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Zwischen Job und Rosi

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Mein Einstieg bei meinem neuen Arbeitgeber ist sehr schnell getaktet. Mein Chef ist sehr nett und mein Team mir gegenüber aufgeschlossen. Sie haben sich alle sehr gut auf meinen Start vorbereitet, ich bekomme schon am ersten Arbeitstag meinen neuen Laptop.

»Deine E-Mail-Adresse ist schon seit vier Wochen eingerichtet«, höre ich meinen Chef und wundere mich dann nicht, dass mein E-Mail-Eingang bereits 120 ungelesene Mails enthält. Ich registriere die Terminkollisionen von Einladungen zu Meetings vom ersten Tag an. Oha, hier ticken die Uhren schnell.

Mir wird der Unterschied bewusst, als interner Kollege oder als externer Consultant zu arbeiten. Die Externen haben bei Projektarbeit in der Regel ein Projekt und nicht wie die Internen 700 andere Aufgaben an der Backe. Ich habe vom ersten Tag an offensichtlich ziemlich viele Zuständigkeiten und muss mich erst einmal orientieren. Es ist zum Glück nicht so, dass das neu für mich wäre. Ich habe in der Summe nur ungefähr drei Jahre als externer Consultant gearbeitet. Davor habe ich auch schon Teams im internen Management geführt. Und jetzt bin ich hier wieder in einer Leitungsfunktion eines global agierenden Teams. Ich habe disziplinarisch ein Team in Deutschland und funktional ein Team in Asien und den USA. Ich will natürlich mein Bestes geben – auch wenn es jetzt im Gegensatz zu den letzten sechs Jahren so ist, dass ich nicht selbst an den Systemen herumschraube, sondern die Arbeit von meinem Team erledigen lasse. Ich muss alles im Blick haben und dem Upper Management Rede und Antwort stehen. An der Anzahl meiner Arbeitsstunden ändert dieser Jobwechsel natürlich nichts, das ist einfach so. Wenn Gewerkschaften die 35 Stunden pro Woche propagieren, dann gilt das für Tarifangestellte, aber so etwas hat noch nie für mich gegolten. Für mich nicht und ganz sicher auch nicht für fast alle außertariflich Angestellten.

Rosi hat auch immer gejammert, sie hätte nie Feierabend. Wo bleibt eigentlich meiner? Was bedeutet eigentlich Feierabend? Keine Ahnung.

Ich habe inzwischen die Werkswohnung in Beschlag genommen und erkunde die Gegend nach Einkaufsmöglichkeiten. Wie ich mir schon gedacht habe, bewahrheitet es sich: Ich habe wirklich wenig Lust, mich in die altmodischen Wohnzimmergegenstände zu lümmeln und fernzusehen. Ich lasse den größten Teil der Quadratmeter links liegen, gehe nach ganz oben in die Küche, rätsele Sudoku am Küchentisch, verschwinde zum Rauchen ans geöffnete Dachfenster im Gäste-Klo und verschwinde nach dem Duschen im Schlafzimmer, um den Fernseher anzuschalten.

Am späten Freitagabend fahre ich dann wie viele Pendler zurück zu meinem Erstwohnsitz nach Kaiserslautern und ärgere mich über den Flughafen-Stau, gefolgt vom Stau am Rüsselsheimer Dreieck, gefolgt vom Mainzer Nadelöhr.

Ich wasche meine Wäsche noch am späten Freitagabend, bügele sie am Samstag. Es fühlt sich fast genau gleich an wie zu meiner Zeit in der Schweiz. Der Unterschied ist fast nur, dass die Entfernung nicht ganz so weit ist und ich mein Köfferchen nicht mehr mit mir herumschleppe. Also ist es viel besser. Ich bin optimistisch. Das bisschen neue Arbeit, Werkswohnung, Rosi, Friedrich und all das Drumherum werde ich schon schaffen.

Früher habe ich Rosi und Friedrich jeden Sonntag immer dann angerufen, wenn ich mit Haarewaschen, Föhnen und Duschen fertig war. Je nachdem, wann ich damit fertig war, immer zwischen zehn Uhr und elf Uhr morgens. Nicht selten gab es dazu einen dieser telefonischen Terroranschläge von Rosi, wenn sie der Meinung war, sie müsse sofort wissen, wie es Michael und mir ging und was es Neues gab. Ich habe ihr oft genug gesagt, ich gehe mit nassen Haaren nicht ans Telefon. Wenn Rosi aber der Meinung war, sie müsse sofort mit mir telefonieren, hat sie unbeirrt alles abtelefoniert, was ging. Festnetztelefon, mein Privat-Smartphone, mein Firmen-Smartphone, dann Michaels Privat-Smartphone.

Die Uhrzeit für die Sonntagstelefonate hat sich nun geändert und ist zu einem Telefontermin um 15 Uhr mutiert.

Das ist okay so, Rosi braucht wohl gerade einen festen Termin und die Verlässlichkeit. 15 Uhr. Jeden Sonntag.

Die Frage von Rosi bei meinem Abschied im März muss auch noch beantwortet werden. »Wann kommst du wieder?« Am liebsten würde ich Rosi eine Landkarte vor die Nase auf ihren Tisch legen. Sie hätte diese Frage auch gestellt, wenn ich noch in Zürich gearbeitet hätte. Immerhin sind jetzt die zu bewältigenden Kilometer weniger geworden.

