Читать книгу Banker an den Galgen! - N. MarVol - Страница 9
Gefeuert
ОглавлениеDIE TREPPE IN DAS ERSTE STOCKWERK KAM IHR VOR WIE DIE STUFEN ZUM SCHAFOTT. Ihr letztes Stündlein hatte geschlagen. Oben in der Teppichbodenetage wartete der Personalchef als Henkersknecht mit Kutte und Kapuze und würde in wenigen Minuten das Fallbeil auf sie herabsausen lassen. Wie Vieh ließ man sie antraben, um sie abzuschlachten. Einer nach dem anderen. Krisenzeiten, jeder mußte sein Scherflein dazu beitragen. Jetzt war sie an der Reihe. Zuvor hatte es zahlreiche ihrer Kollegen erwischt, und nach ihr würden weitere Mitarbeiter in der Produktion ins Gras beißen.
Sie stand im Treppenhaus, schaute sich verzweifelt um und suchte einen Ausweg. Es gab keinen. Einfach zu Hause bleiben oder eine Krankheit vortäuschen würde nichts nützen. Dann bekam sie die Kündigung per Einschreiben zugestellt. Schweren Herzens erklomm sie eine Stufe nach der anderen. Die Luft im Treppenhaus war kühl, und es roch frischer als in der stickigen Werkshalle.
Oben angekommen, schlurfte sie den langen Gang entlang und überprüfte ein Büroschild nach dem anderen: Produktionsleiter, Assistentin des Produktionsleiters, Logistikleiter, Sekretariat Logistik und Einkauf, Einkaufsleiter, Küche, Kopierraum, Büromaterial, Controlling, IT-Leitung, ein weiteres Vorzimmer, Human Resources. Hier war sie richtig. Sie wollte schon klopfen, als sie den Hinweis las: »Bitte im Sekretariat nebenan anmelden.« Ein Pfeil zeigte nach links zur nächsten Tür.
Nach Strich und Faden hatte man die Belegschaft ausgenutzt. Vor drei Jahren hatte es geheißen: Gürtel enger schnallen, keine Lohnerhöhung, statt dessen eine Arbeitsplatzgarantie. Und was war in der Zwischenzeit geschehen? Die Autos auf dem Geschäftsleitungsparkplatz waren noch fetter geworden, die Anzüge der Manager noch teurer, und gleichzeitig hatte man ihnen in der Produktion eine Vergünstigung nach der anderen gestrichen. Die Arbeitsplatzgarantie hatte Tausende von Ausnahmeklauseln und war das Papier nicht wert, auf dem sie stand.
Die anhaltende Wirtschaftskrise war schuld. Umsatzeinbrüche, verschärfter Wettbewerb, Billigimporte aus Fernost. Auf den Geschäftsversammlungen sprach man es nicht direkt aus, aber schuld waren eigentlich sie. Sie, die Arbeitnehmer mit ihren immer höheren Lohnforderungen, ihrem unverschämten Ruf nach noch mehr Urlaub und weniger Arbeitszeit. Schuld sei zudem die Gewerkschaft mit ihren indiskutablen Sozialansprüchen. Man sei nicht mehr konkurrenzfähig.
Sie würde nicht kneifen. Nein, sie, Manuela Müller, würde dem Henker ins Gesicht schauen, während er sein Todesurteil sprach. Sie würde es ihm nicht leichtmachen, diesem Schwein. Was leistete dieser Personalleiter schon? Zum Kaffeekochen und Briefeschreiben hatte er eine Sekretärin. Seit zwei Jahren wurden keine Leute mehr eingestellt. Wenn der Kerl und seine aufgetakelte Schnepfe gingen, könnten in der Produktion drei Kollegen bleiben. Aber der Herr Personalleiter würde nicht abtreten – der nicht.
Mit rasendem Herzen klopfte sie an die Tür.
»Ja, bitte!« rief es genervt von innen.
Einmal tief Luft holen, Manuela, und dann ab in die Höhle des Löwen. Du schaffst das schon.
