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Braunschweig

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Die Schranke des Hotelparkplatzes geht hoch, nachdem ich die Klingel an der Schranke gedrückt habe. »Guten Tag, Frau Raab! Schön, Sie wieder zu sehen.« Das Personal merkt sich sehr schnell ein Gesicht zu einem Namen.

Wenn es schlecht für mich läuft, werdet ihr mich noch viel öfter sehen. Schön ist irgendwie anders.

Ich schicke Michael schnell eine SMS, dass ich gut angekommen bin, und erkläre dann den Fußmarsch zum Chinesen gegenüber zum Traditionsbeginn. Knusprige Ente mit Glasnudeln. Dazu ein Weizenbier. Alles wie beim Familientreffen. Allerdings quirlen heute nicht so viele junge Leute um mich herum, denn es ist Sonntag und der Party-Gang schon vorbei. Stattdessen sind es eher junge Paare und Familien, die den Sonntagabend hier ausklingen lassen.

Ich klappere mit meinen Ess-Stäbchen und bin gespannt, wie leer ich den Teller diesmal bekomme.

Für den morgigen Montag haben Rosi und ich einen Termin bei der Sozialstation im Krankenhaus ausgemacht, um uns beraten zu lassen. »Meinst du wirklich, dass du da mitmusst?«, hat Rosi gefragt.

»Wir machen es einfach zusammen. Vier Ohren hören mehr als zwei«, habe ich schulterzuckend geantwortet. Wir müssen einen Aufsetzpunkt finden, einfach anfangen.

Ich bestelle mir ein zweites Weizenbier und schiebe den immerhin zu zwei Dritteln leer gegessenen Teller zur Seite.

Rosi. Rosi und ihre Scheinwelten. Als Rosi eine junge Mutter war, brachen ihre Scheinwelten zusammen, weil ihre Kinder nicht so waren, wie sie es sich vorgestellt hat. Dagmar kam Rosis Vorstellung noch am nächsten, aber ich als Rebellin gegen Rosis Ungerechtigkeiten habe Rosis Scheinwelt schon früh zusammenbrechen lassen. Ich war nicht das brave Mädchen, das ihren Vorstellungen entsprach. Vermutlich bricht jetzt auch der Rest der Scheinwelt zusammen, in der Friedrich sich immer zuverlässig um Rosis finanzielles Wohl gekümmert hat. Wie lange hat Rosi selbst die Lage verschlafen und muss nun viel zu spät begreifen, dass sie sich nun selbst um jeden Schriftverkehr kümmern muss, den sie bislang immer vertrauensvoll in Friedrichs Hände gelegt hat? Mit Friedrichs wochenlangem Krankenhausaufenthalt bricht auch diese Scheinwelt sichtbar zusammen.

Zusammengebrochen ist sie ja schon viel früher. Rosi ist es jetzt, die die Mahnungen für nicht bezahlte Arztrechnungen in den Händen hält. Sie ist es, die dann ins Dachgeschoss klettert, um die Originalrechnung zu suchen – die sie nicht findet. Rosi weiß jetzt, dass ich die Welt im Dachgeschoss gesehen habe – und erzählt endlich in unseren Telefonaten, wie sehr es sie ärgert, wichtige Unterlagen nicht zu finden.

Montag. Erneut wird mir bewusst, dass sich Braunschweig auch mit vielen guten Arbeitgebern zu einer interessanten Stadt gemausert hat. Zumindest interpretiere ich das so, als ich beim Frühstück am Montagmorgen so einige Menschen sichte, die in Business-Klamotten hastig frühstücken.

Ich bin mit Rosi um zehn Uhr verabredet und habe noch jede Menge Zeit. Trotzdem bin ich schon früh aus dem Bett gefallen und sitze lieber in Ruhe stundenlang am Frühstückstisch, als mich im Bett herumzuwälzen. Das gibt mir jetzt die Möglichkeit, unterschiedlichste Klientel zu beobachten. Anfangs die Business-Leute und nach und nach die Rentner, die hier Urlaub machen und ihren nächsten Ausflug planen.