Mein Kopf rechnet. Von meiner Werkswohnung aus sind es nur 330 Kilometer bis zu Rosi. Von Kaiserslautern aus sind es 450 Kilometer bis zu ihr. Wenn ich am Wochenende nach Braunschweig fahre, kann ich nicht nach Kaiserslautern zu Michael fahren. Darunter wird mein Privatleben wohl leiden.

Mittlerweile frage ich mich aber auch, ob es überhaupt eine andere Option gibt. Ich werde wohl ab jetzt regelmäßig nach Braunschweig fahren. Immerhin kann ich einiges aus der Ferne verfolgen. Der Antrag auf Pflegestufe eins ist bewilligt worden. Der Antrag auf den Behindertenausweis hängt und gestaltet sich bürokratischer als erwartet. Aber mit Pflegestufe eins ist es möglich, den Antrag auf den Treppenlift voranzutreiben. Rosis »Wann kommst du wieder?« wird für mich drei Wochen nach meinem neuen Arbeitsbeginn sein. Ein Wochenende ohne Michael und ohne Wäschewaschen.

Das Angebot der Vermieterin der Werkswohnung werde ich ausschlagen. Sie hat gesagt, ich könne die Waschmaschine ihrer Mutter mitbenutzen. Das geht für mich gar nicht. Wenn ich in sechs Monaten meine Zweitwohnung auf eigene Rechnung habe, benötige ich eine Waschmaschine dort. Wenn ich am Wochenende nicht in Kaiserslautern bin, kann ich mich nicht nur nicht um die Wäsche kümmern, sondern auch nicht um meine Forderung der Reisekostenerstattung in Höhe von 10.000 Euro. Ich habe inzwischen meinen ehemaligen Chef eingespannt, und die E-Mails dazu werden immer noch länger und länger. Es ist wie befürchtet, und vorzugsweise an den Wochenendabenden, an denen ich in Kaiserslautern bin, sitze ich nicht neben Michael auf dem Sofa vor dem Fernseher, sondern beantworte Mails. »I cannot work on your reimbursement; we have no personal key.« Nee, der ist ja schon seit Ende März gelöscht. Die Mails kommen von den Philippinen. Das wird ein hartes Stück Arbeit.

Trotzdem mache ich mich wieder auf den Weg zu Rosi. Am Freitagabend direkt von der Werkswohnung aus. Wir haben nun gelernt, dass alles seinen Weg gehen muss, wenn wir die Zuschüsse von den Krankenkassen haben wollen. Einfach losmarschieren und irgendwo einen Rollstuhl shoppen geht schon, aber dann bekommen wir null Euro Zuschuss. Die Pflegestufe eins ist nun bewilligt – Rosi musste sehr auf Friedrich einreden, bei der Überprüfung durch einen Sozialberater nicht den Helden zu spielen. Ein »Nein, nein, ich schaffe die Treppen schon noch« hilft bei der Bewertung und Genehmigung nicht weiter.

Rosi war stolz auf Friedrich, er hat nicht den Helden gespielt, und so konnte die Realität im Hause Hartmann einziehen. Die Pflegestufe war der erste Schritt in Richtung Treppenlift.

Rosi hat mir stolz berichtet, dass der vermessende Statiker für den Einbau des Treppenlifts einen sehr kompetenten Eindruck gemacht hat. »Es ist sogar kein Problem, dass der Handlauf an der Außenseite des Treppenschachtes dranbleibt, damit ich ganz normal weiter als Fußgängerin dort hinaufgehen kann.« Das Angebot lag nun auf dem Tisch, und Rosi hat geschimpft wie ein Rohrspatz. Sie konnte die allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht lesen, die seitenlang in hellgrauer Mikroschrift auf pergamentartigem Papier gedruckt waren. »Das ist eine Unverschämtheit!«, hat Rosi durchs Telefon gewettert. Im Internet ist es gang und gäbe, mit dem kleingedruckten Schindluder zu treiben. Vielleicht mittlerweile auch mit den AGB auf Papier. »Ich habe große Lust, mich bei der Verbraucherzentrale zu beschweren. Wie soll eine Rentnerin wie ich diese Mikro-Buchstaben denn noch lesen können?«

Rosi und Friedrich haben auf dem Esstisch im Wohnzimmer eine auf dem Flohmarkt erstandene Lupenlampe stehen. Eine riesengroße Lupe mit eingebautem Licht, um solche Mikro-Buchstaben zu vergrößern. Ich kann diese Buchstaben gerade noch so lesen, ich könnte Rosi also alles vorlesen. Sie will es aber schwarz auf weiß, also kann ich den Mist in einer lesbaren Größe abtippen und drucken. Auf die Idee, die Blätter mit einem DIN-A3-Kopierer zu vergrößern, komme ich nicht.

Bei meinem nächsten Besuch nach der elend langen Fahrt bin ich dabei, Rosi die AGB zu übersetzen, die Kontoauszüge auszudrucken und nach dem Rechten zu sehen. Friedrich ist immer noch im Krankenhaus und wartet auf seine Reha.

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