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Ab in die Jugend

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Die Plüschschlange findet ihren Platz auf der Ablage vor meiner Windschutzscheibe, dann starte ich erneut den Motor. »Friedrich, das ist dein Glücksbringer. Ich hoffe, dass du die Operation mit der anschließenden Reha gut überstehst. Aber ich muss ehrlich sein, ich weiß gar nicht, ob es gut ist, wenn du aus dieser OP wieder aufwachst.« Was, wenn es ein Schrecken ohne Ende wird und kein Ende ohne Schrecken?

Nach dem erneuten Motorstart und der nahenden Grenze muss ich mich zwingen, mich auf meinen Job zu konzentrieren und damit auf die vor mir liegende Woche.

Als ich im Juni letzten Jahres das erste Mal in Zürich aufgetaucht bin, um bei einem Projekt einer großen Schweizer Bank mitzuarbeiten, bin ich begeistert gewesen. Ich nistete mich in einem Hotel in der Nähe des Projektgebäudes ein und stellte fest, dass der Züricher See nur zwei Tramstationen von meinem Hotel entfernt war. Hier würde ich wohl die meiste Zeit der Projektarbeit kampieren. Gegenüber von meinem Hotel sind einige Billig-Restaurants mit Sitzmöglichkeiten auf einer Terrasse. Der Schweizer Franken steht im Verhältnis zum Euro gerade mehr oder weniger eins zu eins, was das Leben für einen Deutschen in der Schweiz noch teurer werden lässt als ohnehin schon. Meine anfängliche Begeisterung ist nun schon längst der harten Realität des Projektgeschäfts gewichen. Ziele darf man hoch ansetzen, wenn sie mit Anstrengung doch noch erreichbar sind. Die Ziele dieses Projektes waren sogar noch mehr als absurd, und so tut es mir heute wirklich nicht leid, die anderen bald zurückzulassen auf diesem sinkenden Schiff. Früher oder später werden da Köpfe rollen. Ich bin dann schon weg.

An der Grenze werde ich wieder nicht angehalten und kann freundlich lächelnd an den Grenzern vorbeifahren. Danke, Schengener Abkommen! Ab jetzt gilt es, haargenau das Tempolimit einzuhalten. Hier gibt es keine Strecken ohne Geschwindigkeitsbegrenzung wie bei uns in Deutschland. Die Strafen bei Überschreitung des Limits sind so drastisch, dass ich meinen Bleifuß im Zaum halte.

Mein Blick fällt auf die Kilometeranzeige meines alten Audis. Dreizehn Jahre ist er nun alt, und der Kilometerstand von 277.777 Kilometern blinzelt mir in der Morgendämmerung entgegen.

»Fährst du eigentlich immer noch deinen alten Audi?«, klingt die stete Frage von meinem Onkel Arthur – Friedrichs Bruder – in mir nach. Ich krause bei dem Gedanken die Nase und denke verächtlich darüber nach, für wie viele Menschen ein Auto offensichtlich ein Status-Symbol ist.

Mich verbindet etwas mit dieser alten Karre. Dreizehn Jahre meines Lebens. »Einmal in meinem Leben will ich ein Auto haben, das ich mir nagelneu selbst konfiguriert und persönlich aus Ingolstadt abgeholt habe.« So war das mit diesem Audi hier. Ich habe ihn aus seiner Geburtsstätte, der Produktion in Ingolstadt, abgeholt und unsere Partnerschaft begann mit einem platten Reifen durch einen Nagel bei seiner Jungfernfahrt nach Hause.

Sind das da vor mir eigentlich die zackigen Bergspitzen der Alpen? Eigentlich fand ich in der Schule das Fach Erdkunde gar nicht so schlecht. Aber wir nahmen eher die Kontinente Afrika und Amerika durch, und so ist es nicht überraschend, dass ich mich in der Schweizer Tiefebene im Tal der Ahnungslosen befinde. Ich habe keine Ahnung von Europa.

Ich schüttele gedankenverloren den Kopf und versuche, die Geografie zu sortieren. Quatsch, ich komme vom Norden her in die Schweiz, die Alpen sind also weiter südlich. Vermutlich sind das die Zacken des Jura-Gebirges.

