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Irgendwann hat alles einen Anfang

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Jede Woche hat einen Freitag, und jeden Freitag hoffe ich, die lange Strecke von Zürich bis nach Hause gut durchzukommen. Ich weiß gar nicht, wo ich permanent diesen erneuten Optimismus hernehme, denn jede Woche ist es das gleiche Stau-Desaster. Klar, vor allem bei Autobahnvollsperrungen »kommt man rum«, wenn man gezwungenermaßen die geplante Strecke verlassen muss. Aber wie angenehm ist es eigentlich, per Umleitung auf einmal am Titisee zu landen, zwei Stunden Zeit zu verlieren und dann auch noch Richtung Westen über Frankreich zu fahren? Flachland-Tiroler wie ich stellen erschrocken fest, dass sie sich im Winter bei 850 bis 1.000 Metern über NN auf glatten Serpentinen-Straßen am Titisee im Schwarzwald befinden. Nur – eines habe ich gelernt: Alles Schimpfen hilft nichts. Steckst du im Stau, kommst du nicht vorwärts. Fertig. Steckst du in einer gefährlichen Situation, pass gefälligst auf! Fertig.

Trotzdem komme ich dann sehr erschlagen in Kaiserslautern bei Michael an und muss immer erst einmal durchschnaufen. Aber egal, wie spät es ist, und egal, wie aufregend es die Nachbarn finden, dass ich viel herumkomme – auch nachts um ein Uhr muss ich noch die Freitagswaschmaschine anwerfen, damit ich am Sonntag wieder Klarschiff habe. Und dann kommt dazu, dass es auch bei mir wohl so ist wie bei vielen anderen auch. Ich möchte nicht aufstehen, wenn ich zur Arbeit muss, aber an freien Tagen kann ich nicht ausschlafen, weil ich denke, dass ich etwas verpassen könnte. Irgendeine freie Minute meiner Freiheit.

Völliger Blödsinn, aber es schmeißt mich trotz kurzer Nacht auch am heutigen Samstag wieder um kurz nach sieben Uhr aus den Federn.

Das führt dazu, dass ich am Samstagabend grundsätzlich müde bin. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass meine Akkus immer leerer werden.

Michael und ich haben gemeinsam ein warmes Abendessen gekocht. Jeder hat wie immer seine Essensportion gemütlich vor den Fernseher mitgenommen. Ich wickele zufrieden eine warme Decke um mich. Wirklich am Esstisch sitzen wir selten zum Essen.

Das Festnetztelefon klingelt, und die erste volle Gabel Richtung Mund gefriert mitten in meiner Bewegung. Warum schon wieder gerade jetzt? In früheren Zeiten hätte ich das Telefon einfach vor sich hin klingeln lassen und maximal ein Knurren von mir gegeben. Ansonsten lasse ich mir von irgendeinem Telefonklingeln nichts diktieren. Außergewöhnliche Zeiten erfordern allerdings außergewöhnliche Maßnahmen.

Missmutig rolle ich mich aus meiner gemütlichen Ess-Position zum Telefon. Arthurs Nummer ist auf dem Display nicht zu übersehen. Also muss ich wohl rangehen. »Hallo, Arthur.« In Gedanken füge ich hinzu: Wir essen gerade.

Was Arthur aber dann sagt, lässt mich aus meiner schlaffen Haltung erwachen.

Teufelchen: »Er kann das gut verpacken, aber Arthur hat Angst, dass sein älterer Bruder Friedrich bald stirbt.«

»Hör mal, Anja. Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir uns noch im Februar bei Friedrich im Krankenhaus treffen könnten. Irgendwie so ein Familientreffen bei Friedrich, weißt du?«

Aha. Also innerhalb der nächsten Tage. Ich bin mir sicher, dass Friedrich noch länger wegen der Reha im Krankenhaus bleiben muss (da diese tatsächlich im gleichen Krankenhaus stattfinden kann). Warum also so ein überstürzter Besuch?