Rosi wäre nicht Rosi, wenn sie nicht um 9:30 Uhr als Anruferin auf meinem Smartphone aufgeleuchtet wäre. Da Rosi nicht mit einer SMS und ganz sicher nicht mit einer WhatsApp-Nachricht umgehen kann (was ihr altes Handy auch gar nicht anbietet), weiß sie nicht, dass ich gestern Abend gut angekommen bin und alles nach Plan läuft. Eine Textnachricht hätte ich schon noch geschrieben, aber ich habe ihr gesagt, ich werde abends bei meiner Ankunft nicht anrufen, um ihren Schlaf nicht zu stören.

Allerdings ist Rosi wieder einmal Rosi und ihre Frage schräg: »Wo bleibst du denn?«

Frau Ungeduld, wir sind um zehn Uhr verabredet. »Rosi, es ist 9:30 Uhr, und ich fahre jetzt los. Ich bin wie geplant um zehn Uhr bei dir.«

»Ah ja, gut. Bis gleich!«

Im Gegensatz zu unserem Familienbesuch im Februar wirkt Rosi nun wieder ein bisschen besser auf mich. Wie immer bei meinen Besuchen hat sie offensichtlich schon gewartet und reißt gut gelaunt die Haustür auf. Sie hat eine Idee, die sie mir sofort entgegenschmettert: »Ich weiß, wie wir das alles jetzt machen! Du bringst mir das Computern bei, und ich übernehme alles: den Schriftverkehr, das Online-Banking und die Sache mit den E-Mails.«

Teufelchen: »Sie hat noch nie mit einem Computer gearbeitet!«

Engelchen: »Hat sie nicht vor ein paar Jahren mal stolz erzählt, sie hätte ihren Stammbaum am Computer erstellt?«

Teufelchen: »Ich weiß nicht. Das war das einzige Mal, dass Rosi so etwas gesagt hat. Und gesehen habe ich den Stammbaum nur handschriftlich auf Papier.« –

Engelchen: »Es ist einen Versuch wert. So schwer ist das ja nicht.«

Mir kommt die Reklame in den Sinn, in der eine ältere Dame hektisch ihren Enkel anruft. »Hilfe, Hilfe, ich habe das Internet gelöscht!«

Aber es ist einen Versuch wert, und ich finde es richtiggehend gut, dass ich Rosi in meiner Urlaubswoche den Umgang mit dem Computer beibringen soll.

Wir machen uns am Nachmittag auf den Weg zu unserem Termin in der Sozialstation, und ich sehe, dass es Rosi nun doch ganz recht ist, dass ich sie in mein Auto verfrachte und zu diesem Termin kutschiere. Sie nestelt nervös an den Henkeln ihrer Handtasche herum. Rosi hätte das am liebsten schon alles erledigt.

Schließlich sitzen wir vor dem Zimmer des Sozialpflegedienstes auf den üblichen spartanischen Krankenhausstühlen und warten. Ich habe Zeit genug, Rosi heimlich von der Seite zu betrachten. Sie macht einen angespannten, verschüchterten und fast verzagten Eindruck. So kenne ich Rosi gar nicht. Sie gilt eher als die kompetente Frau, die für alles immer eine Lösung parat hat. Vielleicht gilt das aber nur für Bereiche, in denen sie sich auskennt. Und hier und jetzt betreten wir beide eine Zone, in der wir uns eben nicht auskennen und somit beide unsere Komfortzone verlassen müssen.

»Ich bin jetzt doch froh, dass du mitgekommen bist«, flüstert Rosi mir in dem Moment zu, als die Tür aufgeht und wir ins Zimmer kommen sollen. Da das, wie gesagt, absolut nicht mein Hoheitsgebiet ist und ich mich eher wie im Tal der Ahnungslosen fühle, habe ich mich natürlich vorher im Internet pseudo-schlau gelesen, aus meinen Erkenntnissen eine Liste gebastelt und mich jetzt mit dieser Liste »bewaffnet«.