Ich verbinde das Jura-Gebirge mit meiner Kindheit. Es hieß in unserer Familie oft, wir machen Urlaub in irgendeinem Gebirge. Rosi war immer auf der Jagd nach Fossilien gewesen, daran erinnere ich mich noch. Eingeschlossene Tiere in Stein. Wenn wir am Meer waren, hatte sie nach Bernsteinen gesucht. Eingeschlossene Tiere in Bernstein. Im Jura-Gebirge hatte Rosi Fossilien gefunden. Sie liegen noch heute auf der Fensterbank im Wohnzimmer neben vielen anderen Dingen. Ein komisches Hobby, eingeschlossene Tiere in Steinen zu suchen. Das Jura-Gebirge erinnert mich an diese vielen Wandertouren, die Rosi und Friedrich mit uns Kindern veranstaltet haben. Auch damals im Harz, im Spessart: immer nur wandern. Ich habe gelernt, das Wandern nicht zu mögen. Es hat mich gelangweilt und später genervt.

Ich habe sehr viele Jahre nicht mehr an meine Kindheit gedacht. Wozu auch, das sind abgeschlossene Kapitel meines Lebens. Es ist nie meine Absicht gewesen, diese Kapitel jemals wieder aufzuschlagen. Warum passiert das jetzt? Weil ich befürchten muss, dass mein Vater heute sterben könnte? Weil es vielleicht sogar besser für ihn ist, wenn er heute stirbt und nicht länger gegen seine Krankheit kämpfen muss?

Während die Bergzacken in meinem Rückspiegel kleiner werden und ich auf Zürich zurolle, kommen mir zu allem Überdruss die Sonntage meiner Jugend in den Sinn. Plötzlich bin ich wieder klein und höre wie gestern Rosis gellende Rufe: »Daaagmaaar, Aaaanjaaa, Jeeeheens!«

Sonntag, sieben Uhr. Ich ziehe mein Kopfkissen über das Ohr und habe keine Lust, aufzustehen, um in die Kirche zu gehen. Ich bin müde und wünsche mir, einen einzigen Tag in der Woche mal ausschlafen zu dürfen. Dagmar ist meine ältere Schwester, Jens mein jüngerer Bruder. Damals mussten wir Kinder auch am Samstag in die Schule gehen. Die Abschaffung des Samstags-Unterrichts war erst sehr viel später. Einen Tag in der Woche ausschlafen, wenigstens am Sonntag? Nein, das gab es bei uns nicht. Rosis laute Schreie durch das Haus sind unerbittlich. Selbst Dagmar und ich hören dieses kreischende Rufen bis ins Dachgeschoss, wo wir Mädchen unsere Bleibe in einem niemals endgültig fertiggestellten Mädchen-Refugium gefunden haben. Friedrich ist immer ein Mensch der Provisorien gewesen, und ich erinnere mich noch genau, wie ich mit sieben Jahren die Rigipsplatten im Dachgeschoss mit Farbe bestrichen habe, um nicht alles so provisorisch aussehen zu lassen. Als wir Mädchen ins Dachgeschoss einquartiert worden waren, war unten im ersten Stock Platz für das Zimmer von Jens. Als wir in das Haus zogen, war Jens drei oder vier Jahre alt. Wir nannten Jens’ Zimmer »Nordzimmer«. Vermutlich ist Jens immer nahezu aus dem Bett gefallen, wenn Rosi am Sonntagmorgen ihre gellende Stimme zum Aufstehen durch das Haus schallen ließ. Er war ja dichter dran an der Küche, von der aus Rosi voller Elan das Haus zum Leben erweckte.

Die Erinnerungen an meine Kindheit bereiten mir fast psychische Schmerzen. Ich weiß, dass meine Eltern nur das Beste für uns wollten, aber das ist bei mir schiefgelaufen. So richtig schief. Es war mir schon als Teenager unklar gewesen, warum ich mich dem für mich nicht nachvollziehbaren Willen von Rosi unterwerfen sollte. Sie hatte eine klare Vorstellung davon, wie ihre Kinder zu sein hatten. Ich hatte eine klare Vorstellung darüber, wie ich nicht werden wollte.

Rosi hat sich in meiner Kindheit natürlich durchgesetzt. Auch ich bin ganz unauffällig zum Konfirmationsunterricht gegangen und habe mich konfirmieren lassen.