»Ach, Sie sind es, Frau …«, die Sekretärin stöberte auf ihrem Schreibtisch, »… Müller. Setzen Sie sich. Herr Reinhardt ist gleich soweit.«
Das Lächeln der Sekretärin war aufgesetzt. Kalt wie ein Gletschersee. Manuela pflanzte sich auf einen kleinen Stuhl in der Ecke und wartete wie auf einer Sünderbank. Die Sekretärin in ihrem teuren Hosenanzug, den glänzenden Pumps, der eleganten Frisur, den manikürten Fingernägeln und dem extravaganten Schmuck ließ Manu einfach links liegen, als wäre sie ein Stück Vieh, ein Tier, das zur Schlachtbank getrieben wurde, Abschaum, der die Firma verlassen würde und mit dem man nachher zum Glück nichts mehr zu tun hatte.
Sie kam sich schäbig vor mit ihrer ausgebleichten Jeans, den Turnschuhen, dem alten rosa T-Shirt samt schmutzigem Kittel darüber. Sie war ein Schandfleck in der Manageretage. Die Sekretärin blickte sie kurz an, ließ ihr Gletscherlächeln aufblitzen und schien sagen zu wollen: »Machen Sie mir bloß mein Büro nicht schmutzig – und ja keine Szene!«
Manuela wartete geduldig. Natürlich hatte man sie erst nach der Arbeitszeit hierher zitiert. Die eigene Kündigung ging damit von ihrer persönlichen Freizeit ab. Elendes Managergesocks! Irgendwie würde es schon weitergehen. Es ging immer irgendwie weiter. Bewerben, Arbeitslosengeld, Stütze, Ausgrenzung – nein, sie würde nicht aufgeben.
Einige der Kolleginnen wechselten ins Erotikgewerbe: Tabledance, Oben-Ohne-Servieren, Hausbesuche bei den Betuchten, Beine breit machen. Sie hatten Manu ermutigt, mitzumachen. Aber wer würde sie schon wollen, das häßliche Entlein aus dem Vorstadtghetto mit zu vielen Pfunden, dickem Hängebusen, brünettem Allerweltshaar und feistem Bäuerinnengesicht?
Andere Arbeitskollegen hatten Freunde, waren verlobt oder verheiratet und damit keinen finanziellen Sorgen ausgesetzt. Ihre Partner besaßen sichere Jobs. Sie selbst wartete immer noch auf ihren Traumprinzen. Aber wer fand sie schon attraktiv? Sie war die dritte Wahl, die, die man abschleppte, wenn nichts mehr ging. Resteficken. Bei ihr verschwand man morgens ganz schnell wieder. War auch besser so, dann mußte sie sich nicht deren Restalkoholfahne antun. Sie hatte bisher noch keinen Nüchternen im Bett gehabt.
Nach einer geschlagenen Viertelstunde klingelte das Telefon der Sekretärin, und Manuela durfte die heiligen Hallen des Personalchefs betreten. Hinter einem großen Mahagonischreibtisch thronte er, der Henker, mit weißem Hemd, schicker Krawatte und dunkelblauem Anzug. Daneben ein korpulenter Mann in Poloshirt und Jeans. Einer von der Gewerkschaft.
Manu setzte sich und verspürte plötzlich eine innere Panikattacke. Ihr Herz raste, Kloß im Hals.
Vor Manuela standen zwei Wodka-Lemon. Daneben stapelten sich fünf leere Becher. Sie hatte den Bus verpaßt, war in Trance zum schmuddeligen Kiosk getaumelt, hatte sich zwischen die Penner und Arbeitslosen gesellt und beschlossen, sich vollaufen zu lassen. Sie lachte. Penner und Arbeitslose – jetzt gehörte sie selbst zu dem angeblich arbeitsscheuen Gesindel. Sie, Manuela Müller, war eine Hartz-IV-lerin, eine Hartz-Verliererin.
