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Argentinien
ОглавлениеEinen Beleg für erfolgreiche horizontalistische Politik scheint, wenn überhaupt, einzig das Beispiel Argentiniens zu liefern, wo es landesweit zu einer Wende zum Horizontalismus kam und Arbeiter die Kontrolle über zahlreiche Fabriken übernahmen. Doch letztendlich wirft der Blick auf die argentinische Erfahrung vor allem ein neues Licht auf die Begrenztheit eines folkpolitischen Ansatzes. In Argentinien war es der Zusammenbruch der einheimischen Wirtschaft, der den gesellschaftlichen Wandel unmittelbar notwendig machte. Nach einer massiven Rezession im Jahr 1998 und einem danach ausbleibenden Aufschwung sank das argentinische Bruttoinlandsprodukt 2002 um mehr als ein Viertel. Einen Höhepunkt hatten die Spannungen bereits im Dezember 2001 erreicht, nach staatlichen Kürzungen und Finanzchaos kam es zu Massenprotesten. Das Ergebnis war der Rücktritt der Regierung und schließlich der Staatsbankrott. Nachdem sich der Staat als weder fähig noch willig erwiesen hatte, die Lage der Bevölkerung zu verbessern, waren die Menschen gezwungen, neue Wege zu gehen, um sich selbst zu helfen.
Angesichts der angespannten Situation nahmen es viele Argentinier selbst in die Hand, neue politische und wirtschaftliche Strukturen zu schaffen. Diese Krisenantworten waren zu einem erheblichen Teil explizit entsprechend horizontalistischer Prinzipien organisiert.111 Wie bei Occupy erwies sich eine solche Art der (Selbst‑)Organisierung in Argentinien in mehrerlei Hinsicht politisch als ein wichtiger Schritt. Vielleicht am bemerkenswertesten daran war, dass es den Bewegungen gelang, den gesellschaftlichen Common Sense des Neoliberalismus zu stören und aufzuzeigen, dass es anderes gibt als Marktindividualismus und negative Solidarität. Das Schaffen neuer Verbindungen zwischen den Einzelnen trug dazu bei, die Feindseligkeiten zu überwinden, mit denen Proteste und Streiks in manchen Teilen der Gesellschaft häufig konfrontiert sind. Wie bei Occupy, allerdings auf erweiterter Stufenleiter, waren die horizontal organisierten Bewegungen in Argentinien rasch in der Lage, unter den Bedingungen der Krise Mittel der gesellschaftlichen Reproduktion bereitzustellen.112
Die politischen Experimente mit horizontalistischen Prinzipien führten so zu einer Reihe von Erfolgen, doch traten zugleich auch verschiedene weitere Probleme zutage. Eine der wichtigsten Erfahrungen ist zweifellos die politische Begrenztheit der Asambleas oder Nachbarschaftsversammlungen. Entstanden waren die Asambleas als eine Form der Organisierung, die auf die unmittelbaren Bedürfnisse und Konstellationen inmitten der Wirtschaftskrise reagierte. Wie die General Assembly bei Occupy ermöglichte sie den bislang kaum Wahrgenommenen, ihre Stimmen vernehmen zu lassen. Doch erreichten die Nachbarschaftsversammlungen, auch wo sie mit anderen aus anderen Stadtvierteln zusammenkamen, niemals den Punkt, an dem sie den Staat hätten ersetzen oder sich als eine realistische Alternative hätten darstellen können. Selbst auf dem Höhepunkt der Mobilisierung fingen horizontalistische Bewegungen nicht an, tatsächlich Funktionen des Staates – Wohlfahrt, Gesundheit, Infrastruktur, Bildung etc. – zu übernehmen. So blieb es bei lokal begrenzten Reaktionen auf die Krise. Eine weitere politische Grenze der Asambleas zeigte sich, sobald sie mit organisierten – das heißt: kollektiven – Interessen konfrontiert waren, mit denen sie nicht umgehen konnten; sie wiesen sie zurück oder aber sie versuchten, sie zu integrieren, und unterwarfen sich ihnen.113 Denn häufig traten kollektiv artikulierte Interessen in Diskussionen und gemeinsamen Debatten übermächtig auf und waren außerstande, sich in Prozesse der Entscheidungsfindung einzubringen, ohne sie zu untergraben. So funktionierten die Asambleas problematischerweise am besten als Versammlungen von Individuen.
Eine weitere organisatorische Erfahrung in Argentinien geht auf Arbeiter zurück, die Fabriken übernahmen. Im Gefolge der Wirtschaftskrise hatten Beschäftigte verschiedentlich die Leitung geschlossener Unternehmen an sich gebracht und die Betriebe weitergeführt. Die Kontrolle über die Fabriken sicherte den Arbeitern ihre Jobs – und verschiedene Quellen berichten, dass auch die Löhne stiegen. Allerdings handelte es sich, ungeachtet der den Fabrikbesetzungen zuteil gewordenen Aufmerksamkeit, um eine relativ überschaubares Phänomen: Nach sehr optimistischen Schätzungen ging es um rund 250 Fabriken mit insgesamt vielleicht gerade einmal 10 000 Beschäftigten.114 Bei einer Erwerbsbevölkerung von über 18 Millionen Erwerbstätigen machten die in den kollektiv geleiteten Betrieben Beschäftigten einen Anteil von deutlich unter 0,1 Prozent aus.
