die Autoren, da Raubeditionen, vor allem in Amerika, bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein das Einkommen von Autoren wesentlich schmälerten. (Vgl. für England u.a. Siskin [1998].)
Zensur
Literatur war auch immer der Zensur ausgesetzt. Während im Mittelalter diese von klerikaler Seite auf Blasphemie bzw. Häresie konzentriert war, machte sich im sechzehnten Jahrhundert bereits der Nationalstaat bemerkbar und begann mit dem Zensieren aus politischer Perspektive. In England fiel so nicht nur ein Pamphlet gegen Elizabeths geplante Hochzeit mit einem Katholiken der Zensur zum Opfer (so wie die Hand des Autors auf dem Block); auch Theaterstücke mit politisch gefährlichen Themen konnten betroffen sein. (Vgl. Clare [1990] und Dutton [1997].) So protestierten die Schotten am Hof gegen Jonson, Chapman und Marstons Drama Eastward, Ho (1605), und die Autoren wurden wegen einer Passage, die Schotten verunglimpfte, inhaftiert. Ende des achtzehnten Jahrhunderts konnte der radikale Autor William Godwin seine gesellschaftskritischen Thesen nur in Romanform vertreten; seine philosophische Schrift Political Justice (1793) entging der Zensur nur, weil das Buch so teuer war, dass die von der Regierung gefürchteten Massen es nicht kaufen konnten.
Seit dem neunzehnten Jahrhundert sind Zensurverfahren jedoch fast ausschließlich auf moralisch-sexuelle Themen bezogen. Oscar Wildes Drama Salomé, wie Flauberts Madame Bovary, waren wegen der freizügigen Schilderung von ‚Unmoral‘ Ziel der Zensur. Im zwanzigsten Jahrhundert hat z.B. die Schilderung von Kindesmissbrauch in John McGaherns Roman The Dark (1965), die Steinigung eines Babys auf der Bühne in Edward Bonds Drama Saved (1965) sowie die antipatriotische Sicht auf den Irlandkonflikt in Howard Brentons The Romans in Britain (1980) die Gemüter erhitzt. Obwohl die Zensur in den meisten europäischen Staaten im zwanzigsten Jahrhundert aufgehoben wurde, besteht der Index der Katholischen Kirche weiter, und Zensur aus religiöser Sicht wird weiter verhängt – nicht nur in England für Salman Rushdies Satanic Verses (1988), sondern auch in Österreich gegen den Aktionskünstler Hermann Nitsch.
Für die Erzählforschung ist zunächst interessant, dass literarische Erzählungen wegen ihrer Fiktionalität oft politischer und religiöser Zensur entkamen. Es ist ein gut bewährtes Rezept, statt eine Brandrede auf die politische Situation zu schreiben, ein Theaterstück zu verfassen, in dem ähnliche Umstände im antiken Rom beschrieben werden. Allerdings kann bei besonders nervösen Machthabern auch ein klassisches Drama Besorgnis erregen. Dies erklärt z.B. den Grund, warum manche Shakespeare-Stücke in totalitären Staaten nicht aufgeführt werden durften, und das, obwohl diese die Zensur zu Elizabeths Zeiten gut überstanden. Athol Fugards The Island (1973) thematisiert diese Strategie hingegen offen, indem er anhand eines Spiels im Spiel (zwei Häftlinge auf Robben Island führen Antigone auf) den südafrikanischen Befreiungskampf und die Unmenschlichkeit des Apartheid-Regimes anprangert. Solche dramatischen Geschichten sind erzähltechnisch besonders interessant, weil sie oft utopische Züge tragen: Im Plot der Fiktion kann der Widerstandskämpfer siegen; in der Geschichte wird der Diktator bestraft, usw. Auch die Tatsache, dass das Opfer in der Geschichte oft ausführlich in seinen Gefühlen und Gedankengängen dargestellt wird, trägt zur politischen Bedeutung des Werks bei. Erzählung ist also besonders geeignet, implizite Argumente zu verpacken.
Der Vertrieb
Das Verfassen eines Buches ist noch lange nicht genug, um es auch einem Leser zukommen zu lassen. Als, wie in elisabethanischer Zeit, viele Autoren ihre Texte in Abschriften zirkulieren ließen, war dies noch möglich, aber ab dem achtzehnten Jahrhundert regierte der Verleger/Drucker den Vertrieb. Autoren brauchten entweder einen Patron, dem sie dann das Werk widmeten, der für den Druck bezahlte, oder der Verleger übernahm wie heute das Risiko des Drucks und war daher daran interessiert, Texte zu drucken, die sich gut verkaufen ließen. So hatte Laurence Sterne mit seinem späteren Kultroman Tristram Shandy zunächst große Probleme, einen Verlag zu finden.