Stark hatte sie sein wollen, nicht einfach hatte sie es den Brüdern machen wollen, doch bevor der Personalchef die ersten Worte gesprochen hatte, waren die Tränen wie von selbst gekommen, und sie hatte gebettelt, nicht entlassen zu werden. War vor dem Kerl im feinen Zwirn auf die Knie gefallen und hatte ihn angefleht, daß sie ihren Job behalten dürfe. Der von der Gewerkschaft hatte sie vom Boden hochgezogen und versucht, sie zu besänftigen. Frau Müller, bitte beruhigen Sie sich doch, wir haben einen Sozialplan, die Wirtschaftslage wird sich bald bessern, und dann denken wir wieder an Sie.
Wieso sollte sich die Lage bessern? hatte sie bissig gefragt. Die Firma sei doch eh nicht konkurrenzfähig. Sie habe allen Versprechungen geglaubt, als die Löhne zugunsten der Arbeitsplätze eingefroren wurden. Aber man habe sie hinters Licht geführt, habe Staatssubventionen kassiert und sich in der Vergangenheit dumm und dusselig verdient. Und dann hatte sie noch ein paar Dinge in ihrer Wut und Verzweiflung geschrien, die sie besser nicht gesagt hätte. Zwei kräftige Männer von der Werkspforte hatten sie abgeführt.
»Scheißfirma!« rief sie und setzte den nächsten Becher an.
»Na, auch den Job verloren?« Sie schaute verdutzt über den rostigen Stehtisch, von dem die Farbe fast gänzlich abgeblättert war. Bevor sie den Becher angehoben hatte, hatte dort definitiv niemand gestanden. Der Typ sah nicht so aus wie die anderen Penner hier. Seine Erscheinung war gepflegt, aber nicht übertrieben. Weißes T-Shirt, abgewetzter Sakko, ausgebeulte Jeans, Freizeitschuhe, wilde, aber frisch gewaschene Haare, Drei-Tage-Bart, offenes Lächeln.
»Ich bin Harald«, streckte er ihr die Hand entgegen. Sie schüttelte sie zaghaft.
»Manuela.« Wer war der Mann? Einer von der Firma, der sicherstellte, daß sie keinen Ärger machte? Ein Sozialarbeiter? Zum Anbaggern sah er zu gut aus. Der konnte ganz andere haben als sie.
Er kam um den Bistrotisch, legte den Arm um sie und meinte: »Willkommen in unserer Gemeinde.«
Ein Pfarrer, ein Priester – klar. Wer sonst sprach eine 55jährige mit sieben Wodka-Lemon an? Penner oder Religiöse, sonst niemand – oder einer, der sie im Suff ficken wollte, aber dem Unbekannten liefen die Frauen sicher reihenweise nach.
»Du bist mit deinen Sorgen nicht alleine. Wir helfen dir. Wir sind deine neue Familie. Auf uns kannst du dich verlassen; wir lassen dich nicht so schmählich im Stich wie die.« Er deutete hinüber zu dem klotzigen Firmengebäude.
»Du hast gut reden. Ihr habt ja auch alle einen Job. Du bei der Kirche und deine Schäfchen sonstwo.« Sie leerte den Becher auf Ex.
»Von uns hat niemand einen Job. Wir sind alle Genossen. Leidensgenossen. Jeder von uns ist vor kurzem geflogen. In hohem Bogen, so wie du. In den guten Zeiten haben sie uns gerne genommen. Aber jetzt verlagern sie die Produktion nach Asien, kassieren beim Staat Subventionen ab und jammern noch dabei. Ach übrigens, ich bin kein Pfarrer oder so.«
Ihr Blick begann sich zu trüben, und sie verlor die Kontrolle über ihre Stimme. Der Kioskbesitzer hatte es mit dem Wodka-Anteil gut gemeint. Egal – wen interessierte das schon? Sie nahm den letzten Becher und leerte ihn – in einem Zug.
