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Mein Job und immer wieder Rosi

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Als ich wieder in Braunschweig bin, fühle ich mich besonders angestrengt und habe den Grund dafür schon fast vergessen. Die Fahrt hat mich total erschöpft, aber ich habe die Erschöpfung weggelächelt. Rosi hat es auch noch nicht aufgegeben, mir vorzuhalten, wie teuer Hotelübernachtungen sind. Ich denke dann kurz über Rosis Realitätssinn nach und stelle mir vor, ich dürfte im staubigen Dachgeschoss übernachten, nachdem wir ein paar Bücher weggeräumt haben. Oder im alten Kinderzimmer von Jens. Im Nordzimmer. Rosi würde spätestens um fünf Uhr morgens aus dem Bett im Schlafzimmer nebenan fallen. Ich stehe auch im Hotel früh auf, ja. Aber ich brauche auch den Abstand zu Rosi, ich brauche es, abends einfach gehen zu können.

Und so ist es dann auch bei diesem Besuch. Ich schaue kurz auf die Uhr, nachdem ich im Hotel eingecheckt habe. Ich bin gleich nach der Arbeit am heutigen Freitag recht früh um 17 Uhr schon losgefahren, jetzt ist es 21 Uhr. Ein guter Schnitt bei all den Pendlern und damit fast immer Staus auf den Autobahnen. Michael bekommt wieder eine kurze SMS, dass ich gut angekommen bin. Ich bin zu erschöpft, um noch etwas essen zu gehen, und werfe mich nach einer Dusche gleich ins Hotelbett. Die Impfungen … Im Halbschlaf erscheinen sie mir wieder. »Willkommen bei uns, Frau Raab!« Der Betriebsarzt.

Die betriebsärztliche Eingangsuntersuchung habe ich hinter mir.

»Fliegen Sie demnächst in asiatische Länder?«

Ja, so ist der Plan.

»Gut, dann machen wir Impfungen gegen Tollwut, Hepatitis A, B und C, Tetanus-Auffrischungen, Röteln und Windpocken.« Ich habe die ersten Impfladungen bekommen, und sie fühlen sich an wie Dröhnungen.

Die Assistentin hat gesagt: »Bitte machen Sie im Moment keine anstrengenden Tätigkeiten und vor allem keinen Sport«.

Da besteht keine Gefahr, dazu habe ich momentan überhaupt keine Zeit. Was mir im Übrigen nicht sonderlich gefällt, da ich früher immer gerne Sport getrieben habe. Ob mit Schonung auch gemeint war, dass ich solche anstrengenden Wochenendausflüge zunächst meide? Ich weiß es nicht und falle in einen tiefen Schlaf.

Erfreulicherweise hat die Druckerinstallation durch IT-Crack Thomas geklappt. Der Drucker ist nun über ein LAN-Kabel mit dem Netzwerk verbunden, und wir können sowohl vom Laptop als auch vom alten XP-Rechner aus endlich drucken (falls Friedrich das später wunschgemäß tun will). Darüber hinaus ist der XP-Rechner aber sicherheitshalber vom Internet abgekoppelt. Absolut cool, Thomas hat genau das gemacht, um was ich ihn per Mail gebeten hatte. Wir haben uns einige Male per E-Mail ausgetauscht, und so kam es auch, dass Thomas mich auf eine weitere Idee brachte. »Wenn du so weit weg wohnst: Warum installierst du nicht auf deinem und auf Rosis Laptop eine Software, mit der du von deinem Laptop aus auf Rosis Laptop zugreifen kannst?«, schrieb er.

Ich habe mir mit der flachen Hand an die Stirn geschlagen. Natürlich! Das ist eine hervorragende Idee! Warum bin ich nicht selbst daraufgekommen? Manchmal ist es echt komisch. In meinem beruflichen Alltag arbeiten wir jeden einzelnen Tag mit solchen Methoden, um Meetings abzuhalten und die Sicht auf den Bildschirm zu teilen. Rosi würde sich zwar nie allein an ihren Laptop trauen, aber ihn starten und dann den von mir ausgewählten Team Viewer zu starten, das würde schon klappen. Der Team Viewer ist kostenlos und simpel zu bedienen. Ich installiere also auch auf Rosis Laptop den Team Viewer und erkläre ihr alles. »Du musst mir dann am Telefon den Pass-Code sagen, der bei dir erscheint. Erst dann kann ich auf deinen Laptop zugreifen. Und zwar nur ich, weil ich dann die Verbindung zu dir habe.«

Rosi nickt und zeigt sogar ihre Erleichterung. »Dann können wir jetzt jeden Sonntag bei unserem Telefonat auf die Kontenstände schauen!«

Es ist an mir, nun auch zu nicken.

