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Ausmanövriert

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Mitten im Aufschwung der neuen sozialen Bewegungen begannen die ökonomischen Voraussetzungen des wohlfahrtsstaatlichen Konsenses sich aufzulösen. Die 1970er Jahre erlebten enorm steigende Energiepreise, den Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods, eine zunehmende Globalisierung von Kapitalströmen, anhaltende Stagflation und sinkende Profitraten des Kapitals.38 Das grundlegende politische Arrangement der Nachkriegsepoche fand damit ein Ende: die einzigartige Verbindung aus keynesianischer Wirtschaftspolitik, fordis­tisch-korporatistisch geprägter Industrie und einem weithin getragenen wohlfahrtsstaatlichen Konsens darüber, einen Teil des gesellschaftlichen Surplus den Arbeitenden zugutekommen zu lassen. Mit der strukturellen Krise bot sich weltweit sowohl rechten wie auch linken politischen Kräften eine Gelegenheit, ein neues hegemoniales Projekt zu lancieren, das einen Ausweg aus der Krise versprach.

Die Rechte sah es als ihre Aufgabe an, der Kapitalakkumulation und der Profitrate wieder auf die Beine zu helfen. Letzten Endes ließ sich diese Herausforderung dank der weltweiten Durchsetzung neoliberalen Denkens meistern, doch bereits vorher bemühten sich rechte Kräfte in Großbritannien und den USA, den politischen Einfluss der alten wie der neuen Linken auszumanövrieren. Zu einem ganz zentralen Hebel wurde die Strategie, die Krise des Kapitalismus politisch und ökonomisch der Macht der Gewerkschaften anzulasten.

Die schließliche Niederlage der organisierten Arbeiterbewegung in allen wichtigen kapitalistischen Ländern war möglicherweise der entscheidende Durchbruch des Neoliberalismus: Sie veränderte das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital entscheidend. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels waren vielfältig und reichten von physischen Angriffen und Auseinandersetzungen über Gesetze, die Solidaritätsaktionen und Arbeitskämpfe erschwerten, bis zur Einführung veränderter Produktions- und Distributionsabläufe (wie etwa die Flexibilisierung der Lieferketten), die die gewerkschaftliche Macht schwächten. Hinzu kamen propagandistische Offensiven, um die öffentliche Meinung und den gesellschaftlichen Konsens zu beeinflussen und auf breiter Front die neoliberale Agenda durchzusetzen.39 Ganz entscheidend wurden die individuelle Freiheit und eine sogenannte negative Solidarität: nicht nur ein Desinteresse für gewerkschaftliche Anliegen, sondern ein aggressives und wütendes Gefühl ständiger Benachteiligung, das sich dadurch auszeichnet, die wachsenden Zumutungen im eigenen Arbeitsleben (wie Nullrunden beim Lohn, die Streichung von Zulagen, eine sinkende Rente) auch allen anderen zu wünschen. Im Ergebnis führten solche Veränderungen in allen Industrieländern zu einer Schwächung der Gewerkschaften und zu einer Niederlage der arbeitenden Klassen.40

Der Rechten gelang es, sich in der strukturellen Krise erfolgreich zu behaupten und ihre politische und wirtschaftliche Macht zu festigen; die Bewegungen der alten und neuen Linken hingegen waren außerstande, der neuen Kräftekonstellation entschieden entgegenzutreten. In den 1970er Jahren war es sozialistischen und sogar kommunistischen Parteien in Westeuropa sukzessive geglückt, bei Parlamentswahlen zuzulegen; doch in der sich entwickelnden Krise setzte die alte Linke einfach nur darauf, an der überkommenen korporatistischen Agenda festzuhalten.41 Doch angesichts der veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen waren die bekannten keynesianischen Instrumente nicht länger geeignet, Wachstum zu generieren, die Erwerbslosigkeit einzudämmen oder die Inflationsrate zu senken. Linke und sozialdemokratische Regierungen, wie die der Labour Party in Großbritannien, sahen sich daher in den 1970er Jahren letztendlich gezwungen, eine im Kern neoliberale Politik zu machen, aus dem vergeblichen Bemühen heraus, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.42 Die traditionelle Arbeiterbewegung war geschlagen und wurde – apathisch und erstarrt, wie sie sich zeigte – von den Kräften der Rechten vereinnahmt. Die Kritik der Neuen Linken blieb insofern für die Erneuerung und Weiterentwicklung der Linken insgesamt unverzichtbar. Doch nicht nur die Organisationen der alten Linken waren in vieler Hinsicht ideenlos, auch die Neue Linke zeigte sich – wie oben bereits angemerkt – außerstande, sich institutionell zu verankern und ein gegenhegemoniales Projekt zu artikulieren. Das Ergebnis war eine zunehmend marginalisierte Linke.

Mit der Ausbreitung und Konsolidierung des neoliberalen Common Sense akzeptierten auch die verbliebenen Sozialdemokratien mehr und mehr dessen Spielregeln. Die Mehrheit aller großen Parteien trug nun im Grunde das ökonomische und politische Programm des Neoliberalismus mit. Immer mehr Bereiche des öffentlichen Dienstes wurden privatisiert. Die Chancen, an der Wahlurne maßgebliche Veränderungen herbeiführen zu können, sanken dramatisch. Ein weit verbreiteter Zynismus begleitete den Bedeutungsverlust der Parteien: Parteipolitik nahm immer stärker Züge von Werbekampagnen an, Politiker wurden zu Krämern degradiert, die Ladenhüter loszuschlagen versuchten.43 Die Beteiligung und das Interesse an Wahlen sanken im gleichen Maß, in dem das neoliberale Koordinatensystem Zustimmung fand. Eine postpolitische Zeit begann. Heute sind Wähler weithin politikverdrossen, die Wahlbeteiligung erreicht immer neue historische Tiefststände. Unter solchen Umständen gewinnt das folkpolitische Insistieren auf schnellen Ergebnissen und einer basisnahen partizipatorischen Demokratie eindeutig an Attraktivität.