»So, du bist also nicht von der Kirche. Gut. Ich geh jetzt heim … ins Bett. War nett, dich zu treffen.«
Ihr Kopf hämmerte. Langsam öffnete Manu die Augen. Sonnenlicht stach ihr wie ein Messer in die Augen. Schnell schloß sie wieder die Lider und stöhnte auf.
»Au, Mist – mein Schädel!«
Sie spürte einen Kuß. Ein Traum?
»Guten Morgen, Manuela.« Die Stimme war sanft und weich. »Kaffee? Frühstück?«
Was für ein erotischer Traum! Sie lag im Bett, neben ihr der Mann zum Ankuscheln, der sich um sie kümmerte, ihr Frühstück machte, sie küßte, ihren Rücken streichelte. Alles warm und kuschelig. Er küßte sie auf ihr Haar, ihren Nacken, ihr Gesicht, ihren Busen.
»Oder willst du noch liegenbleiben?« Welche Frage! Den ganzen Tag wollte sie so zubringen. Sie würden im Bett frühstücken, er würde ihre Brüste streicheln, ihren Bauch mit Küssen bedecken, ihre Muschi verwöhnen, lecken, saugen. Seine Hände würden überall sein, seine Zunge würde sie verwöhnen. Sein Kopf wäre in ihrem Schoß vergraben, er würde ihre Hüften streicheln, ihren Po, ihren Bauch, ihre Muschi lecken, an ihrer Klitoris spielen.
Sie spürte seinen heißen Atem …
Heißer Atem? An ihrem Ohr? Sie schoß hoch, und ihr Kopf fiel gleich darauf wieder zurück. »Au, verflucht – dieser verdammte Wodka! Himmel, wummert mein Schädel!«
Er strich über ihr Haar, und sie versuchte erneut, die Augen zu öffnen. Das war kein Traum. Sie befand sich in einem fremden Bett, Seite an Seite mit einem Mann, einem sehr attraktiven Mann, der sie verschmitzt anlachte, offen, ehrlich. Harald vom Kiosk lag nackt neben ihr, die Bettdecke reichte ihm bis zum Nabel. Erschreckt stellte sie fest, daß sie ebenfalls nackt war.
»Haben wir …?« Sie fühlte, ob sie den Slip noch anhatte. Aber was hatte das schon zu sagen?
»Wir haben nebeneinander geschlafen.«
»Was ist passiert?«
»Du bist umgekippt. Am Kiosk. Erinnerst du dich?«
Sie schüttelte den Kopf. Ein fataler Fehler. »Autsch.«
Manuela saß am Stammtisch einer alten, urigen Wirtschaft. Keine Gäste weit und breit. Harald hatte ihr eine gehaltvolle Mahlzeit gekocht, Rührei mit viel Speck und Pilzen, dazu ein paar dicke Scheiben Bauernbrot. Sie haute rein wie ein Scheunendrescher. Seit gestern morgen hatte sie nichts mehr gegessen. Wegen der bevorstehenden Entlassung hatte sie keinen Bissen herunterbekommen, und das Abendessen gestern hatte ausschließlich aus Alkohol bestanden. Dunkel erinnerte sie sich, daß ihr die halbe Nacht schlecht gewesen war.
Nun war es früher Nachmittag. Harald hatte ihr einen Spezialcocktail verabreicht – Tomatensaft auf Aspirin – und sie dann einen Liter Leitungswasser trinken lassen – auf ex. Im Moment fühlte sie sich noch schwummrig, aber mit jedem Bissen besser. Harald schaute ihr beim Essen zu, einen großen Kaffeepott in der Hand.
»Wo sind wir hier?« fragte sie zwischen zwei Bissen.