Antrag und Bewilligung der Pflegestufe eins, Voraussetzung für mögliche Pflegekraft oder Pflegegeld, Bezuschussung von Gehhilfen und Treppenlift

Rosis Ernennung zur Pflegerin von Friedrich und der minimalen Kostenerstattung

Treppenlift

zwei Rollatoren

Rollstuhl

Gehhilfen

Über den zweiten Punkt zur Pflege-Übernahme hatte ich mich zuvor am Telefon mit Rosi fast gestritten. »Und du bist dir sicher, dass du mit der Beantragung der Pflegestufe eins nicht doch jemand anderen beauftragen möchtest, Friedrich zu pflegen? Wir könnten das in der Sozialstation mitbeantragen.«

Rosi hat ein paar Sekunden gebraucht, und ich konnte förmlich durch das Telefon riechen, wie sehr sie ihren Ärger darüber zu unterdrücken versuchte. »Nein, es kommt mir keine fremde Person in meinen Haushalt! Das mache ich selbst!«

Komisch, früher hatten wir doch auch eine Putzfrau, die einmal in der Woche ins Haus kam. Zu der Zeit wurden die vielen Bücher immerhin noch sorgfältig abgestaubt. Aber Rosi bleibt dabei. Keine fremde Person in ihrem Haus.

Die Dame vom Sozialdienst sitzt hinter einem großen Schreibtisch und wirkt gehetzt und schlecht gelaunt. Sie blickt genervt von mir zu Rosi und wieder zu mir. Ihr »Was kann ich für Sie tun?« klingt genauso wie »Hoffentlich gehen Sie bald wieder.«

Irritiert brauche ich einen Moment, um für mich festzustellen, was an dieser Dame sozial sein soll. Vielleicht hat sie ja einen Job gewählt, den sie nicht mag, und so kann ich nichts Soziales an ihr finden. Ich zücke meine Liste und lasse mich nicht von ihren bissigen Sätzen beeindrucken. Die Dame tut nämlich in ihren Antworten so, als ob wir grottendämlich seien und jedes Kind besser wisse, wie man medizinische Hilfsmittel zu beantragen hat. Trotzdem spüre ich, wie mein Puls bei den Antworten ein wenig nach oben geht.

Teufelchen: »Was bildet diese Tante sich denn eigentlich ein?«

Engelchen: »Cool bleiben! Unser Hamburger Freund würde jetzt sagen: ›Die soll doch Fahrkarten knipsen gehen, wenn die ihren Job so sehr hasst.‹«

Teufelchen: »Super Idee. Geknipst wurde vor vielen Jahren. Heute hat man eine App und hält das Handy an ein digitales Lesegerät.«

Mit einem Seitenblick auf Rosi registriere ich, dass ihre Wangen bei jeder Abkanzelung der Dame des Sozialdienstes immer mehr glühen. Es strengt Rosi nun richtig an, denke ich. Mich auch.

»Also, wegen der Beantragung der Gehhilfen sind Sie bei mir komplett falsch«, lautet gerade die Auskunft. »Da müssen Sie Frau Klein fragen.«

Wieder mit einem kurzen Seitenblick auf Rosi beschließe ich erneut, ruhig und bestimmt zu bleiben. »Ist das die Frau Klein, die meinen Vater oben in der Geriatrie betreut?«

»Ja, natürlich. Was dachten Sie denn?«

Was ich gerade denke? Ich denke gerade, dass mir eine frustrierte ältere Krankenhausangestellte gegenübersitzt, die ihren Job ungern macht und vielleicht tatsächlich besser Fahrkarten knipsen gehen sollte.

Teufelchen: »Die ist nicht wesentlich älter als du, diese alte Frau«.

Rosis Wangen glühen immer mehr, aber ich wiederhole stoisch meine Fragen an die Dame, bis ich glaube, zumindest mal verstanden zu haben, was ich als Nächstes zu tun habe in dem offensichtlich drohenden Antrags- und Formulardschungel. Gehhilfen bei Frau Klein als Notwendigkeit in einem Formular beantragen mit medizinischem Gutachten, diese dann nach Genehmigung bei der Krankenkasse beantragen. Voraussetzung Antrag der Pflegestufe. Beantragen bei der Krankenkasse mit allen medizinischen Gutachten. Begutachtung durch die Krankenkasse, Genehmigung durch die Krankenkasse. Als ich glaube, ich habe verstanden, was ich tun muss, tue ich zufrieden und stehe auf. »Vielen Dank, Sie haben uns sehr weitergeholfen«.

Es ist das erste Mal während des gesamten Gesprächs, dass die »Sozialfee« lächelt. Vermutlich lächelt sie, weil wir im Begriff sind, den Raum zu verlassen. Es ist unglaublich.

