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Laienhaftes Wissen

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Engelchen: »Kannst du dich eigentlich noch erinnern, wie es angefangen hat?«

Ich habe mit meinem Kombi schon die Autobahn erreicht, und er schnurrt trotz seines Alters in gewohnter Manier seine Kilometer ab. Wie es angefangen hat … Was ist denn »es« genau? Dieses »es«, welches für mich erst sehr spät einen Namen bekommen hat. »Bei deinem Vater ist die Krankheit Parkinson diagnostiziert worden.« Rosis Stimme hat so geklungen, als ob sie mir mitteilen würde, Friedrich hätte gerade eine Grippe. Es ist typisch für Rosi und Friedrich, dass sie mit dieser wichtigen Information so lange hinterm Berg gehalten haben, wie es ging. Aber – so hatte ich auch im Internet gelesen – es ist auch typisch, dass der Patient selbst die Krankheit im Außenbild so lange unterdrückt, bis es nicht mehr geht und sie offensichtlich wird.

Damals, vor über vier Jahren bei der Jubiläumsfeier von Friedrichs 80. Geburtstag, hatte ich jedenfalls nichts bemerkt, auch wenn Jens später sagte, dass »es« schon da gewesen war.

Als ich vor anderthalb Jahren bei Rosi und Friedrich gewesen bin, da war die Krankheit schon erheblich fortgeschritten. Bei Friedrich trifft es sogar auch zu, dass seine Stimmbänder immer mehr in Mitleidenschaft gezogen werden. Er ist vor einiger Zeit noch zu Fuß zu der Logopädin einige Straßen entfernt marschiert, um seine Stimmbänder zu trainieren. Aber diese Zeiten sind nun auch schon längst vorbei. Friedrich trainiert zu Hause. Die Logopädin hat ihm laute Ahs, Ohs und Uhs empfohlen.

Der kurze Weg ist zu weit, und Rosi fährt ihn nicht hin, weil auch sie an ihre Grenzen gekommen ist. Im Moment trainiert er diese Laute wohl nicht, sondern konzentriert sich auf das Laufenlernen mit der künstlichen Hüfte.

Wie soll das weitergehen, wenn er aus dem Krankenhaus zurückkommt?

Engelchen: »Susanne hat gesagt, dass Rosi das nicht mehr schafft.«

Teufelchen: »Und du weißt sehr gut, dass Rosi keinen Bock darauf hat, eine fremde Person in ihrem Haushalt herumspringen zu lassen.«

Und wie soll ich dafür jetzt eine Lösung herzaubern?

Auch so ein Thema. Rosi will partout keine Pflegehilfe im Haus haben. Mal sehen, wie weit ich mit dieser Fragestellung bei Rosi während meines Urlaubs komme. Mir fällt ein Satz von Rosi ein: »Das Gemeine an der Parkinson-Krankheit ist, dass das Gehirn alles mitbekommt, aber der Mund nicht mehr so schnell antworten kann.« Großhirn an Nervenende. O-Ton Rosi: »Wie oft habe ich in letzter Zeit zu anderen Leuten gesagt: ›Friedrich ist langsam, aber er ist nicht doof im Kopf!‹«

Die heutige Welt, die sich in hoher Geschwindigkeit bewegt, hat keine Geduld mehr. Ich stelle mir vor, dass Friedrich und Rosi vor mir als Fremde in der Kassenschlange im Supermarkt stehen und eine Ewigkeit brauchen, um ihre Einkäufe auf das Rollband zu legen. Auch ich würde genervt auf meine Armbanduhr schauen und mich fragen, warum die beiden Alten jetzt ausgerechnet zum Feierabendverkehr einkaufen gehen müssen. Rücksichtnahme gehört nicht mehr zu den tieferen Werten dieser Gesellschaft. Langsamkeit verlangt von den anderen Geduld. Vor allem vom Lebenspartner, der die meiste Zeit mit dem Langsamen verbringt.

Ich muss grinsen. Rosi und Geduld, das passt zusammen wie Feuer und Wasser.

Teufelchen: »Ist es nicht paradox, dass ausgerechnet Rosi von anderen Leuten Geduld verlangt?«

Rosi würde bestimmt als Erste den Titel »die Ungeduldige« bekommen. So, wie Arthur es geschildert hat: Bei den Telefonaten hat Rosi Arthurs Fragen an Friedrich schon dreimal beantwortet, bevor Friedrich auch nur Luft geholt hat. So ist Rosi schon immer gewesen. Sie weiß alles besser, will überall mitreden und tut es auch.

