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Überfordert

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Warum eigentlich konnte Folk-Politik sich durchsetzen? Wie kommt es, dass solche Positionen, trotz all ihrer offenkundigen Schwächen, aktuellen sozialen Bewegungen so attraktiv und überzeugend erscheinen? Mindestens drei Erklärungen bieten sich an: Folk-Politik antwortet erstens auf das Problem, wie sich eine immer komplexer werdende Welt interpretieren lässt, um darin politisch zu handeln; zugleich reagiert sie, zweitens, auf die historischen Erfahrungen der kommunistischen und sozialdemokratischen Linken; und drittens ist sie auch eine Antwort auf das triste Spektakel heutiger Parteipolitik.

Mit den Veränderungen einer multipolaren globalen Ordnung, einer instabilen Weltökonomie oder des vom Menschen verursachten Klimawandels Schritt zu halten, gelingt den sinnstiftenden Narrativen, auf die wir üblicherweise bauen, immer seltener. Jedes der genannten Beispiele steht für ein sogenanntes komplexes System mit nichtlinearen Dynamiken, in dem bereits geringfügige Schwankungen der Ausgangsparameter dramatische Folgen zeitigen und verwickelte Kausalzusammenhänge einander auf kaum vorhersehbare Art beeinflussen. Typischerweise funktionieren solche komplexen Systeme in raum-zeitlichen Dimensionen weit jenseits unseres unmittelbaren individuellen Wahrnehmungshorizonts.18 Globalisierung, internationale Politik, Klimawandel: Jedes dieser Systeme prägt unsere Welt, doch ihre Auswirkungen sind so weitreichend und kompliziert, dass es schwierig wird, sie mit der eigenen Erfahrung in Einklang zu bringen. Die Weltwirtschaft ist ein gutes Beispiel: Die ökonomischen Verhältnisse sind schlicht und einfach nichts unmittelbar Erfahrbares, sie durchdringen Zeit und Raum (und es ist unmöglich, »der Ökonomie« jemals persönlich zu begegnen). Alle möglichen Dinge haben in diesem System ihren Platz, die juridische Kodifizierung des Eigentums ebenso wie die sogenannten Grundbedürfnisse, natürliche Ressourcen ebenso wie die technologische Infrastruktur, wie Märkte oder Supercomputer, und es gibt eine Unzahl komplex interagierender Feedbackschleifen, deren emergente Effekte sich nicht auf ihre individuellen Bestandteile zurückführen lassen.19 Oder anders gesagt: Das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente zeitigt Folgen, die sich nicht verstehen lassen, solange nur die Funktionsweise einzelner dieser Elemente isoliert betrachtet wird – erst wenn deren Relationen miteinbezogen werden, kann die Ökonomie insgesamt begriffen werden. Doch auch wenn wir möglicherweise eine Vorstellung davon bekommen, wie die ökonomischen Zusammenhänge aussehen, besteht niemals eine Möglichkeit, »die Ökonomie« auf vergleichbare Art wie andere Phänomene unmittelbar wahrzunehmen. Das ökonomische System lässt sich anhand statistischer Kennzahlen betrachten (und in Diagrammen darstellen, die das Schwanken der Inflationsrate, die Zins­entwicklung, die Aktienindizes, das Bruttoinlands­produkt etc. veranschaulichen), doch niemals in seiner Gesamtheit erfahren.

Es bedarf etlicher Anstrengung, die Dynamiken und Mechanismen des Kapitalismus zu verstehen, trotz allem, was darüber geschrieben wurde. Wichtiger noch: Uns fehlt eine »kognitive Karte« unseres sozio-ökonomischen Systems: ein gedankliches Bild, auf welche Weise sich individuelles und kollektives menschliches Handeln innerhalb der unermesslichen Weite der globalen Ökonomie situieren lässt.20 In den zurückliegenden Jahrzehnten wurden die systemischen Dynamiken zunehmend komplexer, mit erheblichen politischen Auswirkungen. Als ein neuartiges Problem erscheint dabei der durch den Menschen verursachte Klimawandel – eine imminente Bedrohung, die keine einfachen Lösungen kennt und in ihren Auswirkungen so vertrackt ist, dass sich kaum Ansatzpunkte finden lassen, wo möglicherweise zu intervenieren wäre. Und auch die globalisierte Wirtschaft zeigt heute eine ungeheure Komplexität, es genügt, allein die Mobilität des Kapitals, die vielschichtigen Strukturen der weltweiten Finanzsphäre und die Vielzahl der darin tätigen Akteure zu betrachten. Wie gut können traditionelle Vorstellungen der Welt solche Verhältnisse abbilden? Für die Linke des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bot der Bezug auf die industrielle Arbeiterklasse ein mächtiges Werkzeug, die Totalität der sozialen und ökonomischen Verhältnisse zu interpretieren und daraus klar artikulierte strategische Ziele abzuleiten. Doch die Geschichte der globalen Linken im weiteren Verlauf des 20. Jahr­hun­derts belegt die Unzulänglichkeiten eines solchen Ansatzes, sowohl im Hinblick auf die Vielfalt möglicher Kämpfe um Befreiung (ausgehend etwa von Kategorien wie Gender, Sex und Race), als auch was die Möglichkeiten des Kapitalismus anbelangt, sich neu zu strukturieren, ob in der Herausbildung des Wohlfahrtsstaats oder in der neoliberalen Neuordnung der Weltwirtschaft. Auch heute geraten angesichts neuer Probleme überkommene Modelle ins Wanken, und mit ihnen kommt uns bisweilen die Fähigkeit abhanden, uns in der Geschichte und in der Welt im Allgemeinen zu verorten.