»Komm, Rosi! Wenn du keine weiteren Fragen hast, können wir jetzt gehen.«

Rosi hat tapfer auch ihre Fragen gestellt, und ich merke, wie sie selbst verstehen möchte, was wir jetzt tun müssen. Sie sieht mich kurz an und nickt. »Wir können gehen.«

Auf dem Weg nach draußen fällt mein Blick auf Friedrich im Rollstuhl am Ende des Ganges etwa 200 Meter von uns entfernt. Ein Pfleger schiebt ihn gerade in den Lift – entweder zurück in sein Zimmer im zweiten Stock oder zu einer weiteren Behandlung. Er sieht uns nicht. Ich stupse Rosi an und deute auf die Szene.

Rosi schüttelt den Kopf. Sie ist viel zu aufgewühlt, um nach Friedrich zu rufen und kurz mit ihm zu sprechen.

Die Türen des Lifts schließen sich nahezu geräuschlos hinter Friedrich und dem Pfleger. Wir werden Friedrich morgen besuchen und ihm vom heutigen Nachmittag berichten. Nicht heute.

Als wir an meinem Auto stehen, bricht es wütend aus Rosi heraus. »Was für eine unfreundliche Person! Jetzt bin ich doch echt richtig froh, dass du mitgekommen bist. Allein hätte ich das gar nicht ertragen! Wie kannst du dabei nur so ruhig bleiben?«

Ich lächele und werfe erneut einen kurzen Seitenblick auf Rosi. Rosi, du warst es, wegen der ich schon in jungen Jahren gelernt habe, meinen Zorn, meine Wut, meine Enttäuschung und meine Trauer hinter einer Mauer zu verbergen. Erinnere dich. Je lauter du mich angebrüllt hast, desto kühler wurde ich. Du hast gebrüllt, und ich habe dich arrogant angesehen und geschwiegen. Und du hast umso lauter gebrüllt, bis ich einfach gegangen bin.

Während ich die Autotür öffne, sage ich: »Diese Frau hat mich genauso aufgeregt. Sie ist eine echte Zicke, aber ich glaube, ich weiß trotzdem, was wir jetzt tun müssen.«

Es ist Dienstag. Als ich am Dienstagmorgen auf den Garagenhof einbiege, mein Auto parke und die Hand zur Klingel an der Haustür ausstrecke, hat Rosi die Haustür wie gewohnt schon längst aufgerissen. Heute Vormittag ist erst einmal der Plan, Friedrich im Krankenhaus zu besuchen. Rosi befindet sich bereits in voller Montur und ist abfahrbereit für den Besuch im Krankenhaus. Wird Rosi von dem unerfreulichen Auftritt der Dame in der Sozialstation bei Friedrich berichten? Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Ich werde schweigen und Rosi die Entscheidung überlassen. Ich vermute, dass Rosi auch schweigen wird.

Wir nehmen im Krankenhaus den Lift nach oben in den zweiten Stock zu Friedrichs Zimmer. Es ist leer. Ich sehe wieder mit einem Seitenblick, wie entsetzt Rosi darüber ist. Oder besorgt?

Engelchen: »Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass Rosi sich nur wohlfühlt, wenn sie alles unter Kontrolle hat?«

Teufelchen: »Hat sie hier aber nicht. Geht nämlich nicht.«

Ich lehne noch am Türrahmen von Friedrichs geöffneter Zimmertür und sehe, wie Rosi über den Flur läuft, um Friedrich zu finden. Ich spüre Rosis bedingungslose Zugehörigkeit zu Friedrich und Friedrichs Arroganz, das als selbstverständlich zu erachten. Friedrich hat erst sehr spät gelernt, dass er um Rosi kämpfen muss, als Rosi ihm eine sprichwörtliche Keule vor den Kopf gehauen hat. Sie hat getobt und geweint und eine Szene nach der anderen hingelegt. Damals, als sie wegen ihres Bandscheibenvorfalls so lange im Schlafzimmer gelegen hat und die Familie zu gut ohne sie klargekommen war. Damals hat sie Friedrich angedroht, ihn zu verlassen. Friedrich hat nicht wirklich um Rosi gekämpft, er hat Rosis Widerstand besänftigt. Danach hat er sich anscheinend in meiner Wahrnehmung mehr Mühe gegeben.

Ich schaue kurz zur Seite. Wie berechnend ist Friedrich jetzt in seiner Krankheit, da er weiß, dass er Rosi als seine Pflegerin brauchen wird?

Ich folge Rosi nur mit meinen Blicken, bewege mich dann aber doch ein paar Schritte nach vorne, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.

