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Carl Gustav Jung

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Zürich

Toni hat heute die Grippe und muß im Bett bleiben. Emma ist froh, mich ganz für sich zu haben, und drängt mich, mit ihr und den Kindern eine Bootsfahrt auf dem See zu unternehmen. Es ist ein wunderschöner Tag, eine leichte Brise weht, und ich lasse mich gern aus meiner muffigen Isolierung locken. Während Emma einen Picknickkorb packt, gehe ich mit den Kindern hinunter, um das Boot aufzutakeln.

Während ich mit den Segeln und Polstern hantiere, die Toni und mir als Liebeslager gedient haben, überkommt mich ein momentanes Schuldgefühl. Es ruft eine physische Erinnerung an unsere Vereinigung hervor, und ich drücke das rauhe Segeltuch an meine Wange, als wäre es ein Taschentuch oder ein Schal.

Agathe, meine Älteste, ein frühreifes neunjähriges Mädchen, fragt: »Was tust du da, Papa?«

Ich stammle verlegen, ich wolle nur fühlen, ob das Segeltuch feucht geworden sei. Sie und Gret helfen mir, die Segel zu befestigen. Die Kleinen, Franz und Marianne, falten die Abdeckung zusammen und legen die Polster aus. Ihr kindliches Geplapper macht mich froh und ruft mich in eine einfachere Welt zurück, von der ich mich schon zu lange entfernt habe.

Als Emma im Sommerkleid herunterkommt, muß ich unwillkürlich an eine verlorene und ferne Zeit zurückdenken.

Sie ist jetzt dreißig Jahre alt und erwartet unser fünftes Kind. Ich sah sie zum erstenmal, als sie sechzehn Jahre alt war, und ich weiß noch, daß ich damals zu mir sagte: Das ist das Mädchen, das ich einmal heiraten werde. Ich liebte sie damals; ich liebe sie jetzt; aber Liebe ist ein Wort wie ein Chamäleon, und wir Menschen wechseln die Farbe schneller als die Worte, die wir aussprechen.

Emma stammt aus einer alten Baseler Kaufmannsfamilie. Ich bin der Sohn eines armen Landpfarrers und habe mich bemüht, aus der tristen Kuhstallatmosphäre herauszukommen. Zunächst stritten wir uns über das Geld. Sie hatte es, ich nicht. Dann entbrannte der Streit um die Frage, wer den Vorrang habe. Da ich begann, mir als Kliniker, als Analytiker und Dozent einen Ruf zu schaffen, fühlte sich Emma gesellschaftlich zurückgesetzt. Das Ehejoch ärgert uns also beide. Wir lieben uns, aber wir sind längst nicht mehr das Liebespaar von einst.

Der Wind füllt das Großsegel. Ich lege vom Landungssteg ab und nehme Kurs auf die Mitte des Sees. Die Kinder kreischen vor Vergnügen, weil sich das Boot auf die Seite legt. Emma nimmt die Pinne, während ich den Klüver festmache und die Belegleinen aufrolle. Emmas Wangen sind gerötet, ihre Augen strahlen vor Vergnügen. Beim Vorbeiklettern streiche ich absichtlich mit der Hand über ihre Brust und versuche, ihr einen Kuß auf die Lippen zu geben. Sie entzieht sich der Liebkosung nicht, aber da ist immer noch jener verstohlene Blick auf die Kinder, jenes instinktive Ausweichen, als hätte ich etwas Unanständiges getan. Um meine Gereiztheit zu verbergen, umarme ich sie und knabbere an ihrem Nacken. Aber sie stößt mich weg, und das Boot geht höher an den Wind, weil sie sich zu heftig an die Pinne lehnt. Den Kindern wird angst. Emma ist irritiert. Die harmlose Köstlichkeit des Augenblicks ist unwiederbringlich dahin. Emma fühlt es, aber sie gibt mir kein Zeichen. Sie widmet sich ganz den Kindern. Ich habe wieder ein schlechtes Gewissen, weil ich eifersüchtig auf meine eigene Nachkommenschaft bin. Ich muß an Freuds Bemerkung denken: »Ich habe die Hypothek auf meine Ehe abgezahlt.« Damals wußte ich nicht, was er damit meinte, doch jetzt wird mir klar, daß sich unerwiderte Gesten wie Eintragungen in einem Hauptbuch akkumulieren können, bis die Ausgewogenheit einer Ehe dahin ist.