Da ich aber gerade wieder vor Ort bin, schauen wir natürlich erneut gemeinsam auf die Online-Portale von Friedrichs und Rosis Bankkonten. Rosis anfängliches Misstrauen (freundlicher ausgedrückt: ihre Wachsamkeit) mir gegenüber beim Sichten der Kontenstände scheint sich langsam zu legen. Ich glaube, es ist ganz wichtig für sie, dass ich in Bezug auf die Höhe der Beträge genauso Desinteresse gezeigt habe wie auch hinsichtlich der Konto- oder PIN-Nummern. Ich habe gar nicht den Ehrgeiz, mir so etwas zu merken.

Nach dem Sichten der Kontostände kümmere ich mich um die Schreiben an die Krankenkasse und die Versicherung, während Rosi sich bereits wieder in die Küche im Erdgeschoss abgeseilt hat. Bei einer meiner üblichen Raucherpausen draußen auf dem Fußweg vor dem Haus treffe ich auf Daniel und Elsa. Ich weiß über die beiden nicht viel und kenne sie eigentlich nur aus den Erzählungen von Rosi am Telefon. Daniel und Elsa sind ungefähr so alt wie ich, vielleicht ein bisschen älter. Rosi hat geschwärmt, dass Daniel im Winter schon morgens um 6:30 Uhr auch vor ihrer Haustür den Schnee weggeschippt hat. Rosi erzählte auch, wie Daniel, Elsa, Dietmar und Rosi im Herbst gemeinschaftlich die lange Hecke um Rosis und Friedrichs Grundstück geschnitten haben. Also eine echt tolle und hilfsbereite Nachbarschaft. Daniel und Elsa haben vor einigen Jahren das Haus vom Kinderschreck gekauft. Der Kinderschreck hat das Haus verkauft, als dessen Frau gestorben ist. Wir Kinder hatten fast schon Angst vor ihm, denn er brüllte uns schon laut an, wenn wir bloß an seiner Haustür vorbeiliefen. Ein knurriger alter Sack. Seine Frau war für uns noch schlimmer, eine richtige Hexe.

Daniel und Elsa Bremer kommen scheinbar gerade vom Einkaufen, und ich grüße wie immer freundlich. Daniel bleibt stehen und mustert mich neugierig. Die Neugierde finde ich verständlich, denn erst bin ich lange Zeit gar nicht aufgetaucht und nun bin ich schon wieder hier. »Sie sind jetzt ganz schön häufig hier, nicht wahr?«

Ich nicke lächelnd. »Ja. Wird Zeit, dass jemand von uns Kindern die beiden unterstützt.« Mit dem Daumen deute ich hinter mich auf das Haus.

Daniel nickt seinerseits und sieht mich dabei aufmerksam an. »Die Frage steht mir eigentlich nicht zu, aber ich wundere mich, warum ausgerechnet Sie diejenige sind, die das jetzt tut.«

Ich gebe zu, diese Frage überrascht mich.

Engelchen: »Vermutlich hat sich rumgesprochen, dass du mit 17 Jahren etwas holprig ausgezogen bist – wenn man das so nennen kann. Das bedeutet, dass die Nachbarschaft immer noch über so was redet und auch die zweite Generation das weiß. Interessant.«

Daniel merkt, dass er sich quasi verraten hat und fühlt sich zu einer Erklärung genötigt: »Ich habe gehört, dass Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern nicht das Beste ist. Von daher finde ich es wirklich spannend, dass ausgerechnet Sie nun so oft unterstützen. Ich hätte eher Ihre Geschwister hier erwartet. Ich verstehe es halt nicht.« Er zuckt die Schulter. »Nichts für ungut, es geht mich nichts an.«

Stimmt. Aber es stört mich nicht weiter, da ich mich selbst auch über mich wundere.