»Bei einem guten Freund. Er hat diese Wirtschaft geerbt. Ist ein wenig heruntergekommen, das alte Gemäuer, und liegt weit ab vom Schuß, deshalb rentiert sich das Renovieren und Wiedereröffnen nicht. Wir befinden uns hier mitten auf der Schwäbischen Alb.«
»Ich habe einen ganz schönen Blackout. Kann mich an nichts mehr erinnern – außer daß ich gestern noch in Stuttgart war und gefeuert wurde. Hast du mich …?«
Harald nickte. »Ja, ins Auto gepackt, in Decken gewickelt und dich hierher gefahren. Und dreimal angehalten unterwegs. Auf dem Pannenstreifen der Autobahn.«
Sie blickte verlegen nach unten und murmelte eine Entschuldigung.
»Sicher hat das Auto auch etwas abgekriegt? Ich putze es nachher weg.«
»Schon passiert, mach dir keine Sorgen. Du kannst übrigens so lange hierbleiben, wie du willst. Wir sind eine Art WG, Gestrandete des Lebens sozusagen.«
»Weiß dein Freund davon, Harald? Ich will keinen Ärger. Ich glaube, ich gehe jetzt besser.«
Sie stand auf, aber die Beine versagten ihren Dienst. Harald fing sie mit einem schnellen Griff auf. Er hielt sie einen Moment länger fest als nötig. Oder bildete sie sich das nur ein?
»Das geht in Ordnung. Es wird dir hier gefallen, es sind auch andere Frauen im Haus. Geh erst mal auf Abstand zu deinem alten Leben. Um den Rest kümmern wir uns.«
»Wieso ich? Ich bin ein Niemand, eine, die man gefeuert hat. Wieso sollte sich jemand meiner annehmen?«
»Jeder Mensch verdient es, anständig behandelt zu werden. Gerade in dieser kalten Zeit, wo alle nur nach sich selbst schauen. Keine Sozialkompetenz mehr. Jeder bringt ganz egoistisch seine Schäfchen ins Trockene, allen voran die Banker und Manager. Wer dabei auf der Strecke bleibt, ist denen doch egal.«
»Genau. Gut, daß das mal jemand erkennt. Bei uns haben sie die Leute gefeuert, und gleichzeitig haben sich die Manager noch dickere Autos geleistet. Diesem Pack würde ich liebend gerne eine reinwürgen!«
Harald nickte zustimmend.
»Wäre sicher nicht schlecht, aber an diese Leute kommst du nicht heran, Manu. Nur mit Gewalt. Und das ist strafbar.«
»Na und? Mir wär’s noch egal. Ich könnte diese Bonzen mit bloßen Händen erwürgen.«
»Iß erst mal und komm wieder zu Kräften«, empfahl ihr Harald.
»Wie heißt dein Freund eigentlich? Ist er so eine Art Sozialarbeiter?«
»Nein, eher ein moderner Robin Hood. Und weil wir alle Leidensgenossen sind und den Kapitalismus strikt ablehnen, nennen wir ihn nur den Genossen.«
»Den Genossen? Lustiger Spitzname. Klingt irgendwie nach Rußland. Und was macht ihr hier so? Habt ihr Aussichten auf neue Jobs?«
»Der Genosse versucht sein Bestes, uns wieder einzugliedern, aber das ist schwierig, wie du dir vorstellen kannst. Die Kapitalisten beherrschen den Arbeitsmarkt. Sie pressen die Arbeiter und Angestellten aus bis aufs Blut. Der Krankenstand in Deutschland ist praktisch auf Null gesunken. Wer heute nicht mit den Wölfen heult, bleibt auf der Strecke. Wir müssen abwarten, bis sich die Lage wieder normalisiert hat. Das kann allerdings noch lange dauern.«
»Diese elenden Banker-Fettsäcke – denen haben wir die verdammte Krise und alles zu verdanken! Ich wünschte, diese Schweine wären alle tot. Kann man denn gar nichts gegen diese Bastarde unternehmen?«
Harald zuckte mit den Achseln. »Nicht viel. Diese Leute leben seit neuestem völlig abgeschottet in speziellen Villenvierteln. Sogar eigene Schulen haben sie, eigene Einkaufszentren, Energieversorgung, alles autark. Polizei, Securityfirmen, Kameras, Alarmanlagen, Bewachung rund um die Uhr. Hast du vielleicht eine Idee, auf welchem Weg man in diesen inneren Zirkel vordringen kann?«
»Ich? Ach was! Ich habe zwar bei der SIWATEC in der Produktion gearbeitet, aber von denen ihren Alarmanlagen habe ich keine Ahnung.«
»Tja, schade eigentlich.«
»Wieso?«
»Na ja, soviel ich weiß, sind diese Villenviertel alle mit den Homeguards 8000 von der SIWATEC ausgerüstet. Sogar die gesamte Infrastruktur wird damit überwacht. Stromerzeugung, Wasserversorgung, Verkehrssystem – alles. Wenn wir wüßten, ob diese Einbruchmeldeanlage eine Schwäche hat, dann könnten wir vielleicht etwas unternehmen.«
Er schaute sie erwartungsvoll an.