Damals. Meine Augen ziehen sich zu Schlitzen, ich muss mich wieder auf die Schweizer Tempolimits konzentrieren. Ich sehe den Blitzer sehr genau und lasse mich – obwohl ich tief in Gedanken bin – nicht ablenken. Schnell kontrolliere ich, ob ich die verlangten 80 km/h eingehalten habe. Zufrieden darf ich nicken und wieder in die Vergangenheit abtauchen. Ich hatte über meine Konfirmation so meine Vorstellungen, die natürlich getrieben waren von den Konfirmationen meiner Altersgenossinnen und -genossen. In der Schule hieß es, dass es zum Abschluss ein rauschendes Fest mit vielen Geschenken geben würde. Die Jungs berichteten, dass sie ein Mofa zur Konfirmation geschenkt bekommen haben. Rosi und Friedrich haben mir angedeutet, dass ich für ein Musikinstrument sparen müsse und sie mir den Rest dazu zur Konfirmation schenken würden.

Ich bin zwar kein Junge, aber ich hätte auch gerne ein Mofa gehabt. Wozu also ein Musikinstrument?

Weil Rosi will, dass du musikalisch bist. Rosi hat vor Jahren darauf gebaut, dass ich wie Dagmar das Blockflöte-Spielen lieben würde. Ich habe es gehasst und das Rosi auch gnadenlos klargemacht. Also durfte ich für eine Gitarre sparen, die ich ebenfalls nie haben und spielen wollte.

Im Rückblick, als erwachsene Frau, war es eigentlich gar nicht so schlecht, Musikunterricht gehabt zu haben. Ich übte zwar auch mit der Gitarre nicht sonderlich viel, machte aber dennoch Fortschritte. Ich bekam später sogar Einzelunterricht von einer Privatlehrerin. Ich schulterte einmal pro Woche meine Gitarre und fuhr mit dem Bus in die Stadt zu der Lehrerin. Einmal im Monat bekam ich das Geld dafür bar in die Hand gedrückt. Ich lernte, Flamenco zu klimpern, und hatte immer noch keine wirkliche Lust darauf. Aber das mit dem Bargeld fand ich doch schon ganz schick.

Wieder einmal entwickelte ich einen Plan. Anfangs ging ich nur noch jede zweite Woche zum Unterricht, tat Rosi gegenüber aber so, als ob ich brav weiter wöchentlich dort auftauchte. Die Hälfte des Geldes behielt ich einfach für mich. Ich tauchte immer seltener beim Unterricht auf, strich nach wie vor das Geld ein und kaufte mir davon lieber schicke Klamotten, die ich dann abends an Rosi vorbeischmuggelte. Das flog natürlich auf, als die Lehrerin bei Rosi anrief, um zu fragen, ob ich denn jetzt nicht mehr kommen würde und sie die Unterrichtszeit für einen anderen Schüler reservieren könne.

Es gab ein Riesentheater mit dem für mich dennoch erfolgreichen Ergebnis, dass ich nun auch nicht mehr Gitarre spielen lernen musste. Das Kapitel musikalische Erziehung war damit für mich abgeschlossen, während Dagmar weiterhin eifrig Flöte spielen lernte und später sogar Musik studieren würde. Mir tat es nur leid, weil ich nun weniger Geld zur Verfügung hatte.

Rosi. Manche Kinder wünschen sich eine Mutter und einen Vater, weil sie das nicht haben. Sie leiden ihr ganzes Leben darunter, weil sie nicht wissen, wer ihre Mutter oder ihr Vater ist oder beides. Ich habe eine Mutter und einen Vater. Es lief aber nicht. In meiner kindlichen Vorstellung war es nicht unmöglich gewesen, dass ich gar nicht das biologische Ergebnis meiner Eltern war. Es lief einfach nicht.

Dagmar war das Musterkind, ich war eher das quertreibende Sandwich-Kind und Jens das Kummerkind. Es lief einfach nicht mit Rosi und mir. Und damit auch nicht mit Friedrich und mir.

Heute wird Friedrich also operiert. Wie es Rosi wohl dabei geht? Was wäre denn, wenn er wirklich nicht mehr aus der OP aufwachen würde? So unwahrscheinlich ist das ja in dem hohen Alter nun auch nicht. Davon abgesehen ist Friedrichs Herz schon seit Jahren nicht mehr das kräftigste. Er nimmt blutverdünnende Medikamente, die für jede noch so kleine OP ein zusätzliches Risiko wegen der verminderten Blutgerinnung darstellen.