Mangels Alternativen bleibt mir wohl auch gar nichts anderes übrig. Dagmar mit ihrer Haltung »Was ist denn anders als vor Friedrichs Krankenhausaufenthalt?« und Jens … Jens hat mit sich selbst genug zu tun. Ich trete die Kippe auf dem Gehweg aus und sammele sie sorgsam in einer Ecke, wo ich nachher vor der Abfahrt alle Kippen in die Restmülltonne werfen werde. Mit meinem eigenen Schlüssel schließe ich wieder die Haustür auf und muss unweigerlich daran denken, dass es Zeiten gab, in denen ich keinen Schlüssel gehabt habe. In mir dröhnt wieder die Vergangenheit. Als Rosi mir den Schlüssel nach meinem Auszug weggenommen hat. Das fühlt sich auch heute nicht besser an als damals.

Ich höre Rosi in der Küche werkeln und hoffe inständig, dass sie nicht erneut Gulaschsuppe für uns erwärmt. Ich bleibe kurz im Flur stehen, der mir den Blick auf das Treppenhaus zum ersten Stock freigibt. Der Blick wandert im Treppenhausschacht schnurstracks nach oben bis hin zur Decke des ersten Stocks. Dort oben thront sie, die Ankerkugel, mit der ich groß geworden bin und die ich dann gar nicht mehr wahrgenommen habe. Sie baumelt seit vielen Jahrzehnten von der Decke und erinnert mich gerade jetzt erneut an meine Kindheit. Familie Hartmann (Rosi, Friedrich, Dagmar, Jens und ich) ist in Dänemark in Urlaub gewesen. Wir Kinder haben mit Friedrich einen Strandspaziergang gemacht, und Friedrich hat das eiserne Ungetüm als Erster entdeckt. Es war an den Strand gespült worden. »Sieht aus wie eine Ankerkugel eines Schiffes«, hat Friedrich gesagt. Er wollte diesen Fund unbedingt bergen, holte unser damaliges Auto – einen quietschgelben Volvo, den man nach Friedrichs Aussage wegen der Farbe auch im Nebel gut erkennen konnte. Friedrich rangierte den Kombi rückwärts an den Strand (das durfte man damals noch), und wir luden mit vereinten Kräften das Ungetüm in den Kofferraum. Über eine Zulade-Erlaubnis hat sich damals noch niemand Gedanken gemacht. Die Stoßdämpfer gingen eine halbe Etage tiefer, aber am Ende des Tages ist das Ungetüm bei uns zu Hause gelandet.

Und dann hat Friedrich die damals schon alte Holzleiter geholt, sie kippelig auf die Treppenstufen gestellt und die Bohrlöcher in die Decke geschmettert, um diese Kugel aufhängen zu können.

Die Kugel hängt da immer noch genauso, wie es immer noch die noch älter gewordene Holzleiter gibt. So eine Holzleiter, die man vom I (im zusammengeklappten Zustand) zu einem A auseinanderklappt.

Wenn jemals diese Kugel oben von der Decke aus der Verankerung reißen würde, würde sie mit ihrem Gewicht auch die steinernen Treppenstufen der Treppe durchschlagen – und wehe, irgendjemand stünde in dem Moment da drunter.

Rosi steht auf einmal im Türrahmen der Küche und schaut zu mir herüber, wie ich da im Flur herumstehe. »Essen ist fertig«, sagt sie und schaut mich weiter an.

»Ich habe mir gerade die Ankerkugel da oben angeschaut. Wie wollen wir die eigentlich jemals wieder von da wegbekommen?«, frage ich.

Rosi zuckt nur mit den Schultern und holt die aufgewärmte Gulaschsuppe.

Rosi hin oder her, es ist für mich immens wichtig, mich in meinen neuen Job einzuarbeiten und mich an meine neue Umgebung zu gewöhnen.

Erfreulicherweise beginnt immer mehr die hellere Jahreszeit. Der graue Winter weicht endlich den ersten sonnigen Frühlingstagen.