Die Umstände von Verlag und Vermarktung mögen auf den ersten Blick hin wenig mit dem Text zu tun zu haben. Es gibt jedoch mehrere Einflüsse auf die Erzählung, die sich aus diesen Produktionsmodi herleiten lassen.
Zunächst hängt bei diesen Produktionsbedingungen die Gestaltung des Textes ganz vom Geschmack des Publikums ab. Nur wer Neues zu riskieren bereit ist, kann wesentliche Innovationen durchsetzen. War zuvor die Weiterschreibung antiker Modelle für manche Autoren ein wichtiges Kriterium, so ist es nun das Erfolgsmodell, das Nachahmung findet. Nicht nur für die Literaturgeschichte ist so diese Beeinflussung interessant; auch erzähltechnische Neuerungen wie die Kapitelüberschriften, der Briefroman und seine oft spielerische Modifizierung im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts, sind Themen, die auch die Erzählforschung beschäftigen.
Der zweite große Bereich, der mit der Publikationsform zusammenhängt, betrifft in Großbritannien die Leihbibliotheken und ihre Präferenz für drei- oder mehrbändige Romane (da sie pro Band Leihgebühr erheben konnten). Die Leihgebühr bestimmte jedoch nicht nur die Länge der Romane, sondern auch die Struktur, ebenso wie im neunzehnten Jahrhundert die Publikation in 14-Tage-Fortsetzungen dazu führte, dass die Spannungskurven der Romane ihre Höhepunkte jeweils am Ende einer Fortsetzungsnummer erreichten. (Zum Fortsetzungsroman im 19. Jahrhundert vgl. Brantlinger [2002] sowie Feltes [1986] und Hughes/Lund [1991].)
Vermarktung
Für das zwanzigste Jahrhundert und die Gegenwart ist daneben auch die Vermarktung von Erzählungen zu berücksichtigen, ein Aspekt, der auch bereits im achtzehnten Jahrhundert eine große Rolle spielte. So zeigt Barchas (2003: 3–5), dass Swifts Gedicht „Description of a Morning Shower“ im Tatler vor einer kunterbunt zusammengemischten Reihe von Inseraten abgedruckt war, so dass die im Gedicht im Fleet River heran geschwemmten Gegenstände inklusive toter Katze sich in den anschließenden Annoncen widerspiegeln. Werbung und Vertrieb sind vor allem wichtig für die Gattungs-Attribution der Erzähltexte. Das beginnt damit, dass Romane unter Kategorien wie „Krimi“ oder „Bestseller“ im Buchhandel eingeordnet werden; in englischen Buchhandlungen großen Stils gibt es Abteilungen für fiction (Romane und Kurzgeschichten, Erzählprosa), crime (Krimis), history, autobiography, aber auch English literature (wo dann die Penguin Classics stehen, während unter fiction eher neueste Literatur und Trivialliteratur zu finden sind). Eine weitere wichtige Werbemaßnahme sind die Kurzbeschreibungen eines Buches auf der Umschlagsrückseite oder bei gebundenen Titeln auf der Innenseite des Vorderumschlags. Diese vermitteln eine Kurzdarstellung des Themas eines Romans, sprechen oft den Schauplatz und wichtige Charaktere an und geben so dem potenziellen Leser Informationen, die ihm eventuell die Kaufentscheidung erleichtern. Viele britische und amerikanische Romane führen mittlerweile Zitate aus Rezensionen an, die ebenfalls das Kaufinteresse anregen sollen. Schließlich sind die Kommentare anderer Leser, die bei Amazon und ähnlichen Internet-Firmen eingesehen werden können, auch bestimmend für erste Eindrücke über ein Erzählstück.
