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Einleitung

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Wo ist die Zukunft geblieben? Beinahe das gesamte 20. Jahrhundert hindurch waren unsere Phantasien von ihr beherrscht: Emanzipatorische Entwürfe aller Art bildeten den politischen Horizont der Linken, und oft verband sich in ihnen die Vorstellung demokratischer politischer Macht mit Visionen vom befreienden Potential der Technologie. Von den Verheißungen einer Welt der Muße bis zum sowjetischen kosmischen Kommunismus, vom afrofuturistischen Zelebrieren des synthetischen und diasporischen Charakters schwarzer Kultur bis zu den Post-Gender-Entwürfen des radikalen Feminismus imaginierten die in der Linken populären Erzählungen gesellschaftliche Verhältnisse, die alles, was wir heute erträumen, in den Schatten stellen.1

Eine öffentliche politische Kontrolle neuer Technolo­gien sollte die Welt zum Besseren wenden. Heute nun erscheint die Verwirklichung solcher Träume tatsächlich in greifbare Nähe gerückt. Die technologische Infrastruktur des 21. Jahrhunderts stellt Ressourcen bereit, mit denen sich grundlegend andere politische und ökonomische Verhältnisse realisieren ließen. Maschinen erledigen Aufgaben, deren Automatisierung noch vor einem Jahrzehnt undenkbar erschien. Das Internet und die sozialen Medien geben Milliarden Menschen eine Stimme, die bislang zu schweigen gezwungen waren, und bringen so die Möglichkeit einer globalen partizipatorischen Demokratie näher denn je. Open Source-Design, auf Copyleft bauende Kreativität und neue Technologien wie der 3D-Druck lassen eine Welt erahnen, in der die Knappheit vieler Güter überwindbar würde. Avancierte Methoden der Computersimulation könnten der Wirtschaftsplanung neue Perspektiven eröffnen und uns in die Lage versetzen, ökonomische Prozesse in einem bislang nicht gekannten Maß rational zu lenken. Die neueste Welle der Automation schafft die Möglichkeit, ganze Sparten öder und erniedrigender Arbeiten dauerhaft abzuschaffen. Auf erneuerbaren Energieträgern beruhende Technologien ermöglichen eine praktisch unbegrenzte und ökologisch nachhaltige Energieerzeugung. Und Neuerungen in der Medizin erlauben nicht nur ein längeres und gesünderes Leben, sondern eröffnen auch neue Möglichkeiten, mit Genderkategorien und sexuellen Identitäten zu experimentieren. Viele klassische linke Forderungen – die Forderung nach weniger Arbeit, das Streben danach, dem Mangel ein Ende zu setzen und gesellschaftlich nützliche Güter zu produzieren, und nicht zuletzt das Ziel, die Menschheit zu befreien – sind heute materiell viel eher erfüllbar als je zuvor in der Geschichte.

Und dennoch umgeben uns, trotz des makellos scheinenden Glanzes unseres Technologiezeitalters, weiterhin überkommene und antiquierte gesellschaftliche Verhältnisse. Noch immer arbeiten wir tagtäglich viele Stunden und pendeln weite Strecken, um Aufgaben zu erledigen, die wir zunehmend als sinnlos empfinden. Unsere Arbeitsplätze sind unsicherer geworden, unser Einkommen stagniert, während die Schulden uns erdrücken. Wir strampeln uns ab, um über die Runden zu kommen, Essen auf dem Tisch und Geld für die Miete oder Hypothek zu haben, und während wir von Job zu Job hetzen und kaum imstande sind, eine erschwingliche Kinderbetreuung aufzutun, denken wir nur noch wehmütig an so etwas wie die Rente. Automatisierung bringt heute Arbeitslosigkeit und stagnierende Einkünfte zerstören die Mittelklasse, während Unternehmensgewinne neue Rekordhöhen erreichen. Der Vorschein einer besseren Zukunft kommt unter dem Druck zunehmend prekärer Verhältnisse und größerer Belastung unter die Räder und gerät in Vergessenheit. Tag für Tag der gleiche Trott: Wir stürzen uns in die Arbeit und sind dabei erschöpft, verunsichert, gestresst, entmutigt.