Rosi entdeckt Friedrich ein paar Meter weiter in der Ecke mit den Tischchen. Er sitzt auf einem der Stühle und rührt genüsslich in seiner Teetasse herum, die ihm eine der Krankenschwestern organisiert hat. Der Krankenhaus-Rollstuhl parkt neben ihm, und er scherzt mit dem Personal. Es ist typisch für Friedrich, aus jeder misslichen Situation immer noch das Beste zu machen.

Als er uns entdeckt, winkt er uns heran und beginnt sofort, von seinen Fortschritten bei den Übungen mit dem Treppensteigen zu erzählen. Friedrich ist normalerweise eher der schweigsame Typus, und sein (den Möglichkeiten bei Parkinson entsprechender) Redefluss zeigt mir, dass es für ihn enorm wichtig ist, wieder Treppen steigen zu können.

Rosi setzt sich neben Friedrich auf einen Stuhl, und ich folge ihr auf einen weiteren Stuhl. Wir berichten über die unseres Erachtens nach wichtigen nächsten Schritte, die wir gestern in der Sozialstation zu allokieren versucht haben.

Friedrich hört uns zwar zu, aber ich habe das Gefühl, dass er wieder einmal eigene Prioritäten hat. Er will den Treppenlift haben, unbestritten, aber für ihn ist es jetzt wichtig, Treppenstufensteigen zu üben. Auch unbestritten. Es erinnert mich aber daran, dass Friedrich schon immer seine eigenen Prioritäten gehabt hat. Es war schon immer so, dass Friedrich seinen Prioritäten gefolgt ist und sich nicht den Notwendigkeiten von Anforderungen unterstellt hat. Das hat bis vor noch nicht allzu langer Zeit immer wieder zu Streit bei Rosi und Friedrich geführt.

Friedrich hat im Haus immer wieder euphorisch Projekte angefangen, dann aber irgendwann die Lust verloren, sie fertigzustellen. Er hat viel angefangen, viel zu Ende gebracht, aber auch viel liegen lassen. Wenn er keine Lust mehr hat, kann er die Welt um sich vergessen, indem er ein Buch in die Hand nimmt, alles andere ignoriert und liest. Ob deswegen alles Angefangene irgendwo im Haus herumliegt, ist Friedrich egal. Auch das ist einer der Streitpunkte zwischen Friedrich und Rosi. Immer schon.

Die Streiterei wegen der Unordnung ist meines Erachtens tatsächlich nötig gewesen. Friedrichs Hang zur Unordnung fing damals im Hobbykeller an, wanderte nach meinem Auszug von zu Hause auch ins Dachgeschoss und versuchte, in allen anderen Räumen ebenfalls übergriffig zu werden. Die Unordnung aus dem Erdgeschoss und dem ersten Stock hat Rosi stets weggebissen. Für meine Begriffe zumindest relativ weggebissen, denn Rosis eigener Hang zum Nippes überforderte mich persönlich schon komplett.

Ich betrachte Rosi und Friedrich in ihrem Zwiegespräch in diesem Krankenhaus, wobei aber eher Rosi redet und Friedrich nur nickt.

Friedrich scheint genug von Rosis Ausführungen zu haben und wendet sich völlig unvermittelt mir zu. »Ich glaube, mich hat die Telefongesellschaft mit unseren Telefonanschlüssen betuppt. Es wäre schön, wenn du dich auch darum kümmern könntest.«

Ich kann mit diesem Satz überhaupt nichts anfangen, frage aber nicht weiter nach. Das ist nämlich genau das mit den eigenen Prioritäten. Ich nehme in dem Moment nur wahr, dass Friedrich wohl einverstanden zu sein scheint, wenn ich die beiden jetzt ein bisschen unterstütze und aushelfe. Ich weiß, dass er mir damit eine wichtige Information geben will, die ihn bedrückt – aber ich verstehe in dem Moment nicht, wieso ein Telefonanschluss wichtiger ist als ein Treppenlift.

Ich nicke also nur.

Friedrich ist in seinem Element. »Ich frage mich auch, ob wir nicht die Versicherung wegen meines Sturzes damals mit dem Oberschenkelhalsbruch kontaktieren sollten. Die Straßen waren glatt, und ich musste ja von der Bordsteinkante abrutschen.«

Ja, Friedrich. Vermutlich musstest du das. Die legitime Frage jeder Versicherung wird aber sein, ob du wegen deiner Parkinson-Krankheit nicht auch ohne Glatteis über die Bordsteinkante gefallen wärst.