Den neuen sozialen Bewegungen kam in diesem Prozess eine ambivalente Rolle zu. In den 1990er Jahren hatte die Arbeiterklasse als das privilegierte politische Subjekt endgültig ausgedient, und an ihre Stelle trat ein breites Spektrum sozialer Identitäten, Entwürfe und Widerstände.44 Mit immer komplexeren Ansätzen wurde das Funktionieren ineinandergreifender Machtstrukturen untersucht, und es entstand eine Vorstellung intersektioneller Unterdrückung.45

Kultureller Wandel, aber auch die politische Unterstützung durch den Mainstream führten dazu, dass Inhalte und Forderungen feministischer, antirassistischer und queerer Bewegungen zu einem nicht unerheblichen Teil gesellschaftliche Anerkennung und sogar Eingang in die Gesetzgebung fanden. Alles in allem jedoch gab es trotz solcher Erfolge ein Rollback, verglichen mit den radikalen Forderungen, wie sie in den 1970er Jahren formuliert worden waren, als weitaus tiefgreifendere Veränderungen der Gesellschaft möglich schienen. So haben Feministinnen beispielsweise bei Zielen wie Einkommensgleichheit, einer Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs oder der Verbesserung der Kinderbetreuung politisch einiges erreicht, doch gemessen an Zielen wie dem der Abschaffung der Geschlechter bleibt dies alles blass.46

Vergleichbares lässt sich für die Befreiungsbewegungen der Schwarzen feststellen: Während zahlreiche Gesetze gegen rassistische Diskriminierung am Arbeitsplatz und anderswo in Kraft traten, blieb die radikale Programmatik, mit der die Bewegungen einst angetreten waren, außen vor.47

Vieles heute Erreichte, das auf die neuen sozialen Bewegungen zurückgeht, bleibt innerhalb des durch die Hegemonie des Neoliberalismus gesteckten Rahmens, stellt Markt­vorstellungen in den Mittelpunkt, denkt in liberalen Rechts­begriffen und ist in einer Rhetorik der freien Entscheidung artikuliert. Die radikaleren, antikapitalistischen Aspekte jener Aufbrüche hingegen finden sich beiseite gedrängt.

Alles in allem sehen wir also den Zusammenbruch der traditionellen Organisationen der Linken und die gleichzeitige Herausbildung einer politischen Alternative, der Neuen Linken, die sich mit Leidenschaft der Kritik bürokratischer und vertikaler Strukturen, von Exklusion und institutioneller Verknöcherung widmete, verbunden mit dem Umstand, dass es der Apparatur des Neoliberalismus gelang, sich eine Reihe der neuen politischen Forderungen einzuverleiben. Vor diesem Hintergrund sedimentierten folkpolitische Vorstellungen und bildeten einen neuen Common Sense, wie er in den Bewegungen für eine andere Globalisierung schließlich seinen Ausdruck fand.48 Deren Entstehungsgeschichte hatte zwei Phasen. Die erste reichte von Mitte der 1990er bis in die frühen 2000er Jahre und war gekennzeichnet durch Bewegungen wie die Zapatistas, durch antikapitalistische und altermondialistische Gruppen, durch die Weltsozialforen und globale Proteste gegen den Krieg. Eine zweite Phase setzte unmittelbar nach Beginn der Finanzkrise ab 2007 ein, und die Akteure waren verschiedene Gruppen, die vor allem ähnliche organisatorische Formen und ideologische Positionen einten, darunter die Occupy-Bewe­gung, der Movimiento 15-M in Spanien und auch einige studentische Bewegungen in verschiedenen Ländern. All diese sozialen Bewegungen suchten die Konfrontation mit dem Neoliberalismus und seinen Statthaltern in Regierungen und Konzernen, wobei zunächst der Schwerpunkt mehr auf dem Welthandel und den Organisationen globaler Governance lag, während später Finanzsphäre, Ungleichheit und Schulden stärker in den Fokus rückten.49 Beeinflusst von früheren sozialen Bewegungen neigt dieser jüngste Zyklus von Kämpfen und Auseinandersetzungen politisch vor allem zu lokalen Themen und spontanen Aktionsformen, zu einer horizontalen Organisierung und zu einer antistaatlichen Perspektive. Zur offenkundigen Attraktivität von Folk-Politik trägt der Zusammenbruch traditioneller linker Organisationsformen ebenso bei wie die Einbeziehung sozialdemokratischer Parteien in eine »alternativlos« erscheinende neoliberale Hegemonie oder das Gefühl der Machtlosigkeit, das die politische Leere gegenwärtiger Parteipolitik hervorruft. In einer Welt, deren wirklich ernsten Probleme alle auf eine unlösbare Weise komplex wirken, verspricht Folk-Politik einen Weg, eine egalitäre Zukunft hier und jetzt vorwegzunehmen. Aus sich heraus allerdings ist eine solche Politik außerstande, längerfristig die Kräfte zu mobilisieren, die tatsächlich in der Lage wären, dem Kapitalismus weltweit nicht nur Widerstand entgegenzusetzen, sondern ihn auch zu überwinden.

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