Der Klappentext
Diese Begleitumstände von Erzählungen sind insofern auch erzähltheoretisch relevant, da sie die Vorkategorisierung des Textes und somit die folgende Rezeption beeinflussen. Sie sagen auch etwas über das Leseinteresse des Publikums aus, das auf solche Beschreibungen reagiert, und stellen daher auch für Autoren Informationen darüber bereit, was das Publikum lesen möchte. Dabei sind natürlich auch ganz verschiedene Publikumsausschnitte angesprochen, wobei in Deutschland der Literaturbetrieb als Markt für gehobene Literatur viel deutlicher von der Trivialliteratur geschieden ist. Z.B. entsprechen die Kommentare auf der Umschlagrückseite von Neuerscheinungen in Deutschland den Kommentaren, die bei Penguin für die Classics-Serie üblich sind. So wird Elizabeth Gaskells Roman North and South (1855) eingeleitet auf der Umschlagrückseite nur von einem fett gedruckten Kommentar, der das Buch literaturgeschichtlich platziert, und beschreibt dann den Inhalt des Romans:
Although only lately rated among Elizabeth Gaskell’s best work, North and South is a novel that is remarkable, and triumphantly successful, on many levels.
As the title suggests, it is primarily a study of the contrast between the values of rural southern England and the industrialized north; but through the medium of its central characters, John Thornton and Margaret Hale, it also becomes a profound comment on the need for reconciliation among the English classes, on the importance of suffering, and above all on the value of placing the dictates of personal conscience above social respectability. And in Margaret Hale, whose intensity, spiritual isolation and passion electrify the book, Mrs Gaskell created one of the finest heroines of Victorian literature.
(Gaskell 1986: Rückumschlag)
Der Leser wird so darauf aufmerksam gemacht, dass dies ein wichtiges Werk der Autorin ist, das nun als ihr bester Roman gilt – offensichtlich ein Appell an den kultivierten Leser, dass er sich den Roman zu Gemüte führen sollte, wenn er ihn noch nicht kennt. Der Beschreibungstext rückt die Thematik des Kontrasts zwischen England als Industrienation und als Landschaftspark in Erklärung des Titels in den Vordergrund, reiht den Text in die Reihe der moralischen viktorianischen Romane ein und kreiert eine positive Erwartungshaltung bezüglich der Protagonistin Margaret Hale, die in Superlativen („electrify“, „finest heroines“) beschrieben ist.
Ähnlich, nur in umgekehrter Reihenfolge, verfährt der Suhrkamp-Verlag bei Norbert Gstreins Roman Die englischen Jahre. Eine auf Spannung abhebende Kurzcharakterisierung des Inhalts des Romans, die auf das große Rätsel der Erzählung verweist, wird von zwei Kommentaren begleitet; und die Kurzbiografie des Autors auf der rückwärtigen Umschlagsklappe ist auch größtenteils ein Zitat, das als literaturkritische Würdigung verstanden werden kann:
Nordatlantik, 2. Juli 1940. Die Arandora Star, ein ehemaliger Luxusdampfer unter britischer Flagge, wird auf ihrem Weg nach Neufundland torpediert und versenkt. An Bord über tausend Internierte, sogenannte feindliche Ausländer, darunter auch ein Gefangener, dessen Identität unklar ist.
Von diesem Schiffsuntergang erfährt mehr als fünfzig Jahre später eine junge Frau, als sie die Spur des aus Österreich stammenden Schriftstellers Gabriel Hirschfelder verfolgt, der in Southend-on-Sea gestorben ist und vor seinem Tod das Bekenntnis abgelegt hat, er hätte im Krieg einen Mann umgebracht.
Was hat das mit dem geheimnisvollen Gefangenen zu tun?
Bei ihren Nachforschungen, die sie nach London und Wien führen, findet sie schließlich auf der Isle of Man, wo während des Krieges jüdische Flüchtlinge und Nazisympathisanten in Internierungslagern zusammengesperrt waren, die Antwort, den Schlüssel zu Gabriel Hirschfelders verschwundener Autobiographie mit dem Titel Die englischen Jahre.
Man darf, ja man muß sagen, daß dieser Roman zu den interessantesten Büchern der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahre zählt.
Eberhard Rathgeb, Frankfurter Allgemeine Zeitung
(Gstrein 2001: vordere Umschlagklappe)
Dieser Roman über das Emigrantenschicksal eines österreichischen Juden während des Zweiten Weltkriegs ist ein Kriminalstück mit großem poetischem Atem, eine vielfach verspiegelte, in mehreren Stimmen erzählte Geschichte einer Identitätsvertauschung.