Friedrichs zehn Jahre jüngerer Bruder Arthur macht sich jedenfalls auch Sorgen. Es ist erst zwei Wochen her, als er und seine Frau am Sonntagabend bei Michael und mir angerufen haben. Arthur ruft sonst eigentlich nie bei uns an. Doch, es gab in der Vergangenheit schon Ausnahmen. Die Ausnahme war immer dann, wenn er etwas von uns wollte, und es mit Friedrich zusammenhing. Michael und ich hatten an dem Sonntagabend gerade das Steak fertiggebraten und mit einer Portion knackigem Gemüse auf den Teller gehäuft, als das Telefon klingelte, und Arthurs Nummer im Display aufleuchtete.

»Das bedeutet nichts Gutes«, habe ich sofort gemurmelt und meinen Teller beiseitegeschoben.

Michael hat nur die Augen verdreht und völlig ungerührt mit dem Essen begonnen.

Wie sich aber alsbald herausstellte, war wohl eher Susanne die Antriebsfeder gewesen, bei uns anzurufen. Arthur schien es eher peinlich zu sein; er druckste ziemlich herum.

Ich brauchte nun wirklich nicht die Kombinationsgabe von Nick Knatterton zu haben, um zu erkennen, dass er tatsächlich irgendetwas wegen Friedrich wollte.

Arthur und Susanne waren mittlerweile auch schon längst in Rente. Sie erfreuten sich guter Gesundheit und genossen ihre Freizeit mit vielen Reisen und Unternehmungen. Sie wohnten zwar 300 km von Rosi und Friedrich entfernt, nutzten aber so manche Gelegenheit, um bei den beiden vorbeizuschauen. Sie waren in der letzten Zeit also sehr viel öfter als ich dort zu Besuch gewesen, und manchmal hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass mein Job mir viel zu viel Zeit und Kraft raubte, um ebenfalls mal den langen Weg zu einem Besuch zu Rosi und Friedrich anzutreten.

Zu meiner zusätzlichen Entschuldigung kann ich anführen, dass ich in den ganzen letzten Jahren noch viel weiter weg gewohnt habe als Arthur und Susanne. Arthur hat jedenfalls mehrfach betont, dass sie sich lange überlegt haben, bei uns anzurufen, es aber letztlich Susanne gewesen sei, die nun darauf bestanden hatte. »Wir wollen uns nicht einmischen, aber …« Das Anliegen war ganz simpel, und Arthurs Worte bestätigten mein seit einigen Wochen aufkeimendes ungutes Gefühl. »Deine Eltern lassen sich von niemandem in die Karten schauen«, hat Arthur erklärt, »sie behaupten stets, es sei alles in Ordnung und sie kämen klar.«

Exakt diese Antworten erhielt auch ich immer wieder bei meinen sonntäglichen Anrufen bei Rosi und Friedrich. »Es geht langsamer, aber wir kommen klar. Alles geht so seinen Gang.«

Ich war mir immer unsicherer geworden, ob ich das glauben sollte. Da ich mich aber permanent mehrere hundert Kilometer von den beiden entfernt aufhielt, fehlten mir die Alternativen und der Handlungsspielraum. Ich musste die Beteuerungen glauben und fing dennoch an, mich zu fragen, wie lange es wohl mit Rosi und Friedrich gutgehen würde.

Arthur und Susanne hatten an jenem Abend per Telefon längst ihre Haltung dazu eingenommen. »Gar nicht. Es geht so nicht weiter. Du musst versuchen, da mal hinter die Kulissen und nach dem Rechten zu schauen.«

Das war’s damals. Ich weiß es noch sehr gut. Mir ist der Appetit endgültig vergangen, leckeres Steak hin oder her. Die erahnten leichten Quellwolken am Horizont haben sich nun endgültig in aufziehende Gewitterwolken verwandelt.