Inzwischen ist es Mai geworden, Friedrich ist immer noch im Krankenhaus, weil sich der Beginn der Reha aufgrund von Komplikationen mit der Versicherung weiter hingezogen hat. Ich persönlich finde das sogar gut, denn der Treppenlift soll bereits eingebaut sein, wenn Friedrich dann von der Reha nach Hause kommt. Bis jetzt ist er noch nicht eingebaut.

Ende April hat Rosi mich mit einer guten Nachricht angerufen: »Es geht weiter mit dem Treppenlift. Sie produzieren schon.« Vielleicht schaffen wir es ja vor Friedrichs Heimkehr …

»Das glaubst du doch selbst nicht.«

Danke für deine aufmunternden Worte, Teufelchen. Ich gähne verhalten hinter der Hand, während ich nach einem langen Arbeitstag einmal wieder ziemlich spät meine Werkswohnung ansteuere und auf dem Heimweg beim Rewe anhalten will, um meinen notdürftig gefüllten Kühlschrank in der Werkswohnung etwas aufzufüllen. Rosi scheint mehr und mehr zu verstehen, dass ich werktags nicht jederzeit an mein Smartphone gehen kann, auch wenn ihr etwas vermeintlich Wichtiges einfällt. Ich kann nicht Moderatorin eines Workshops sein und zehn Leute um mich herum einfach sitzen lassen, wenn Rosi mir plötzlich etwas berichten will. Sie wartet also bis zum Abend und ruft dann durch. Sie wartet sogar bis mindestens 19 Uhr. Eine Uhrzeit, um die sie in ihrem Leben als Rentnerin zuvor schon mit Friedrich ins Bett gegangen ist. Damals, als ihre Welt wenigstens noch halbwegs in Ordnung gewesen ist.

Ich parke auf dem Parkplatz vor dem Rewe und gehe im Kopf meine Einkaufsliste durch. Die ist ziemlich simpel: Klopapier, Kaffee, Eier, Milch, Dosensuppe, Paprika und Toastbrot. Mit vortrefflicher Zielsicherheit klingelt mein privates Smartphone, sobald der Motor aus ist. Rosi. Ich kann nicht hören, dass sie zuversichtlich klingt, obwohl sie etwas Zuversichtliches sagt: »Nächste Woche kommt der Monteur und bringt den Treppenlift an. Übernächste Woche kommt Friedrich nach Hause. Dann schaffen wir das mit dem Lift ja doch noch rechtzeitig.«

Das ist doch prima, oder nicht?

»Ich hoffe, ich störe dich nicht. Wo bist du denn gerade?«

Soll ich lügen? Nein. »Ich parke gerade auf dem Parkplatz eines Ladens, um noch schnell was einzukaufen.«

»Oh, ich kann dich auch später anrufen.«

Nein. Es ist nach 19 Uhr, und wenn ich den Einkauf erledigt habe, will ich einfach nur abschalten. »Es ist okay, Rosi. Ich sitze im Auto. Was gibt es sonst noch?«

Als ich auflege, sehe ich neue E-Mail-Nachrichten auf meinem Display. Auf die paar Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an. Ich tippe mit meinem Finger auf das Postfach und sehe einfach nur, dass sich das Elend mit meinem Versuch, die 10.000 Euro Reisekosten zurückerstattet zu bekommen, weiter hinzieht. Ich könnte kotzen! So rächt es sich, dass ich in meinem Zweitdomizil keinen Internetanschluss habe. Diesen nun zum Teil 40-seitigen E-Mail-Verkehr kann ich unmöglich mit dem Handy bewältigen.

Bin ich am Wochenende nicht bei Rosi, versuche ich in Kaiserslautern weiterhin kämpferisch, an meine Kohle zu kommen. Inzwischen gibt es einige parallele E-Mail-Ketten, die sich allesamt im Kreis drehen. Mein Ex-Chef unterstützt mich wenigstens weiterhin, aber irgendwie ist es zum wahnsinnig werden. »The given personal code is not available.«

Ja. Gelöscht. Schon wieder dieser Dumm-Text. Ich versende unermüdlich meine Reisekostenforderungen an verschiedene Adressen.