»Ich habe leider nicht den geringsten Dunst von diesem Elektronikkram.«
»Tja, da kann man nichts machen.«
Harald war offensichtlich enttäuscht und schickte sich zum Gehen an. Sie bekam ein schlechtes Gewissen. Diese Gemeinschaft bot ihr ein neues Zuhause, neue Freunde, vielleicht einen neuen Job und sogar die Gelegenheit, sich an diesen Geldsäcken zu rächen, und sie konnte ihnen nicht mal die Bohne helfen. Sie überlegte fieberhaft.
»Warte mal!« rief sie. Harald hatte bereits die Klinke in der Hand. Er drehte nur leicht den Kopf, als erwartete er nicht wirklich etwas Nützliches von ihr – wie so viele andere zuvor, die nicht an ihrer Meinung interessiert waren. Doch dann kam er auf sie zu und setzte sich wieder. »Wir hatten immer diese periodischen Kontrollen.«
»Qualitätsaudits?«
»Genau. Da gab es oft Probleme mit den Produkten. Zuletzt mit so einem Teil, etwas größer als eine Zigarettenschachtel. Hat vorne einen runden Plastikeinsatz drin.«
»Ein passiver Infrarotbewegungsmelder?«
»Genau so haben sie zu dem Ding gesagt. Hey, du kennst dich aus, was?«
»Geht so. Hatte mit 15 meinen ersten Elektronikkasten zu Weihnachten bekommen. Aber erzähl weiter. Was war mit diesem Infrarotmelder?«
Manuela freute sich, endlich jemanden gefunden zu haben, der ihr zuhörte. Sie wußte, daß sie umständlich war und lange brauchte, bis sie zum Punkt kam. Die meisten Leute waren ungeduldig mit ihr, genervt und forderten sie auf, zur Sache zu kommen. Nicht Harald. Er schien alle Zeit der Welt zu haben. Alle Zeit für sie. Obwohl er so geschliffen redete, schien er sie ernst zu nehmen. Und wie er sie anschaute! Als wollte er flirten. Aber das bildete sie sich wahrscheinlich nur ein.
»Also, dieser Melder, der hatte Aussetzer – einen Kontakt, der nicht richtig funktionierte.«
»Ein Relais?«
»Relais – genau so haben sie das Teil genannt. Das ging nicht richtig. Temperaturprobleme, das habe ich noch mitbekommen.«
Harald ermunterte sie zum Weiterreden, aber sie besaß keine weiteren Informationen. Sie verstehe rein gar nichts von Elektronik, beteuerte sie abermals.