In diesem Augenblick kommt das Boot eines Nachbarn von achtern auf und nimmt uns den Wind aus den Segeln – ein beliebter Scherz unter Seglern. Unser Nachbar lacht, und wir tauschen ein paar harmlose Schimpfworte aus. Sein Boot heißt »Pegasus«, und ein geflügeltes Pferd ziert das Segel.

Dieses Pferd erinnert mich an eine Folge von Träumen, die ich in »Über die Psychologie der Dementia praecox« festgehalten habe. Ein in Riemen eingeschnürtes Pferd wird in die Luft gehoben. Die Riemen reißen. Das Pferd stürzt ab. Aber dann galoppiert es davon und zieht einen großen Baumstamm hinter sich her. Das Pferd bin ich selbst. Ich habe beruflich eine gehobene Stellung erreicht, bin aber durch familiäre und traditionelle Bande eingeengt. Ich breche aus der Zwangsjacke aus, bin aber noch immer durch den Baumstamm behindert, der wie der Phallus das Abbild meiner drückenden Sexualität ist. Freud korrespondierte mit mir über diesen Traum und meinte, er müsse sich auf das Scheitern einer finanziell abgesicherten Ehe beziehen. Das ist lange her. Meine Ehe mit Emma ist noch immer intakt, obwohl ich – der Himmel weiß es – manchmal wünsche, ich wäre der vielfältigen Verpflichtungen ledig und könnte meine sexuellen Bedürfnisse nach eigenem Belieben befriedigen.

Der Wind frischt ein wenig auf, und ich muß mich auf das Segeln konzentrieren, statt alte Träume zu analysieren und Situationen, die bereits erstarrt sind und sich nicht mehr ändern lassen. Emma gibt den Kindern Kuchen und Fruchtsaft, mir schenkt sie ein Glas Bier ein. Wir stoßen miteinander an und singen lustige Lieder. Der Landmann in mir genießt diesen einfachen Spaß unter freiem Himmel. Das andere, von Dämonen gejagte Selbst aber lehnt diese ländliche Schlichtheit ab und bohrt sich tiefer und tiefer in das Wer und Woher und in das geheimnisvolle Warum der Dinge.

Ich muß wenigstens mir selbst eingestehen, daß diese neue Methode der Analyse Gefahren für jeden mit sich bringt, der sich mit ihr befaßt. Als ich am Burghölzli arbeitete, der Psychiatrischen Universitätsklinik von Zürich, hatte ich es mit Hunderten und Aberhunderten von Patienten zu tun. Bleuler leitete das Spital mit beinahe mönchischer Strenge. Wir durften keinen Alkohol trinken, standen morgens um sechs Uhr dreißig auf und mußten um acht Uhr dreißig an einer Mitarbeiterbesprechung teilnehmen. Wir tippten die Krankengeschichten selbst auf der Maschine, und wir jüngeren Ärzte mußten um zweiundzwanzig Uhr wieder zu Hause sein. Danach wurden die Tore geschlossen, und einen Schlüssel bekamen wir nicht. Es herrschte strenge Disziplin. Unser Wissen wies zwar erhebliche Lücken auf, aber unsere Aufmerksamkeit war nicht auf uns selbst gerichtet, sondern auf die Patienten.

In meinem gegenwärtigen Zustand ist meine Aufmerksamkeit völlig auf mich selbst gerichtet. Ich bin der Patient. Ich bin der klinische Fall. Ich frage mich, ob dies der Grund dafür ist, daß unser Kreis von Bahnbrechern – Freud, Adler, Ferenczi, ich und alle übrigen – Inzucht treibt wie ein Bergstamm im Atlas. Wir sind empfindlich nachtragend und sehen in jedem zufällig geäußerten Wort eine hämische Bemerkung.

