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Der Alltagsverstand der Politik

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Was heißt Folk-Politik? Wir bezeichnen damit eine in der Linken gegenwärtig anzutreffende Konstellation von Vorstellungen, die geprägt sind durch einen intuitiv geteilten Common Sense darüber, wie Politik zu denken, zu organisieren und praktisch umzusetzen ist. Dazu gehören eine Reihe strategischer Annahmen, die der Linken jegliche Kraft zu nehmen drohen und sie daran hindern, gesellschaftlich auszustrahlen und jenseits von Partikular­interessen dauerhafte Veränderungen herbeizuführen. Linke Bewegungen mit einem solchen folkloristischen Politikverständnis werden vermutlich erfolglos bleiben – jedenfalls sind sie nicht dafür gerüstet, den Kapitalismus umzuwälzen. Der Ausdruck »Folk-Politik« selbst verweist in kritischer Absicht auf zweierlei: zum einen auf die aus der Kritik der Alltagspsychologie resultierende Einsicht, dass unsere intuitiven Vorstellungen der Welt sowohl historisch bedingt als auch häufig irreführend sind; zum anderen auf die »volkstümliche« Verortung im Überschaubaren und Authentischen, Traditionellen und natürlich Gegebenen.13 Beide kritisierten Dimensionen finden sich in der Vorstellungswelt folkloristischer Politik wieder.

In einer ersten Annäherung lässt sich Folk-Politik dementsprechend als ein gemeinsamer, historisch konstruierter politischer Alltagsverstand definieren, der den Blick für die tatsächlichen Mechanismen der Macht verloren hat. Während sich unsere Welt politisch, ökonomisch, sozial und technologisch wandelt, verlieren Taktiken und Strategien an Wirksamkeit, die früher einmal in der Lage waren, kollektive Stärke in emanzipatorische Errungenschaften zu transformieren. Folk-Politik gehört zum Alltagsverstand der heutigen Linken, und häufig agiert sie intuitiv, unkritisch und bewusstlos. Aufgrund seiner his­torischen Bedingtheit ist dieser Common Sense indes auch veränderbar. Heute übliche politische Organisa­tionsformen und Taktiken sind keineswegs naturwüchsig oder vorgegeben, sondern entwickelten sich im Lauf der Zeit, als Antworten auf spezifische politische Problemstellungen. Petitionen, Besetzungen oder Streiks, Avantgardeparteien, aktivistische Kleingruppen oder Gewerkschaften: Alle diese Formen entstanden unter jeweils besonderen historischen Bedingungen.14 Der Umstand, dass diese oder jene Organisationsform oder Art des politischen Handelns irgendwann einmal angemessen war, garantiert ihr keine fortwährende Relevanz. Viele der in der heutigen Linken anzutreffenden Aktionsformen und organisatorischen Strukturen sind nicht zuletzt Antworten auf historische Erfahrungen: mit dem Staatskommunismus, mit unbeweglichen Gewerkschaften oder auch mit dem Debakel sozialdemokratischer Parteien. Doch was irgendwann einmal sinnvoll war, stellt heute für eine Politik der Veränderung keinen geeigneten Ansatz mehr dar. Unsere Welt hat sich weiter gedreht, wurde komplexer und abstrakter, vielfältiger und globalisierter als je zuvor.

