Читать книгу In einer Welt von Glas - Morris L. West - Страница 4
Magda
ОглавлениеBerlin/Paris
Gestern um Mitternacht wurde mein ganzes Leben zu etwas Unwirklichem: zu einem dunklen nordischen Märchen mit Trollen, Kobolden und vom Schicksal verfolgten Liebenden in alten Burgruinen voller Spinnweben und Rissen.
Ich muß jetzt, verschleiert wie eine trauernde Witwe, auf Reisen gehen, denn mein Gesicht ist zu vielen Menschen an zu vielen Orten bekannt. Ich muß mich in den Hotels unter einem falschen Namen eintragen. An den Landesgrenzen muß ich gefälschte Papiere benutzen, für die ich Gräfin Bette einen fürstlichen Preis bezahlt habe – Gräfin Bette, die natürlich überhaupt keine Gräfin ist, aber seit fünfundzwanzig Jahren am Hof der Hohenzollern ein Leben in Saus und Braus führt.
Für Notfälle – und für gewisse sexuelle Begegnungen, an denen ich noch immer Interesse habe – führe ich eine kleine Auswahl Herrengarderobe mit, die mir Poiret in Paris in glücklicheren Tagen angefertigt hat. Auch diese Notizen, die ich nur für mich persönlich niederschreibe, können nicht ohne Pseudonyme und Verschlüsselungen auskommen, damit ich meine Geheimnisse vor den neugierigen Augen von Zimmermädchen und männlichen Begleitern bewahren kann.
Aber so sieht die Wahrheit aus – soweit ich sie überhaupt zu Papier bringen kann –, und mein Bericht beginnt mit einem trüben Scherz. Gestern war mein Geburtstag, und ich feierte ihn im Edelbordell der Gräfin mit einem Mann, der in meinem Bett beinahe gestorben wäre.
Der Vorfall hat mir schwer zugesetzt, aber für Gräfin Bette war er nichts Ungewöhnliches. Ältere Herren, die ausschweifende Bettabenteuer lieben, bekommen nicht selten einen Herzanfall. Jedes Freudenhaus von Rang ist darauf vorbereitet, in solchen Fällen sofort zu reagieren. Ein Hausarzt leistet Erste Hilfe. Tot oder lebendig wird das Opfer wieder ordnungsgemäß bekleidet und mit der gebotenen Eile nach Hause, zu seinem Club oder in ein Krankenhaus transportiert. Wenn er keinen eigenen Kutscher oder Chauffeur hat, stellt Gräfin Bette einen solchen zur Verfügung: einen wortkargen Burschen mit einer langen Liste überzeugender Lügen, die den Zustand seines Fahrgastes erklären. Nachforschungen durch die Polizei sind selten – und die Diskretion der Polizei läßt sich stets erkaufen.
Diesmal war es jedoch nicht so einfach. Mein Begleiter und ich hielten uns als zahlende Gäste im Etablissement der Gräfin auf. Er ist ein Mann von Rang, ein Oberst in der Umgebung des Kaisers. Ich bin eine bekannte Gesellschaftsgröße, und außerdem bin ich Ärztin. Es war mir klar, daß der Oberst eine Koronarthrombose erlitten hatte und daß ihn eine zweite Attacke dieser Art während der Nacht, was in solchen Fällen immer möglich ist, mit Sicherheit das Leben kosten würde.
Er war – nicht allzu glücklich – mit einer Nichte der Kaiserin verheiratet und hatte seiner Frau gesagt, daß er an einer Generalstabskonferenz teilnehmen müsse. Dieses Alibi war bestimmt hieb- und stichfest. Aber schließlich würde mein Oberst, tot oder lebendig, seiner Ehegattin übergeben werden, und es gab keine Möglichkeit, den gefährlichen Zustand seines Herzens oder seine anderen Verletzungen zu verschweigen: Striemen in der Lendenregion, zwei angebrochene Rückenwirbel und wahrscheinlich auch Quetschungen der Nieren.
Gräfin Bette faßte die Situation kurz und bündig mit den Worten einer Berliner Straßendirne zusammen:
»Ich werde hier gründlich reinemachen. Dafür wirst du mir blechen. Aber versteh mich richtig! Du bist hier nicht mehr gern gesehen. Bisher warst du amüsant. Jetzt bist du gefährlich. Eine Ehefrau und ein Sohn, sogar der Kaiser persönlich und ein ganzes Kavallerieregiment werden wegen dieser Affäre blutige Rache schwören. Wenn ich dir etwas flüstern darf, dann sei ein schlaues Kind und verdufte eine Weile. Vorerst aber brauche ich Geld – und zwar eine ganze Menge.«
Als ich fragte, wieviel, nannte sie genau jene Summe, die ich am Vormittag zuvor für sechs Jagdpferde erhalten hatte. Ich hatte sie dem Prinzen Eulenburg verkauft. Weder fragte ich, wieso sie den Betrag kannte, noch, wie sie überhaupt auf eine solche Summe kam. Ich hatte das Bargeld in meinem Täschchen und gab es ihr ohne Murren. Sie ließ mich dann allein, damit ich meine Sachen packen und mich um den Patienten kümmern konnte, der offenbar einem neuen Herzanfall entgegensah.
Eine dreiviertel Stunde später war sie wieder da; sie hatte Ausweise und Papiere auf den Namen Magda Hirschfeld bei sich und eine Fahrkarte erster Klasse für den Nachtschnellzug nach Paris. Außerdem brachte sie mir einen abgetragenen Mantel aus schwarzer Serge und einen schwarzen Hut mit Schleier. Ich wollte einen Scherz machen und sagte, ich sähe damit wie eine englische Gouvernante aus. Gräfin Bette war jedoch nicht zum Spaßen aufgelegt.
»Ich tue dir einen Gefallen, den du gar nicht verdienst. Jedesmal, wenn ich in letzter Zeit etwas über dich gehört habe, war es noch verrückter und noch gemeiner ... Jetzt verstehe ich, warum.«
Ich fragte sie, was sie mit dem Oberst zu tun gedenke. Sie fuhr mich an: »Das ist meine Sache. Was du nicht weißt, kann weder dir noch mir schaden. Ich mag dich zwar nicht, aber ich stehe zu meinem Wort. Und jetzt verschwinde von hier, aber schnell!«
Mein Oberst war zwar bewußtlos, aber er lebte noch, als Bette mich aus dem Haus und durch den Küchengarten zu einem rückwärtigen Ausgang bugsierte, wo eine Droschke wartete, um mich zum Bahnhof zu bringen. Ich kam gerade noch drei Minuten vor Abfahrt des Zuges an und gab dem Schaffner ein Riesentrinkgeld, damit er mir ein leeres Abteil besorgte. Dann schloß ich mich ein und ging zu Bett.
Nachts hatte ich dann diesen Alptraum: den Traum von der Jagd durch ein schwarzes Tal, den Sturz vom Pferd und dann das Eingeschlossensein in einer Glaskugel, die über eine blutrote Sandwüste rollt.
Als ich aufwachte, war das Bettzeug zerwühlt. Angstschweiß brach aus allen meinen Poren, und ich schrie nach Papa. Aber Papa ist schon lange tot, und mein Schreien ging in dem klagenden Pfeifen des Zuges unter, das über die Äcker um Hannover hallte.