»Ich frage mich echt, ob wir da nicht bei der Versicherung einen Fall aufmachen sollten«, sinniert Friedrich weiter. Prioritäten.

Ich werde ganz sicher keinen Fall bei der Versicherung eröffnen. Ich muss heimlich schmunzeln. Einen Fall über den Fall. Welch blödes Wortspiel.

Aber noch etwas bemerke ich. Friedrich will es nicht wahrhaben, dass Parkinson auch seine Motorik und seinen Gleichgewichtssinn stört. Er will denken, dass bei ihm nicht so viel anders geworden ist und ein Sturz jedem anderen auch passiert. Ich habe keine Erfahrung damit, wie ich auf so etwas reagieren soll. Mir zucken Gedanken wie Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung durch den Kopf. Offensichtlich gehört es zum Krankheitsbild Parkinson, dass die Patienten sich selbst sehr viel mehr zutrauen, als es die Umwelt tut.

Rosi muss nach Hause, sie sieht wieder erschöpft aus. Es ist Zeit zu gehen. Auf dem Parkplatz kann ich es mir dann doch nicht verkneifen. »Was hat Friedrich mit dem Telefonanschluss gemeint?«, frage ich Rosi, als wir wieder in meinem Auto sitzen.

Rosi wirft nun mir einen Seitenblick zu und schweigt. Schließlich stößt sie die Luft durch die Zähne. »Das ist jetzt so was von unwichtig.« Sie schüttelt mit dem Kopf. »Du kennst doch Friedrich. Er fängt etwas an und bringt es nicht zu Ende. Friedrich hat irgendwie zwei Verträge mit der Telefongesellschaft abgeschlossen. Er wollte irgendetwas wegen des Internets machen. Also muss ein Vertrag wieder weg. Mehr weiß ich nicht.«

Ich speichere die Information für später in meinem Gehirn ab.

Rosi wirkt immer noch erschöpft, stürzt aber gleich nach unserer Rückkehr in die Küche. »Hast du was dagegen, wenn ich uns ein bisschen Gulaschsuppe erwärme?«

Ich schüttele mit dem Kopf. »Mach dir wegen mir bitte keine Mühe.«

»Wir müssen aber was Warmes essen.«

Wegen mir muss Rosi nicht kochen, denn ich werde heute Abend wieder in der Nähe des Hotels beim Chinesen meines Vertrauens auftauchen. Ein bisschen Gulaschsuppe aufwärmen … Ich stelle mir vor, wie Rosi einen ihrer riesigen Kochtöpfe auf den Herd gestellt und einen literweisen Vorrat an Gulaschsuppe gekocht hat, um sie anschließend in kleinen Portionen in Gefrierbeutel zu füllen. Die Portionen verschwanden dann in den Tiefkühlschrank im Keller, um an Tagen wie heute wieder aufgetaut zu werden.

Rosi wärmt ihre Gulaschsuppe auf und murmelt, dass sie heute zu erschöpft sei, um das Computern zu lernen. Es würde auch noch reichen, es morgen zu lernen.

»Darf ich kurz ins Dachgeschoss gehen, um mich dort nochmals umzuschauen?« Natürlich ist das Dachgeschoss jetzt nicht mehr abgeschlossen wie bei der Familienfeier.

Rosi nickt. »Bring aber nichts durcheinander«, brummelt sie, während sie die sich erwärmende Gulaschsuppe mit dem Kochlöffel durchrührt.