Andrea Köhler im Focus
(Rückseite des Einbands)
Norbert Gstrein, geboren 1961 in Mils (Tirol), lebt zur Zeit in Zürich. Sein Roman Die englischen Jahre wurde mehrfach ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien von ihm das Buch Selbstportrait mit einer Toten, über das Hubert Winkels in der Zeit schrieb: „Der österreichische Schriftsteller hat mit dieser Erzählung seinem großen Roman ein Kabinettstückchen hinterhergeschickt, das nicht so sehr deshalb besticht, weil es das Problem der Nachgeborenen, von einem fernen jüdischen Emigrantenschicksal zu erzählen, in ein Literaturbetriebsdesaster verwandelt, sondern weil es dazu ein Gegengewicht geschaffen hat in der sprachlich inszenierten Unmöglichkeit, vom nahen Tod zu sprechen.“
(hintere Umschlagklappe)
Neuere Romane werden im englischen Sprachraum eher aggressiver eingeführt, wobei Übertreibungen und Hinweise auf sexuelle Freizügigkeit wichtige Verkaufsaspekte darstellen. Hier ein noch relativ harmloses Beispiel, ein Teil des Rückseitentextes von Hanif Kureishis The Black Album:
Shahid, perilously fond of sex, drugs, rock’n’roll, attends a lusterless community college in London. He wants to please the conservative Muslims in the flat next door but is enthralled by the gorgeous Deedee Osgood, a X-popping, rave-hopping, radical college professor with a penchant for sex in taxis. Set in 1989, the year the Berlin Wall fell and the fatwah was imposed against Salman Rushdie, The Black Album is a naughty, provocative, exhilarating novel by a phenomenally talented young writer who richly captures the ebullience – and confusion – of living.
(Kureishi 1995: Rückumschlag)
Die Adjektive „naughty, provocative, exhilarating“ und das Nomen „ebullience“ sind offensichtlich dazu angetan, Leser mit unkonventionellen Einstellungen anzusprechen. Während Gstreins Klappentext also mit dem Hinweis auf eine Art Krimi den Leser zu ködern sucht, sonst aber das seriöse literarische Publikum anspricht, ist der Werbetext für Hanif Kureishi auf Unterhaltung, Hybridität, Chaos programmiert. Diese verschiedenen Vermarktungsstrategien entsprechen auch zu einem gewissen Grad der Erzähltechnik der Romane, da in Gstreins Text tatsächlich ein Rätsel langsam gelöst wird, während in Kureishis Erzählung das thematische Chaos auch erzählstrukturmäßig zutrifft. Die Werbetexte bereiten also auch auf die Leseerfahrung vor.
Umschlagbilder
Ein letzter Punkt, der noch Erwähnung verdient, bevor wir zur Rezeption kommen, ist der Einfluss des Umschlagbildes bzw. des Titelblatts eines Romans. Diese sind vielfach kaufbestimmend, wenn man zwischen verschiedenen Ausgaben bzw. zwischen Neuerscheinungen wählt; sie ergänzen auch bestimmte Vorannahmen über den Inhalt des Buches (Krimi, Liebesroman, Sex-Thriller, seriöses Werk). So wurden z.B. William Faulkners Romane jahrzehntelang mit Covers publiziert, die sie als pornografische Literatur erscheinen ließen, wobei man sich vorstellen könnte, dass Leser, die auf unmoralische Themen abfuhren, angesichts der Komplexität von Faulkners Sprache möglicherweise gar nicht erst bis zu den anzüglichen Stellen vorstießen und vorher den Roman gähnend zur Seite legten. Mittlerweile hat Faulkner als einer der bedeutendsten Romanautoren der amerikanischen Moderne es auch zu Titeldesigns gebracht, die seinem Status als modernem Klassiker entsprechen.
Die empirische Literaturwissenschaft
Das Rezeptionsverhalten von Lesern ist inzwischen wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand geworden, der nun auch mit empirischen Tests betrieben wird. Die frühe Rezeptionsforschung (Wolfgang Iser, Hans-Robert Jauß) spekulierte auf der Basis von Selbstanalysen über die Reaktionen von potenziellen Lesern von Erzählungen oder berief sich auf literaturwissenschaftliche Zeugnisse über die tatsächliche Aufnahme publizierter oder aufgeführter Werke. Diese Art der Untersuchung ist natürlich keineswegs empirisch widerlegbar – die subjektive Reaktion des Literaturwissenschaftlers mag den Blick auf andere Reaktionen verstellen, auch wenn der geschulte Blick des erfahrenen Lesers gewisse Reaktionen des Literaturfans sicher richtig voraussieht. Die empirische Literaturwissenschaft, die seit 1987 in der Gesellschaft für empirische Literaturforschung (IGEL) institutionalisiert ist, hat seit jeher kritisiert, dass überprüfbare Leserreaktionen festgestellt werden müssen. Inzwischen sind viele verschiedene Versuche dazu durchgeführt worden. In Deutschland ist die empirische Literaturwissenschaft hauptsächlich im Umkreis von Siegfried J. Schmidt (Siegen) beheimatet; ein angesehener Vertreter in den Niederlanden ist Gerard Steen. Als zwei Höhepunkte dieser Arbeiten, die auch erzähltheoretisch relevant sind, können Faulstich/Ludwigs Erzählperspektive empirisch (1985) und Bortolussi/Dixons Psychonarratology (2003) angesehen werden.