Gegen einen abstrakten und unmenschlichen Kapitalismus setzt Folk-Politik zeitlich, räumlich und konzeptionell auf Unmittelbarkeit, um in der Politik wieder ein »menschliches Maß« einziehen zu lassen. Im Kern steht hinter einem solchen Ansatz die Intuition, Unmittelbarkeit sei in jedem Fall besser und oft zudem authentischer; entsprechend tief sitzt das Misstrauen, das theoretischer Abstraktion und Vermittlung entgegenschlägt. Zeitlich betrachtet bedeutet Unmittelbarkeit, dass Folk-Politik in der Regel reaktiv bleibt, das heißt, auf das Handeln von Konzernen und staatlichen Stellen reagiert statt selbst die Initiative zu ergreifen; sie vernachlässigt langfristige strategische Überlegungen und konzentriert sich stattdessen auf taktische Ziele, isoliert einzelne Themen oder betont Prozesse; sie bevorzugt oft an sich ephemere Praxisformen wie Besetzungen oder temporäre autonome Zonen; sie gibt dem aus der Vergangenheit Vertrauten den Vorzug vor den Unwägbarkeiten der Zukunft, was sich beispielsweise in wiederkehrenden Träumereien von einer Rückkehr zum »guten« Keynesianismus manifes­tiert; und ihre politischen Artikulationen zeigen, deutlich etwa in der Romantisierung von Riots und Revolten, eine Neigung für das Voluntaristische und Spontane und zugleich eine Gleichgültigkeit Institutionen gegenüber.15

Bezogen auf den Raum führt die Privilegierung von Unmittelbarkeit dazu, dass Folk-Politik das Lokale als Ort von Authentizität ansieht – anschaulich wird dies etwa in Kampagnen für Lebensmittel aus der Region oder für die Einführung lokaler Währungen, in der Bevorzugung des Kleinen gegenüber dem Großen wie auch in der Begeisterung für überschaubare Gemeinschaften oder für den Kramladen im Viertel. Eine solche Politik schwört auf politische Formen wie Vollversammlungen und andere Manifestationen direkter Demokratie, die jenseits kleiner Einheiten nicht funktionieren könnten; und nicht selten wendet sie sich gegen jegliche Art von Hegemonie und setzt lieber auf Rückzug und Ausstieg statt ein gegenhegemoniales Projekt zu entwickeln.16 Ferner sieht Folk-Politik in erster Linie die Beteiligten selbst als politische Akteure – was etwa auch in der Hervorhebung direkter Aktionen deutlich wird – und lehnt Formen der Repräsentation ab, da zu treffende Entscheidungen eine Sache jeder und jedes Einzelnen sein sollen. Aktionsra­dius und Ausweitung politischen Agierens sind Fragen, die im folkpolitischen Denken entweder ignoriert oder heruntergespielt werden.

Konzeptionell heißt Unmittelbarkeit schließlich, dass der Alltag mehr als strukturelle Zusammenhänge gilt und die persönliche Erfahrung schwerer wiegt als systematische Überlegungen. Folk-Politik stellt das Fühlen über das Denken und hebt individuelles Leid hervor, ebenso den Enthusiasmus oder den Zorn, die sich aus der politischen Aktion speisen. Ferner zählt das Partikulare mehr als das Universelle, zumal Letzteres an sich schon als totalitär gilt, und das Ethische steht über dem Politischen – sinnbildlich in den Bewegungen für ethischen Konsum oder in moralisierenden Kritiken an gierigen Bankern.17 Organisationen und soziale oder politische Zusammenhänge haben transparent zu sein und immer schon jedwede Art konzeptioneller Vermittlung oder struktureller Komplexität auszuschließen. Die Vorliebe für partikulares Leid und lokale Authentizität verdrängt die traditionellen Bilder universeller Befreiung und globaler Veränderung – und letztendlich jeglichen Ansatz einer universalistischen Politik.