Wie oft bin ich in meinem Leben diese Stufen der hölzernen Wendeltreppe in das Dachgeschoss hochgelaufen? Warum fühlt sich das Hochgehen heute so anders an als früher? Ganz früher oder auch nur im vorletzten Jahr. Ich hatte Ende Februar ja nur einen kurzen Blick ins Dachgeschoss werfen können und einen groben Eindruck gewonnen, wie das Durcheinander dort oben aussah. Jetzt will ich es mir noch einmal in Ruhe ansehen. Vielleicht einfach einmal mit realistischeren Augen ansehen, denn auch damals, vor anderthalb Jahren, haben zumindest Friedrichs Bücher im Dachgeschoss bereits überhandgenommen. Nachdem erst ich und dann Dagmar ausgezogen sind, hat Rosi in Dagmars Zimmer eine Fernsehecke eingerichtet und zwei Gästebetten aufgestellt. Damals habe ich bei meinem Besuch noch in einem dieser Gästebetten übernachtet. Das wäre heute undenkbar. Überall Staub und vor allem überall Bücher – auch auf den Betten. Es stehen überall Kisten und Kartons, und die Bücher sehen so aus, als ob Friedrich sie morgen weitersortieren werde. Überall Bücher. So, als ob nicht schon genug Bücher im gesamten Haus wären. Ich schätze den Gesamtbestand auf circa 9.000 bis 10.000 Stück. Jede Ecke dieses Hauses ist mit einem Bücherregal bestückt, und hier oben im Dachgeschoss liegen sie sogar kreuz und quer herum.

Schön wäre es, wenn das das einzige Problem wäre. Ich betrachte die Mappen und Blattsammlungen näher, die mir im Februar auch schon aufgefallen sind. Auf Tischchen, Kartonstapeln, Stühlen, überall liegen Loseblattsammlungen herum. Rechnungen, Arztberichte, Verträge. Friedrich hat vermutlich seit mindestens 30 Jahren keine Ablage mehr so gemacht, dass man sich da zurechtfinden konnte. Kein Wunder, dass Rosi schimpft, wenn sie eine Mahnung bekommt und die Originalrechnung nicht finden kann. Aber das heißt ja eigentlich, dass Friedrich bis vor dem Krankenhausaufenthalt noch nach hier oben gegangen sein muss …

»Fass bloß nichts an! Im Moment kann mir Friedrich wenigstens aus der Erinnerung sagen, welche Unterlagen ich wo suchen muss. Wenn du das durcheinanderbringst, bin ich aufgeschmissen«, hallen in mir Rosis Worte nach. Es ist niederschmetternd. Das Dachgeschoss ist inzwischen so verwohnt, wie es der Hobbykeller ohnehin schon immer gewesen ist.

Teufelchen: »Na, das kann ja heiter werden.«

Mein Blick streift weiter durch den Raum. Neben einem der Schreibtische, wo auch der XP-Rechner und der Drucker stehen, befindet sich ein Papierkorb, der einige zerrissene Papierseiten enthält. Auf der Schreibtischecke liegen weitere Papierstapel. Auch das sieht so aus, als ob Friedrich morgen wieder hier hochkommen werde, um die Papiere weiter auszusortieren und in den Papierkorb zu werfen. Das wird aber nie wieder passieren. Sicher ist es für Rosi harter Tobak, sich hier jetzt einen Überblick zu verschaffen, vor allem über die notwendigen Dinge wie Rechnungen und Verträge. Die Zeiten sind schon längst vorbei, dass es sich Rosi und Friedrich hier oben gemeinsam vor dem Fernseher gemütlich gemacht haben.

Das Bild verschwindet aus meinem Kopf: Rosi im Schaukelstuhl mit Strickzeug in den Händen, Friedrich auf einem bequemen Sessel beim Nachrichtengucken.

Der uralte Fernseher als Erbstück meiner Großmutter steht immer noch auf diesem Eckschränkchen. Ob der überhaupt noch funktioniert? Ein Niesen wegen des Staubs macht sich in mir breit. Wenn es nach mir ginge, würde ich schon ganz gerne eine Bulldozer-Taktik anwenden und hier einfach Luft zum Atmen schaffen. Wegwerfen, was überflüssig ist. Ich bin schon seit vielen Jahrzehnten keine Freundin davon, alles aufzuheben. Ich bevorzuge es seit jeher, meine Unterlagen in Ordnern mit wiederauffindbaren Beschriftungen auf Rückenschildern in meine Regale zu stellen, sodass sich auch Michael inzwischen blind dort zurechtfindet. Einen Keller zum Ansammeln von überflüssigem Zeug gibt es bei uns nicht, und Michael weiß genau, dass alles, was in unserem Stauraum im Dachgeschoss landet, für mich nicht mehr existiert. Das einzig Existente in unserem Dachgeschoss ist für mich die Steuerungsanlage für unsere Satellitenanlage. Damit kann ich mich identifizieren, ich habe die Sat-Schüssel beauftragt und den Aufbau persönlich überwacht.