Der Anruf war das letzte Tröpfchen in dem fast überlaufenden Wasserfass. Es war nun keine Wunschveranstaltung mehr, ob ich mich wieder intensiver mit Friedrich und Rosi auseinandersetzen wollte oder nicht. Ich hatte gehofft, dass ich meine Pflicht und Schuldigkeit mit meinen Telefonanrufen jeden Sonntag getan habe. Ich habe gehofft, dass es wenigstens noch eine Weile so weitergehen könne.

In welcher Verantwortung war ich nun im Generationenwechsel erzogen worden? War ich nun die, die sich irgendwann mit der Umkehrung der Verantwortung beschäftigen musste? Erst sind die Eltern verantwortlich für die Kinder, und wenn die Eltern alt geworden sind, dreht sich das um? Das ist urgeschichtlich der Zweck, aber warum ich, die nicht so ganz die Verantwortung der Eltern mir gegenüber hatte genießen können?

Wahnsinn, Jens hat bei Rosi und Friedrich gewohnt, bis er 30 Jahre alt war, Dagmar genießt bis heute finanzielle Unterstützung von meinen Eltern. Und ich soll mich jetzt kümmern? Irgendwie nicht gerade plausibel für mich. Trotzdem brach damals mein Glasglockenleben zusammen.

Plausibel oder nicht, ich habe Anstand in mir. Ich kann es ab jetzt – vor allem nach Friedrichs OP – nicht mehr einfach so laufen lassen und bin mir durchaus bewusst, dass meine Geschwister Dagmar und Jens von so einer Erkenntnis weit entfernt sind. Sie leben noch in Wolkenkuckucksheim, wo es immer so weitergehen wird. Eltern zuständig für Kinder, nicht Kinder zuständig für Eltern. Sie hatten die Umkehrung noch nicht begriffen.

Wie spannend ist für mich eigentlich der Zufall, dass ich ausgerechnet zu dieser Zeit mein Nomadenleben im Ausland für die Beratungsgesellschaft aufgeben werde und wieder eine feste örtlich gebundene Anstellung in Deutschland annehme? Denn das ist wirklich Zufall und keinesfalls in den elterlichen Ereignissen begründet. Wäre ich weiterhin in Zürich, Lyon oder sonst irgendwo unterwegs, bräuchte ich nicht eine einzige Sekunde darüber nachzudenken, bei Rosi und Friedrich persönlich nach dem Rechten sehen zu können. Die Strecken wären viel zu weit, und auch ein Wochenende hat nur eine begrenzte Stundenzahl.

Trotzdem wird es für mich auch in Zukunft Fakt bleiben, dass ich ein Pendlerleben habe und sehr wohl überlegen muss, was ich in Zukunft an welchem Ort bewerkstelligen kann. Könnte. Aber von Deutschland aus habe ich kürzere Strecken und kann damit erträglicher zu manchen Ausflügen nach Norddeutschland starten, um bei Rosi und Friedrich mal hinter die Kulissen zu schauen. Theoretisch. Wenn ich will, und wenn sie mich lassen.

Ich schlage kurz verärgert mit der rechten Hand auf das Lenkrad meines Autos, das am wenigsten für meine Verärgerung kann. Ich habe wirklich keinen Bock, mich in meine Kindheit zurückkatapultieren zu lassen, und habe trotzdem die Verpflichtung, mich nun um meine Eltern zu kümmern. Wenn sie wollen. Hoffentlich sperren sie sich … Und da sind sie wieder: Engelchen und Teufelchen, meine Kindheitskumpel. Statt meinen Kummer in ein Tagebuch zu schreiben, erfand ich damals das Engelchen und das Teufelchen. Die beiden saßen immer auf meiner Schulter. Wenn Rosi mit mir schimpfte, war es meistens Teufelchen, der meine Rebellion gegen Rosi unterstützte und Engelchen immer erst sehr viel später zu Wort kommen ließ. Mal sehen, wie sie sich in meinem Erwachsenenleben, viele Jahrzehnte später, verhalten werden.