»Wie konnte das passieren?«, fragt mich mein Ex-Chef.

Ich weiß es. Der egozentrische Projektleiter Bernhard hat die Genehmigungen der Abrechnungen ausgesessen. Vielleicht wollte er mir damit eins auswischen. Falls ja, so ist es ihm gelungen.

Ich schleppe dann doch irgendwann meine Einkäufe in die Mansarde und ecke erneut an der hölzernen Steige zur Küche an.

Am liebsten hätte ich die Einkaufstüten einfach fallen lassen und zugesehen, wie die Eier am Boden unter mir zerschellten und die Paprika sich selbst in kleine Stücke zerteilte. Gemischt mit dem Toastbrot.

»Wovon ernährst du dich eigentlich gerade?« Da ist Engelchen auch einmal wieder.

»Jeden Abend von zwei gekochten Eiern. Das weißt du doch.« Danke, Teufelchen.

»Ist das nicht ungesund?«, erwidert Engelchen.

Ist es auch ungesund, ein Sudoku zu lösen und das Hirn abzuschalten? Irgendetwas stimmt gerade mit meinem Leben nicht. Ich wäre ein Kandidat, der sich vermutlich gerade über die Work-Life-Balance echauffieren sollte. Das, was in meinem Leben gerade nicht stimmt, das ist die Fremdbestimmung. Es ist meine persönliche Übermüdung, in der aber jeder immer noch glaubt, Ressourcen von mir beanspruchen zu müssen. Rosi. Mein Job. Michael. Ich selbst bin weg vom Fenster. Das Einzige, was mir gehört, ist der zu kurz kommende Schlaf. Vielleicht noch meine Sudoku-Rätsel mit dem morgendlichen Kaffee.

Die Besuche bei Rosi werden offensichtlich ein fester Bestandteil meines Lebens und auch ein fester Bestandteil von Rosis Anspruchshaltung dazu. Menschen gewöhnen sich sehr schnell an etwas und denken dann, dass sie das auch weiterhin so erwarten können.

Bereits bei meinem letzten Besuch bei Rosi hat sie mir eingehend alle Diplomatenköfferchen gezeigt. Ich habe es schon gesehen, unter den Lamellen vor dem Regal hinter der Dachgeschosstreppe hat sich nicht nur das rote Köfferchen befunden – das mit dem roten Ordner für die Bankdaten. Irgendwie schien es ihr wichtig zu sein, dass ich Bescheid wusste. »Die Zahlenschlosskombinationen sind bei allen Köfferchen gleich. Die Geburtstagsdaten deines Vaters.«

Teufelchen hat gefragt: »Warum nicht die von Rosi?«

Der rote Koffer scheint der Wichtigste zu sein. Neben dem roten Ordner enthält er das Familienstammbuch und jeweils die notariell verfassten Patientenverfügungen von Friedrich und Rosi mit gegenseitiger Bevollmächtigung zu entscheiden, wann Maschinen zur künstlichen Lebensverlängerung abgeschaltet werden sollen. Michael und ich sind aus diesem Grund auch vor Jahren zu einem Notar marschiert.

»Da ist auch der Erbschein drin«, hat Rosi dann noch gesagt.

Vor sehr vielen Jahren hat Rosi erzählt, dass Friedrich und sie zu einem befreundeten Notar gegangen sind. Dr. Bernikow. Sie haben ein notariell beglaubigtes Testament aufgesetzt, und danach ist Dr. Bernikow in hohem Alter verstorben. Lange bevor sie die Patientenverfügung veranlasst haben.

Ich kann mich wohl endgültig von meinem Glasglockenleben verabschieden. Rosi sagt und zeigt mir das alles, weil sie weiß, dass das Leben endlich ist. Michael und ich haben seit einigen Jahren auf unserer Aufgabenliste, ebenfalls ein notariell beglaubigtes Testament aufzusetzen. Mit dem Begriff Erbschein verwirrt Rosi mich aber. Ich weiß nicht, was das ist. In meiner Vorstellung liegt das Testament selbst im roten Köfferchen. Dem ist aber nicht so. Ich schiebe das Thema beiseite, im festen Glauben, dass ich dieses Wissen noch lange nicht brauchen werde.