Je mehr Alltagserfahrung und Systemumgebung auseinandertreten, desto größer wird die Entfremdung: Wir fühlen uns verloren in einer Welt, die wir nicht verstehen. Es ist eine Situation, die zu Verschwörungstheorien einlädt, wie der Kulturtheoretiker Fredric Jameson anmerkt.21 Verschwörungstheorien sehen hinter dem Treiben in der Welt verborgene Mächte am Werk (und zur Zielscheibe werden die Bilderberg-Gruppe, die Freimaurer oder andere vermeintlich Schuldige). Auch wenn manche dieser Theorien außerordentlich komplex daherkommen, bieten sie beruhigend einfache Antworten auf Fragen danach, wer »hinter all dem steckt« und was unsere Rolle dabei sei. So entsteht zwar eine »kognitive Karte«, doch bleibt sie durch und durch fehlerhaft.

Folk-Politik nun steht für eine weitere mögliche Reaktion auf das Problem allzu großer Komplexität. Wie die Welt funktioniert, verstehen wir nicht, deshalb gilt es, so der folkpolitische Imperativ, die Komplexität auf ein menschliches Maß zu reduzieren. Tatsächlich wird im folkpolitischen Umfeld ständig die Rückkehr zum Authentischen gefordert, zur Unmittelbarkeit, zu einer Welt, die »durchschaubar«, »menschlich«, »konkret«, »langsam«, »harmonisch«, »einfach« und »alltäglich« ist.22 Ein solches Denken lehnt die Komplexität der Welt von heute ab, damit aber auch die Möglichkeit einer wirklich postkapitalistischen Welt. Es unternimmt den Versuch, der Macht ein menschliches Antlitz zu geben, wo doch das eigentlich furchterregende Merkmal des Systems dessen subjektlose Gewalt ist. Die Gesichter sind austauschbar, die Machtverhältnisse bleiben gleich. Durch die Hinwendung zum Lokalen, zu Formen temporären Widerstands sowie zur intuitiven Praxis der direkten Aktion wird letztlich versucht, die Probleme des globalen Kapitalismus auf konkrete Gestalten und Momente zu verdichten.

Folk-Politik sucht die Auseinandersetzung häufig auf einer moralischen oder individuellen Ebene. Bisweilen neigt sie auch zu der Vorstellung, es mangele einfach nur an »guten« Kapitalisten oder an einem »verantwortungsvollen« Kapitalismus. Der Imperativ des lokalen Handelns führt zu einer Fetischisierung unmittelbarer Resultate und greifbarer Ergebnisse. Einen Konzern aufzuhalten, der sich anschickt, vor Ort die Umwelt zu zerstören, wird als Erfolg gefeiert – auch wenn das Unternehmen einfach abwartet, bis sich die öffentliche Aufmerksamkeit gelegt hat, bevor es einen neuen Anlauf nimmt. Doch die Fetischisierung der »unmittelbaren praktischen Erfolge« führt, wie Rosa Luxemburg bereits vor langer Zeit hervorhob, einzig zu einem hohlen Pragmatismus, der eher dazu beiträgt, die bestehenden Kräfteverhältnissen aufrechtzuerhalten, statt bestrebt zu sein, strukturelle Machtbeziehungen zu verändern.23 Ohne die notwendige Abstraktion strategischer Überlegungen bleiben taktische Züge nur flüchtige Gesten. Im Übrigen passt der Verzicht auf Komplexität hervorragend zur neoliberalen Überhöhung des Marktes. Einer der Haupteinwände gegen Wirtschaftsplanung war immer, die Ökonomie sei einfach zu komplex, als dass sie sich lenken ließe.24 Es gebe daher keine andere Alternative, als die Ressourcenallokation dem Markt zu überlassen und auf jegliches planerische Experiment zu verzichten.25 Alles in allem genommen, erscheint Folk-Politik als der Versuch, den globalisierten Kapitalismus klein zu reden, um ihn denken zu können – verknüpft mit Vorstellungen, wie sich in einem derart verkürzten Kapitalismus handeln lässt. Wie wir in diesem Buch zeigen werden, liegt der folkpolitische Ansatz falsch. Übersteigt die Komplexität der Verhältnisse gegenwärtig die menschlichen Möglichkeiten, sie zu denken und zu kontrollieren, gibt es zwei Optionen: Eine besteht darin, die Komplexität auf ein menschliches Maß zu reduzieren, die andere setzt darauf, die menschlichen Möglichkeiten zu erweitern. Wir unterstützen die letztere Haltung. Jedes postkapitalistische Projekt ist notwendigerweise darauf angewiesen, neue kognitive Karten, politische Narrative, technologische Schnittstellen, ökonomische Modelle und kollektive Kontrollmechanismen zu entwickeln, um in der Lage zu sein, komplexe Phänomene zu beherrschen, und die Verhältnisse für die Menschen zu verbessern.

Die Zukunft erfinden

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