Eine Spinne seilt sich von meinem Autohimmel ab. Ich finde Spinnen eklig, aber sie lassen mich nicht in Panik ausbrechen. Ich fahre das Seitenfenster nach unten und werfe die Spinne einfach raus. Mir bläst sofort wieder die Februarkälte ins Gesicht. Es ist neun Uhr, als ich in Zürich einrolle und mal wieder feststelle, dass Zürichs Straßen gar nicht so voll sind wie zum Beispiel die Straßen von Basel. Basel ist irgendwie immer verstopft. In Zürich ist es herrlich leer auf den Straßen. Genaugenommen ist das so, weil du zwar fahren kannst, aber parken unbezahlbar teuer ist. Deshalb nehmen alle die Öffis. Öffentliche Verkehrsmittel. Die Parkmöglichkeiten bestehen fast ausschließlich aus Parkhäusern, und die sind sauteuer. Wenn ich für 25 Franken pro Tag mein Auto abstelle, sind das 125 Franken pro Woche. Rund 500 Franken pro Monat. Ich war froh, als ich entdeckt habe, dass das Hotel meiner Wahl Einstellplätze in der Tiefgarage vermietete. 130 Franken pro Monat, 4-wöchige Kündigungsfrist. Ich habe keinen festen Platz bekommen, sondern muss mir einen freien Platz suchen, in der Hoffnung, dass die Garage noch nicht voll ist.

Heute ist sie voll. Die Schweiz ist ein kleines Land, und Platz ist Mangelware.

Die Parkhäuser sind also sehr eng, doch nach einigem Suchen sehe ich dann doch noch eine Lücke. Ich schlängele mich mühsam an den Pfeilern vorbei auf den freien Platz. Erleichtert atme ich auf. Die Spiegel sind noch dran, kein Kratzer. Aber leider habe ich mich zu früh gefreut; der Pfeiler ist direkt neben meiner Fahrertür und viel zu dicht, um dort aussteigen zu können. Jetzt weiß ich, warum diese Parklücke als letzte noch frei war.

Über die Heckklappe kann ich nicht krabbeln, da in meinem Kofferraum nicht nur der Koffer für die Woche ist, sondern auch ein halber Lebensmittelladen und ein halber Hausstand. Bei meinem heutigen Glück würde ich mir während des Krabbelns die Hose zerreißen oder mir die Hacken brechen. Es macht sich sicherlich nicht gut, den Krankenwagen rufen zu müssen, weil ich beim Klettern über Bierdosen, Chipstüten, Jacken, Schuhe und einem Wasserkocher steckengeblieben bin.

Ich bin jedes Mal von Neuem froh, beim Grenzübergang nicht angehalten zu werden und in Erklärungsnot zu geraten, warum ich jetzt unbedingt Chipstüten mitnehmen muss. Die Lebensmittel in der Schweiz sind erheblich teurer, und da ich doch eh mit dem Auto fahre, kann ich die deutschen Lebensmittel einfach mitnehmen.

In grenznahen Städten wie Basel bricht jeden Samstag der wahre Shopping-Tourismus aus, wo alle Schweizer die Grenze Richtung Deutschland passieren, um ihre Autos randvoll mit deutschen Lebensmitteln zu stopfen. Ziel: die Discounter-Ketten.

Frustriert werfe ich einen Blick Richtung Heck meines Kombis und ziehe die Schuhe aus. Sie fliegen vorab in den Kofferraum. Das Gleiche geschieht mit der Winterjacke. Es ist fast leicht, bis zur Rücksitzbank zu kommen – im Vergleich zu dem Rest. Man reiße kurz die Kopfstützen der Sitzbank aus der Verankerung und sei froh, ein dünner Mensch zu sein. Nach dem Knistern zu beurteilen habe ich wohl die Chipstüte getroffen, deren Inhalt sich in Krümel aufgelöst hat, aber wenigstens nicht geplatzt ist.

Endlich stehe ich trotz widriger Umstände unversehrt auf dem Betonboden der Tiefgarage und klopfe missmutig meinen Hosenanzug ab. Nun wieder die dicke Wellensteyn-Jacke über alles zu pellen verbessert meine Laune keineswegs. Ich bin absolut kein Wintermensch und – von der Kälte mal ganz abgesehen – hasse ich nichts mehr als dieses ewige Ein- und Auspellen der dicken Klamotten.

Seufzend wuchte ich den Samsonite-Rollkoffer mit meinem Laptop aus dem Auto. Los geht’s! Mit einem tiefen Luftholen verwandele ich mich von einem fluchenden Bierkutscher in eine von vielen auffällig unauffälligen Business-Tanten, die mit hochhackigen Schuhen zur Arbeit hetzen.

Glasglockenleben

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