»Kennst du die Bezeichnung dieses Melders?«
»Warte mal … Ich glaube, der war aus der Galaxy-Linie. Das ›Galaxy‹ konnte ich mir gut merken, ich schaue nämlich gerne Science-Fiction-Filme. Meine Lieblingsserie ist Stargate. Was sind deine Lieblingsfilme?«
Er lachte. »Ganz ehrlich?«
»Klar. Sag schon.«
»Die Star-Wars-Trilogie. Alt, aber immer noch gut.«
»Na ja, die special effects sind arg antiquiert, aber Harrison Ford als junger Bursche ist natürlich ein Genuß. Dann guckst du sicher auch Enterprise?«
»Logisch, Captain. Ich habe sogar alle Enterprise-Filme auf Blu-ray.«
»Ehrlich? Klasse.«
»Wenn du willst, können wir die Filme zusammen anschauen. Hast du heute abend Zeit?«
»Ich habe ab heute wahnsinnig viel Zeit. In dieser blöden Bude lasse ich mich nie wieder blicken. Das Zeugnis soll mir die Firma zuschicken. Ich mache ab jetzt einen auf krank. Wenn ihr mich wirklich haben wollt, mache ich mich lieber hier nützlich, anstatt bei denen weiterzumalochen.«
»Klar wollen wir, daß du bei uns bleibst. Ich stelle dich noch den anderen vor. Apropos Maloche: Weißt du zufällig, wer bei euch für diese Audits verantwortlich ist?«
»Ja, logo. Das ist ein ganz netter Mann. Groß, schlank, hager, so Mitte 50, aber nicht so ein Managerschwätzer wie die anderen Krawattenträger. Ältere Kollegen meinten, er habe starke Ähnlichkeit mit einem früheren Tagesschausprecher, Ulrich Wickert oder so ähnlich. Jedenfalls hat er immer Schokolade für die Belegschaft mitgebracht. Echte Schweizer Schokolade. Die war gleich weg, kaum daß sie im Pausenraum stand. Ich habe immer ein paar in die Taschen gesteckt und abends vor der Glotze gegessen.«
»Ich kenne übrigens jemand, der bei der SIWATEC arbeitet. Hieß der Mann zufällig Kogler? Roger Kogler?«
»Nein, der hieß anders. Der war zwar Deutscher, reiste aber aus der Schweiz an. Damit saß er ja direkt an der Schokoladenquelle. ›Schokki‹ sagen die da unten dazu, hat er uns erklärt. Schwyzer Schokki. Wenn die Kontrollen fertig waren, hat er sich bei jedem von uns persönlich bedankt und uns die Hände geschüttelt.«
»Echt netter Kollege. Dann werde ich zusehen, daß ich für unseren gemeinsamen Videoabend eine große Toblerone auftreiben kann. Ich habe übrigens gleich das Zimmer neben dir.«
»Und ich kann wirklich hierbleiben?«
»Jeder hier hat eines dieser urigen Doppelzimmer mit Dusche und WC. Küche, Fernseher und Essen ist unten, Waschmaschine im Keller. Mehr brauchen wir nicht. Geht das für dich in Ordnung?«
»Klar. Das finde ich echt cool von euch.«
»Na, dann willkommen bei uns.« Harald umfasste sie an der Hüfte und küßte sie auf die rechte und linke Backe. Dann umarmte er sie ganz und drückte sie, als wäre sie eine alte Bekannte. Er hätte sie ewig so halten können. Sie schloß die Augen und träumte von ihrem neuen Leben bei netteren Menschen – und von Harald in ihrem Bett.
Sie standen über fünf Minuten Arm in Arm und kuschelten, als Harald sich löste.
»Sorry, ich muß mal kurz weg. Bißchen Geld verdienen.«
»Klar, geh nur. Wenn ich mich nützlich machen kann, sag mir Bescheid.«
»Du kannst dich erst mal einleben. Wir sind nämlich ein bißchen speziell, weißt du?« Er zwinkerte kurz. »Vielleicht gefällt es dir hier auch gar nicht.«
»Wieso, schlaft ihr alle miteinander?« Sie lachte laut auf. »Wär mir auch egal.«
Er deutete mit dem Zeigefinger auf sie wie Onkel Sam auf den alten Rekrutierungsplakaten: »We want you!«
»Fast erwischt!« rief er und lachte.
Harald hob die Hand zum Abschied, als ihr der Name des netten Kollegen aus der Schweiz wiedereinfiel.
»Der aus der Schweiz hieß Habermann. Klaus Habermann.«