Doch die Fabriken spielten nicht nur in der argentinischen Wirtschaft eine untergeordnete Rolle, sondern blieben zwangsläufig auch in kapitalistische gesellschaftliche Verhältnisse eingebettet. Der Traum, Letzteren zu entgehen, ist nichts weiter als ein Traum. Unter dem Gebot, Profit zu erwirtschaften, sind Unternehmen unter der Leitung von Arbeitern unter Umständen genauso ausbeuterisch und umweltzerstörend wie jedes andere Industrieunternehmen, doch fehlen ihnen die Vorteile der Massenproduktion. Solche Probleme tauchen im Zusammenhang mit genossenschaftlichen Betrieben immer wieder auf, die Erfahrungen beschränken sich nicht auf Argentinien, sondern finden sich ähnlich auch im zapatistischen Zusammenhang oder auch sonst überall in Amerika.115
Sehen wir Argentinien jedoch als ein Modell eines potentiellen postkapitalistischen Wegs an, bleibt – jenseits aller organisatorischen Schranken – das Hauptproblem, dass in den genannten Ansätzen kein Gegenentwurf zum Kapitalismus steckt, sondern sie lediglich Mittel waren, um dessen Krise zu dämpfen. Als die Wirtschaft sich zu erholen begann, ging die Beteiligung an den Asambleas drastisch zurück und die Alternativökonomie schrumpfte.116 Die infolge der Krise auftretenden horizontalistischen Bewegungen hatten auf den Zusammenbruch des Bestehenden reagiert und Notfallmaßnahmen ergriffen; es gab keine relativ reibungslos funktionierende Ordnung mehr, der sie den Kampf ansagen konnten. Tatsächlich zeigen zeitgenössische horizontalistische Bewegungen häufiger die problematische Neigung, eine Notsituation – nach einem Hurrikan, Erdbeben oder ökonomischen Crash – als mögliches Fundament einer besseren Welt anzusehen.117 Doch fällt es einigermaßen schwer nachzuvollziehen, wie die Verhältnisse nach einer Katastrophe ein Modell für die Verbesserung der Lage einer großen Mehrheit der Weltbevölkerung abgeben könnten. Eine Politik, die einzig Ausdruck des Zusammenbruchs einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist, präsentiert sich nicht als Alternative, sondern entspringt eher einem spontanen Überlebensinstinkt. Ähnlich problematisch ist auch die Tendenz horizontalistischer Bewegungen, politisches Potential in der Art und Weise zu entdecken, wie das Alltagsleben »horizontal« organisiert ist – beim Zusammenkommen mit Freunden, bei Partys, Festivals etc.118
Doch auch derartige Ereignisse sind auf den Rahmen überschaubarer Gemeinschaften beschränkt und geben, wichtiger noch, für weitergehende politische Ziele kein brauchbares Vorbild ab. Das argentinische Beispiel zeigt es: Alltägliche Organisationsweisen mögen nützlich sein, um im Stadtviertel das grundlegende Überleben zu sichern und die Solidarität untereinander zu stärken. Doch horizontalistische Politik hat erhebliche Mühe, sich gegen stärker organisierte Interessen zu behaupten, länger durchzuhalten, sobald Normalität im Grundsatz wiederhergestellt ist oder auch weiter gesteckte und langfristige politische Ziele wie eine allgemeine Gesundheitsversorgung, höhere Bildung oder soziale Sicherheit zu verfolgen. In außergewöhnlichen Situationen und im Hinblick auf unmittelbar erreichbare Ziele bleiben horizontalistische Ansätze sinnvoll, doch werden sie weder die Gesellschaft umwälzen noch den globalen Kapitalismus ernsthaft infrage stellen.
Wie die Beispiele der Nachbarschaftsversammlungen und der von den Beschäftigten übernommenen Betriebe in Argentinien erkennen lassen, greifen maßgebliche Organisationsmodelle horizontalistischer Politik zu kurz. Häufig handelt es sich um reaktive Taktiken, die als Gegenentwürfe in den antagonistischen Verhältnissen des globalisierten Kapitalismus nicht ausreichen. Diese Grenzen des Horizontalismus wurden auf theoretischer Ebene im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts, nicht zuletzt mit Blick auf Bewegungen wie Occupy und die in Argentinien, verschiedentlich erörtert. Zwar bleibt als eine wichtige Leistung horizontalistischer Taktiken anzuerkennen, dass sie in der Lage sind, in überschaubaren sozialen Zusammenhängen Solidarität zu organisieren und Ausbeutungsverhältnisse zeitweilig zu unterbrechen, doch beschränkt die bisweilen fetischisierte Festlegung auf Konsens, direkte Aktion und insbesondere präfigurative Politik die Möglichkeiten, sich zu verbreitern und bestehende gesellschaftliche Strukturen zu ersetzen.