In einem der schwarzen Diplomatenköfferchen verwahrt Rosi ihre Erinnerungen an ihre Wurzeln. Rosi und Friedrich stammen noch aus der Generation, die als kleine Kinder den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben. Rosis Mutter Erna musste damals ihre fünf Kinder schnappen, als der Russe immer näherkam. Sie sind auf einem Lkw geflüchtet, der noch mit Holz befeuert werden musste. Sie haben in Ostpreußen mit wenig Gepäck Hof und Gut verlassen, dafür aber mit allem Schmuck, den sie auf die Finger ziehen konnten. Wie sie den Schmuck in Zeiten der Plündereien durchgebracht haben, hat Rosi auch nie erzählt. Den wenigen Erzählungen nach war Rosis Klunker auf ihrem Ringfinger so wertvoll, dass sie sich davon ein Auto kaufen konnten. Es war ein weißer Ford Taunus.

»Keinen Volkswagen oder so etwas wie Kraft durch Freude?« Teufelchen ätzt wie immer.

Damals gab es noch nicht so viele Autos, das war Ende der 60er Jahre. Und unter den Fahrern gab es nur wenige Frauen, die hinter dem Steuer saßen.

Ich erinnere mich an die breite Doppelgarage unten an der Mietwohnung, bevor wir in das eigene Haus gezogen sind. Friedrich ist jahrelang mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren, und Rosi hat das Automobil bewegt. Sie hat uns Kinder in den Kindergarten gefahren, zu unserem Musikunterricht, und sie hat mehrfach beim Einparken in die breite Garage den Außenspiegel abgefahren. Das muss man erst einmal schaffen; die Garage war breit wie ein Scheunentor.

Später, als wir in unserem Haus wohnten, hat Friedrich die Fahrerei übernommen, und Rosis Routine im Autofahren wurde immer schlechter. Da war ich aber schon neun Jahre alt und fuhr lieber mit dem Schulbus als mit Rosi.

In dem Köfferchen ist auch eine günstig eingebundene Blattsammlung in der Größe DIN A5, die die gedruckten Erinnerungen an Ostpreußen von Rosis Mutter Erna beinhaltet. Immerhin drei Zentimeter dick und doppelseitig bedruckt. Ich habe Rosi nicht gesagt, dass der Inhalt des Koffers leicht modrig riecht und das Papier vermutlich nach und nach zersetzt werden wird. An die Inhalte der anderen schwarzen Köfferchen konnte ich mich in dem Moment, als der Deckel wieder zugeklappt ist, nicht mehr erinnern. Viel eher geht mir immer wieder das in die Höhe gebaute und nicht altersgerechte Haus meiner Kindheit durch den Kopf. Ich sprach das Thema doch noch einmal an: »Rosi, was denkst du? Wäre es nicht besser, das Haus hier zu verkaufen und euch mit dem Erlös in eine altersgerechtere Umgebung einzukaufen?«

»Friedrich und ich möchten unseren Kindern etwas hinterlassen. Aber vielleicht hast du recht. Wenn Friedrich mal nicht mehr da ist, wird es vielleicht so sein. Ich verkaufe das Haus und kaufe mir etwas in deiner Nähe.«

Teufelchen: »Ist das jetzt ein Scherz? Rosi will in deine Nähe ziehen, Anja? So war das doch nicht gemeint!«

Engelchen: »Sag nichts. Lass Rosi die Hoffnung! Sie muss sich allein auf den Weg der Erkenntnis begeben.«

Das muss sie gegebenenfalls. Ein Umzug in meine Nähe würde nämlich keinen Sinn machen, da ich nur selten da bin, wo Michaels und mein Haus steht. Ob ich Rosis Umzug in meine Nähe wollen würde, brauche ich deshalb gar nicht erst zu überlegen. Das ist absurd, und ich schiebe den Gedanken weit weg von mir. So wird Rosi bestimmt nie glücklich werden. Glücklich im Sinne von entspannt und in ihr selbst ruhend. Rosi dauerhaft in meiner Nähe ist für mich leider unvorstellbar.

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