Ist mein Grusel-Gefühl in Bezug auf die Ansammlung für mich unnützer Sachen ein Ergebnis meiner Kindheitserfahrungen, obwohl ich schon so früh ausgezogen bin? Zeitgleich mit meinem Beschluss, hier für heute genug gesehen zu haben, höre ich wie in Kinderzeiten Rosis lautes Rufen aus der Küche. »Anjaaa! Essen ist fertig! Kommst du?«

Es ist unbestritten, dass Friedrich sich nicht von einem einzigen Buch in diesem Haus trennen kann, welches er nicht persönlich in Hände geben kann, die es wertschätzen. Friedrich ist jetzt aber im Krankenhaus und wird auch in Zukunft ein bisschen machtloser als früher sein, wenn es um seine Bücher geht.

»Wir werden nicht ein einziges Buch ohne seine Zustimmung entfernen«, lautete Rosis Ansage diesbezüglich.

Natürlich würde ich das nie tun.

»Ich würde gerne wenigstens die Bücher im Dachgeschoss loswerden, aber ich habe Angst, dass Friedrich das ins Grab bringt.« Rosis Meinung, die ich teile und somit akzeptiere.

Rosi hat im Krankenhaus trotzdem den Ansatz versucht: »Friedrich, wir müssen aufräumen! Die Bücher im Dachgeschoss können wir doch einfach wegbringen.«

Friedrich ist daraufhin unruhig geworden, und sein Wissen um seine physische Machtlosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Der Gesichtsausdruck hieß Angst. Es hätte fast Zoff zwischen Rosi und Friedrich gegeben.

Das machte keinen Sinn, und so habe ich als Kompromiss vorgeschlagen: »Wir müssen nur sortieren und können auch ein paar Bücher hinter den Dachschrägen verstauen.« Nie im Leben würde ich persönlich die Bücher hinter Regalwänden im Dachgeschoss verstauen. Aber so, wie die Lage war, galt es, Frieden zu stiften. Es brachte nichts. Ich hatte eine eigene Vorstellung, wie es laufen könnte, aber ich war nur Gast. Und ich würde ganz sicher nicht ändern können, was zwischen meinen Eltern schon immer gelaufen ist. Ich mache deren Probleme nach wie vor ganz sicher nicht zu meinen eigenen.

»Rosi, ich mache mich dann mal auf den Weg ins Hotel.« Wir haben die aufgewärmte Gulaschsuppe gegessen, Rosi hat mir am Nachmittag die vielen Ecken im Haus gezeigt. Ich bin müde und habe in den letzten Monaten zu wenig Schlaf bekommen. Ich habe immer noch keine Meinung darüber, welche Rolle ich hier spielen kann. Rosi und Friedrich haben sich mit dem eigenen Haus einen Traum erfüllt. Es ist zwar »nur« das vordere Reihenendhaus in einer Sechser-Reihenhauskette geworden, aber das ist schon viel mehr, als es andere aus der Nachkriegsgeneration geschafft haben. Ich war beim Einzug sieben Jahre alt, und wir Kinder bekamen in der linken Gartenecke einen Sandkasten, den wir im Sommer so mit Wasser fluteten, dass wir uns eine Fahrt an die Ostsee sparen konnten. Das Bild meiner Erinnerung enthält Rosi und Friedrich in Gummistiefeln, während sie den Garten anlegten. Ein eigenes Zuhause mit vielen Entfaltungsmöglichkeiten für uns Kinder war Rosi und Friedrich wichtig.

Aber jetzt waren die Kinder groß und außer Haus. Das, was blieb, war ein Haus mit nicht allzu großer Grundfläche, das eher in die Höhe gebaut worden war. Diese steilen Treppen! Früher haben Rosi und Friedrich ganz sicher nicht daran gedacht, dass das vielleicht im Alter ein Problem bedeuten könnte. Auch die kurze Überlegung, vielleicht das Erdgeschoss so umzubauen, dass man dort einen Schlafraum einrichten könnte, habe ich schnell wieder verworfen. Selbst, wenn man das täte, würde ein ausreichendes Badezimmer fehlen. Vorne im Flur gleich neben der Haustür ist nur dieses Mikro-Gäste-WC, in dem sich dicke Leute nicht umdrehen können. Immerhin sind heute sowohl Rosi als auch Friedrich nicht mehr dick.

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