Bei unserer Konferenz in Bremen sprachen wir über die Moorleichen, jene mumifizierten Menschen, die zum Teil offenbar einer rituellen Hinrichtung zum Opfer gefallen sind. Man findet sie oft in den Torfgebieten Deutschlands und Dänemarks. Freud wurde wütend. Es war beinahe so, als fühle er sich als nächstes Opfer – und er wurde buchstäblich ohnmächtig. Ich bin überzeugt, daß er einfach nicht objektiv sein konnte, nicht einmal bei dieser archäologischen Frage.

»Du bist ganz woanders, Carl!« Emma unterbricht mein Nachdenken mit der alten, abgedroschenen Frage: »Woran denkst du denn gerade?«

»An Bremen. Wie Freud ohnmächtig wurde, als wir von den Moorleichen sprachen. Was hat er doch gleich gesagt?«

»Ich weiß es noch genau. Er war ziemlich verärgert. Er sagte: ›Warum müßt ihr immer von Leichen reden?‹ Und du machtest einen Scherz daraus und sagtest: ›Nicht immer, lieber Freund. Oft rede ich auch von hübschen Frauen.‹«

Emma erinnert mich auch noch an etwas anderes. Nach diesem Vorfall wurde ich im Traum geradezu scharenweise von Toten verfolgt. Ich träumte zum Beispiel, daß ich mich in Alyscamps, nahe Arles, aufhielt und eine Allee von Sarkophagen entlangschritt. Die gibt es dort wirklich. Sie gehen auf die Merowinger zurück. Während ich an den Sarkophagen vorbeiging, regte sich in jedem einzelnen die einbalsamierte Leiche und erwachte zum Leben ...

Ich verbanne diese düsteren Phantasien aus meinem Kopf und steuere eine kleine Bucht an, wo wir vor Anker gehen und zu Mittag essen werden. Die Kinder wollen schwimmen, aber Emma sagt, das Wasser sei zu kalt. Ich will ihren Anweisungen nicht widersprechen. Also hole ich Angel und Köder hervor und lasse die vier vom Boot aus fischen. Emma und ich trinken Weißwein und essen dazu Hühnerkeule, jungen Sellerie und frisches, selbstgebackenes Schwarzbrot.

Ich proste ihr zu und erkläre, sie sei die beste Hausfrau im ganzen Kanton.

Sie sieht mich lächelnd von der Seite an und sagt: »Das höre ich gern, Carl, aber meine Talente beschränken sich nicht nur auf Küche und Kinderzimmer.«

Ich klopfe ihr sanft auf den Bauch und sage, daß ihre anderen nie bezweifelt worden sind. Sie ist besänftigt, aber nur ein wenig. Einmal hat sie die Bemerkung gemacht, daß die Europäer, auch wenn sie die Beschneidung bei Mädchen nicht praktizieren, doch alles tun, um Frauen von jedem Lustgewinn außerhalb der Ehe abzuhalten. Es ist ein dornenvolles Thema, und ich habe keine Lust, es jetzt zu erörtern, wo wir auf dem windigen See vor Anker liegen. Ich knöpfe meine Hose auf und pinkele über das Heck ins Wasser.

Hinter mir höre ich den kleinen Franz mit seiner piepsenden Stimme sagen: »Seht doch! Ich habe es euch gesagt! Papa hat einen ganz großen.«

Emma und die Mädchen schütteln sich vor Lachen.

Auch ich lache, aber mir ist, als würde in mir ein Blitz aufleuchten. Ich muß an eine andere Bucht denken, an einem anderen See, und an eine tiefe, freundliche Stimme, die zu mir sagt: »Siehst du, wie groß und hart er wird? Nimm ihn in die Hand, fühl mal! Früher stand in jedem römischen Garten ein Priapus mit riesigem Phallus, den alt und jung berührten, weil er Glück brachte.«

Diese Erinnerung taucht immer wieder auf, wenn ich an Freud denke und an die Schwierigkeiten, die ich habe, mich seinem Einfluß und seiner Autorität zu entziehen. Eines, was mein Sohn von mir lernen muß, ist, daß man nie gegen den Wind pinkeln kann – vor allem dann nicht, wenn er aus den tiefen, dunklen Höhlen der Erinnerung weht.

In einer Welt von Glas

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