Die meisten empirischen Untersuchungen verwenden als Testpersonen (aus offensichtlichen Gründen) Studierende, die noch nicht literaturwissenschaftlich ‚verdorben‘ seien. Vielfach sind die so gewonnenen Ergebnisse jedoch wieder aus anderer Perspektive anfechtbar, weil die Informanten generell zu wenig Leseerfahrung haben und unter Textverständnisproblemen laborieren. Viel schwerwiegender ist das Problem, komplexe narratologische Kategorien zu testen. Bortolussi/Dixon verändern z.B. Sätze in Texten, um verschiedene Reaktionen auf den ursprünglichen und den geänderten Text zu erhalten und danach Thesen wie die der Empathiegenerierung durch Innensicht zu überprüfen. Viele Texte sind jedoch komplexer, als die Versuche es wahrhaben wollen bzw. es entstehen Interferenzen aus anderen Richtungen. So mag es zunächst logisch klingen, dass, je mehr Innensicht man in einem Streit zwischen Mann und Frau erfährt, desto eher würde der Leser sich der Person anschließen, über deren Innensicht er informiert ist. Dabei wird jedoch die Wirkung der Situation selbst (Frau fühlt sich ausgenützt, Mann fühlt sich eingesperrt) unterschätzt – dazu hat jeder Leser und jede Leserin eigene Meinungen; und außerdem ist überhaupt nicht bedacht worden, dass Leserinnen möglicherweise gegen alle Darstellung von Innensicht die Frauenperspektive einnehmen könnten, und männliche Leser die des Mannes. Bereits die Einsicht, dass Leseverhalten möglicherweise sehr genderspezifisch sein könnte, fördert neue wichtige Kenntnisse zutage; produziert aber wieder methodologische Probleme für die empirische Forschung.
Kognitive Ansätze
Abstrakter, aber möglicherweise zuverlässiger, sind Einsichten, die im Rahmen der kognitiven Linguistik und Literaturwissenschaft in den letzten zwanzig Jahren gewonnen wurden. So haben bereits in den 1980er Jahren israelische Forscher auf primacy und recency effects im Leseprozess verwiesen (Hrushovski 1982; vgl. Stockwell 2002) – bestimmte Informationen, die zuerst im Erzähltext erscheinen, bauen einen Rahmen auf, in den weitere Informationen eingespeist werden. Um diesen Rahmen zu brechen, muss sehr viel inkonsistentes Material auflaufen (primacy effect). Der recency effect hingegen ist wichtig, um aktuelle Informationen in ihrem Effekt auf den Leser zu beschreiben. So wird für die Zuschreibung von ambigen Personalpronomina (anaphors) auf ein vor kurzem aktuelles Objekt (saliency) rekurriert und nicht auf weiter zurückliegende mögliche Antezedenzien. Solche Fragen können auch narratologisch relevant werden, wenn es um den Gebrauch von „he“/„she“ am Beginn von Absätzen geht, wobei allerdings auch andere Umstände (Erzählsituationen, Existenz konkurrierender Protagonisten) eine Rolle spielen (vgl. Emmott 1997).
Zusammenfassung
Ich habe in diesem Kapitel versucht, einige der dem Erzähltext außenstehenden Einflussfaktoren zu besprechen, um zu zeigen, dass eine rein textimmanente Untersuchung an interessanten Fragestellungen vorbeigeht, die sich durch die Produktion, den Vertrieb und die Rezeption von Erzählungen ergeben. Diese Aspekte lassen sich jedoch nur als Kontexte diskutieren. Eine Formalisierung, welche ähnlich stringente Terminologien und Beschreibungskategorien wie für die Textanalyse böte, gibt es derzeit nicht. Im Rahmen der Interpretation von Texten, insbesondere auch im Rahmen ideologischer oder genderspezifischer Lesungen, ist eine Berücksichtigung des Kontextes jedoch unumgänglich.