Spuren einer solchen Folk-Politik lassen sich in vielen heutigen Strömungen und Bewegungen wiederfinden, so unter anderem bei Occupy, im spanischen Movimiento 15-M und bei diversen studentischen Institutsbesetzungen, bei kommunistisch-revolutionären Kollektiven wie Tiqqun oder dem Unsichtbaren Komitee, bei den Zapatis­ten und bei anarchistisch geprägten Gruppen, überhaupt in den meisten Formen horizontal orientierter Politik ebenso wie in einer Reihe weiterer zeitgenössischer politischer Trends: etwa in der politischen Privilegierung des Lokalen, in der Slow-Food-Bewegung oder in Kampagnen für ethischen Konsum. Keine einzelne Position oder Strömung verkörpert indes alle genannten Merkmale, was uns zu einer ersten Präzisierung bringt: Als ein unkritisch und häufig unbewusst geteilter Common Sense bestimmt Folk-Politik in unterschiedlichem Maß konkrete politische Standpunkte und steht so weniger für eine explizite Position als für eine implizite Tendenz. Typische folkpolitische Vorstellungen sind in der heutigen Linken weit verbreitet, und entsprechend sind Haltungen und Denkweisen mal mehr, mal weniger durch jene Tendenz geprägt. Das wiederum führt uns zu einer zweiten wichtigen Präzisierung: Problematisch an Folk-Politik ist nicht, dass sie vom Lokalen ausgeht, denn da beginnt jegliches politische Handeln. Ein Problem entsteht vielmehr dadurch, dass sich das folkpolitische Denken mit dieser Ebene – des Flüchtigen, des »menschlichen Maßes«, des Unmittelbaren und Partikularen – begnügt (oder sie sogar verabsolutiert) und solche Instanzen nicht nur als notwendig, sondern als hinreichend ansieht. Es kann daher nicht darum gehen, Folk-Politik insgesamt zurückzuweisen. Sie ist unverzichtbarer Bestandteil einer jeden erfolgreichen politischen Bewegung, allerdings nur zu Beginn. Und eine dritte Präzisierung schließt sich an: Folkpolische Haltungen erweisen sich vor allem dann als problematisch, wenn es darum geht, den Kapitalismus zu überwinden. Mit anderen politischen Absichten lässt sich folkpolitisches Denken sehr gut vereinbaren, insbesondere wenn Widerstand, lokale Themen und überschaubare Ziele im Vordergrund stehen. Politische Bewegungen, die für den Erhalt eines Krankenhauses oder gegen drohende Zwangsräumungen kämpfen, sind alle großartig, doch gleichzeitig unterscheiden sie sich in entscheidenden Punkten von Bewegungen, die den neoliberalen Kapitalismus grundlegend in Frage zu stellen versuchen.

Im Übrigen gehört die Vorstellung, es gebe die eine Organisationsform, Taktik oder Strategie, die sich auf jedwede Auseinandersetzung anwenden lasse, zu den gleichermaßen verbreiteten wie ziemlich bedenklichen Überzeugungen in der heutigen Linken. Am Anfang eines jeden politischen Projekts stehen unausweichlich strategische Überlegungen – über Mittel und Ziele, Gegner und Verbündete. Angesichts der Natur des globalen Kapitalismus erfordert eine postkapitalistische Politik ein ambitioniertes, theoretisches, vermitteltes, komplexes und globales Herangehen – etwas, das folkpolitische Ansätze nicht zu bieten haben.

Alles in allem genommen ist Folk-Politik für ein postkapitalistisches politisches Projekt somit zwar notwendig, doch keineswegs hinreichend. Durch das nachdrückliche Beharren auf der Ebene des Unmittelbaren fehlt Folk-Politik das Instrumentarium, um aus dem Neoliberalismus etwas anderes zu schaffen. In lokalen Kämpfen mag es zwar gelingen, sich nachdrücklich einzumischen, doch machen wir uns etwas vor zu glauben, mit solchen Interventionen ließe sich gegen den globalen Kapitalismus punkten. Im besten Fall gewähren sie uns eine kleine Atempause. Das vorliegende Buch soll eine Alternative skizzieren und damit die Möglichkeiten der Linken, die lokale Perspektive zur globalen zu erweitern, Partikulares und Universelles zu verbinden. Eine solche politische Alternative wird nicht einfach, in einer konservativen Rückkehr ins vergangene Jahrhundert, erneut »die Arbeiterklasse« in den Mittelpunkt stellen können. Stattdessen wird es darum gehen, ein Update politischen Denkens (das sich statt mit dem Unmittelbaren mit strukturellen Zusammenhängen beschäftigt), mit einem Upgrade politischen Handelns zu verbinden (das sich darauf richtet, programmatische Gemeinsamkeiten zu schaffen und Maßstäbe zu erweitern).

Die Zukunft erfinden

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