Im Weltmaßstab betrachtet, sehen die Dinge noch düs­terer aus. Der globale Klimawandel geht unvermindert weiter, und inmitten der anhaltenden Wirtschaftskrise setzen Regierungen unbeirrt auf die lähmende Abwärtsspirale der Austeritätspolitik. Von kaum greifbaren, abstrakten Mächten bedrängt, fühlen wir uns außerstande, dem Mahlstrom ökonomischer, sozialer oder ökologischer Erschütterungen zu entgehen oder ihn gar zu kontrollieren. Doch wie ließe sich das ändern? Rund um uns scheinen die in den vergangenen hundert Jahren tonangebenden politischen Zusammenhänge, gesellschaftlichen Bewegungen und Strömungen nicht länger in der Lage, Transformationsprozesse und echte Veränderungen in Gang zu setzen. Stattdessen zwingen sie uns ständig zurück ins Hamsterrad unseres Elends. Der Verfall der repräsentativen Demokratie ist frappierend. Mitte-links-Parteien sind ausgelaugt und stehen ohne jegliche breitere Zustimmung aus der Bevölkerung da. Einzig ihre toten Hüllen taumeln weiter und bieten karrieristischen Ambitionen ein Vehikel. Radikale politische Bewegungen blühen vielversprechend auf, doch Erschöpfung und Repression nehmen ihnen alsbald den Atem. Die Gewerkschaften haben erleben müssen, wie ihre Macht systematisch demontiert wurde, und die verbliebenen sklerotischen Strukturen bringen kaum mehr als eine schwache Gegenwehr zustande. Doch ungeachtet dieses ganzen Dilemmas mangelt es politisch heute hartnäckig an neuen Ideen. Seit Jahrzehnten herrscht der Neoliberalismus, und die Sozialdemokratie existiert im Wesentlichen nur noch als Objekt nostalgischer Anwandlungen. Während die Krisen heftiger werden und immer mehr Fahrt aufnehmen, welkt Politik dahin und zieht sich zurück. Die Paralyse der politischen Vorstellungskraft geht einher mit einer Aufkündigung der Zukunft.2

Dieses Buch handelt davon, wie wir an diesen Punkt gelangten und wohin es demnächst gehen könnte. Betrachten wir, was wir »Folk-Politik« nennen, lässt sich sagen, wie und warum uns die Fähigkeit abhandenkam, uns eine bessere Zukunft zu bauen. Unter der Dominanz eines folkloristisch-politischen Denkens führte der jüngs­te Zyklus von Kämpfen – in der globalisierungskritischen ebenso wie in der Antikriegsbewegung oder bei Occupy Wall Street – zu einer Fetischisierung lokaler Räume, der Unmittelbarkeit und des Ephemeren sowie zu allen möglichen Partikularismen. Statt die Mühe auf sich zu nehmen, einmal Erreichtes zu konsolidieren und weiter zu entwickeln, zielte diese Art der Politik darauf ab, sich gegen die Zumutungen des globalen Neoliberalismus Zufluchtsorte einzurichten.

So blieb sie eine Politik, die defensiv orientiert und außerstande war, eine neue Welt zu entwerfen oder gar an ihr zu bauen. Für Bewegungen, die darum kämpfen, dem Neoliberalismus zu entkommen und etwas Besseres zu schaffen, ist eine solche Folk-Politik zu wenig. Das vorliegende Buch umreißt daher eine andere Art Politik, eine, der es darum geht, die Zukunft selbst in die Hand zu nehmen und den Wunsch nach einer Welt zu fördern, die moderner ist, als der Kapitalismus erlaubt. Die den technologischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts inhärenten utopischen Potentiale dürfen nicht an das unter dem Kapitalismus Vorstellbare gefesselt bleiben; eine ambitionierte linke Alternative muss sie befreien. Der Neoliberalismus ist gescheitert, der sozialdemokratische Weg unmöglich, nur mit einer ganz anderen Sicht der Dinge lassen sich allgemeiner Wohlstand und umfassende Emanzipation gewinnen. Eine solche bessere Welt zu entwerfen und zu schaffen, ist die grundlegende Aufgabe der Linken heute.

Die Zukunft erfinden

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