Mein Morgenkaffee drückt inzwischen auf meine Blase. An der nächsten Raststätte fahre ich ab. Der Kilometerzähler sagt mir, dass ich die Hälfte der Strecke geschafft habe. Wie immer tut mir mein Rücken weh und erinnert mich daran, dass ich selbst nicht mehr zwanzig bin. Mein Lebenswandel ist ein Desaster, und die vielen Kilometer auf der Straße sind nicht unbedingt das, was ich mir für mein Leben vorgestellt habe.

Mein Blick fällt auf die Plüschschlange, die immer noch auf dem Dashboard sitzt. Mich überfällt erneut ein Gefühl des Unbehagens. Ich bin im Laufe der Jahre eigentlich der Meinung gewesen, ich hätte mich von meiner Kindheits- und Jugendzeit und damit von Rosi und Friedrich gelöst. Offensichtlich funktioniert das aber nicht mehr, denn sonst würde mir alles am Hintern vorbeigehen, und ich wäre nicht zuständig. So wie Dagmar und Jens. Warum bin nun ausgerechnet ich diejenige, die Arthurs und Susannes Hilferuf so ernst nimmt und sich jetzt auf dem Weg zu Rosi befindet, um wirklich einmal nachzusehen, wie es Rosi und Friedrich im Alltag so ergeht? Früher oder später wird Friedrich gar nicht mehr gehen können. Wie kommt Friedrich eigentlich damit klar? Er kämpft nun im Krankenhaus darum, das Gehen mit der künstlichen Hüfte zu lernen. Aber für wie lange?

Engelchen: »Also, es ist doch eigentlich ziemlich klar, was du tun musst, Anja. Zum Beispiel Mit Rosi in die Sozialstation des Krankenhauses marschieren, um herauszufinden, wie man an einen Treppenlift, einen Rollator und an einen Rollstuhl kommt.«

Friedrich muss irgendwie in den ersten Stock kommen, denn dort sind das Schlafzimmer und das Badezimmer. Und Friedrich darf nie wieder die Wendeltreppe zum Dachgeschoss erklimmen.

Endlich kurve ich erneut in Braunschweig ein. Ich habe das gleiche Hotel gebucht wie kurz zuvor zu unserem Familientreffen. Ich habe früh genug gebucht, und so kostet es nur 80 € pro Nacht. Das sind 400 € für diese Woche. Ja, das ist viel Geld. Aber ich kann und will nicht mehr in dem Haus meiner Kindheit übernachten. Ich bin zu müde, um mich Rosi anzupassen und um sechs Uhr morgens aufzustehen. Ich will nicht um 19 Uhr schon schlafen gehen müssen, weil Rosi müde ist. Ich muss atmen können. Und das kann ich nicht in diesem Haus, in dem mein ehemaliges Kinderzimmer zum Hort von Büchern und Papieren geworden ist.

Beim Familientreffen habe ich schon festgestellt, dass der sich dem Hotel schräg gegenüber befindliche Schlosspark einem modernen Einkaufszentrum gewichen ist. Der Schlosspark, in dem sich damals Horden von Abiturienten zur Abi-Feier getroffen und sich am helllichten Tage mit Alkohol vollgeschüttet haben. Das war in den 80er Jahren und ist nicht zu vergleichen mit den heutigen Druckbetankungen von Jugendlichen. Wir wurden immerhin langsam und rechtschaffen betrunken. Mit der modernen Einkaufsmall hatte ich abends zumindest die Möglichkeit des Shoppens direkt vor meiner Nase. In der Dunkelheit leuchtet die Mall mit Werbungsbeleuchtung in allen möglichen Farben. Ich freue mich, dass das Tageslicht seit dem 21. Dezember ca. eine bis anderthalb Minuten pro Tag in die Verlängerung geht. Ich bin eher der Typus, der Licht und Wärme benötigt.

Auch heute Abend habe ich Glück: Es ist auch wieder ein Platz für mein Auto auf dem Hotelparkplatz frei. Das ist der Nachteil der Innenstadt; die Parkplätze sind nicht in epischer Breite vorhanden, und die Alternative wäre, in einem versifften Parkhaus in der Nähe zu parken und möglicherweise Gestalten zu begegnen, denen ich auch bei Tageslicht nicht gern begegnet wäre.

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