Engelchen: »Hallo? Weil es sonst vielleicht zu spät sein könnte?«

Tja, schade – dann kann das wohl nicht bis zur zweiten Märzhälfte warten, in der ich ohnehin eine Woche bei Rosi zu Gast sein werde. Aber langsam kommt mir ein Verdacht … und der bestätigt sich, als Arthur weiterredet: »Ich würde allerdings dich bitten, das bei Rosi anzuleiern.«

Das ist der Braten, den ich gerochen habe. Ich soll das organisieren.

Ich werde mir wieder klar darüber, dass ich wirklich nicht viel über die verwandtschaftlichen Sympathie- und Antipathie-Verhältnisse weiß, die in den letzten Jahren entstanden sind oder schon immer so waren. Ich weiß aber, dass Rosi Arthur nicht mag und das vermutlich auf Gegenseitigkeit beruht. Irgendetwas ist in der Vergangenheit vorgefallen, was ich nicht weiß und auch gar nicht wissen will. Allerdings kommt Arthur jetzt schon gar nicht mehr an Rosi vorbei und an Friedrich heran. Es ist schon vor dem Krankenhausaufenthalt nicht möglich gewesen, mit Friedrich allein zu telefonieren. Rosi hat sich immer als Sprachrohr betätigt und die Fragen an Friedrich beantwortet. Das geht mir in meinen Sonntagstelefonaten genauso, aber ich bin da hart und sage dann zu Rosi: »Ich habe Friedrich gefragt, nicht dich. Ich möchte seine Antwort hören.«

Mit dem Krankenhausaufenthalt von Friedrich geht Arthurs Weg nur über Rosi – und der führt in eine Sackgasse. Also bin ich wieder die Bypass-Lösung.

Arthurs Stimme klingt dringlich: »Anja, wer soll das denn sonst organisieren?«

Michael wirft mir einen warnenden Blick zu und lässt kurz seine Gabel sinken. Mein Essen ist inzwischen garantiert nur noch lauwarm.

»Kannst du nicht versuchen, dass wir uns Ende Februar alle mit Friedrich treffen können?«

Alle. Rosi, Arthur, Susanne, Dagmar, Jens, Michael, ich – wer noch? Unsicher kratze ich mich am Ohr. Ob Arthur weiß, dass ich auch zu Jens und Dagmar kaum noch Kontakt habe? Klar, ich kann das versuchen. Aber ich habe das untrügliche Gefühl, dass ich dabei zumindest bei Rosi und auch garantiert bei Dagmar auf Unwillen stoßen werde.

Zunächst habe ich aber für mich selbst eine Idee. Wenn ich mich nun tatsächlich wieder mehr mit der Verwandtschaft beschäftigen werde, dann hebe ich jetzt eine Antipathie-Liste aus der Taufe. Ich bin sicher, sie wird schnell wachsen. Erster Eintrag:

Rosi und Arthur mögen sich gegenseitig nicht.

Arthurs Ansinnen ist an sich natürlich nachvollziehbar, besonders in Friedrichs gesundheitlicher Situation kann es schon sein, dass es irgendwann zu spät ist und ein »Wenn nicht jetzt, wann dann?« seine Berechtigung hat. Aber auf der anderen Seite ist das schon ganz schön krass. Rosi und Friedrich sind ja nicht blöd. Werden sie das nicht eher als Abschiedskonzert auffassen? Familienauflauf am Krankenbett … Irgendwie kommt mir die gruselige Vorstellung der letzten Ölung.

Und Arthur? Vermutlich hat Arthur auch im Sinn, noch einmal zu verdeutlichen, dass wir uns alle (außer Dagmar und Jens) Sorgen machen und dass es so nicht weitergehen kann.

Nach dem Telefonat mit Arthur sinniere ich mal wieder über die Situation nach und wandere gedanklich in die Vergangenheit.

Glasglockenleben

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