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Occupy

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Die signifikanteste politische Umsetzung horizontalistischer Vorstellungen in jüngster Vergangenheit zeigte die »Bewegung der Plätze«. Eine (Platz-)Besetzung setzt zwar keineswegs eine horizontalistische Koordination voraus (und tatsächlich gibt es eine lange militärische Vorgeschichte), doch die große Mehrheit der Besetzungen seit 2008 weist die beschriebenen Organisationsprinzipien auf.70 Die Welle von Besetzungen öffentlicher Plätze schwappte bis 2011 auf 950 Städte weltweit über, und jede dieser Aktionen artikulierte lokale politische und ökonomische, kulturelle und Klassenbelange. Im Folgenden werden wir das Scheitern der Occupy-Bewegungen im Westen untersuchen, da in den entwi­ckelten kapitalistischen Ländern der politische Misserfolg die Unzulänglichkeiten folkpolitischen Denkens deutlich werden lässt.71

Bemerkenswert ist zunächst, dass es zu jenem Scheitern kam, obgleich eine große Vielfalt unterschiedlicher Ansätze unter der Bezeichnung Occupy subsumiert wurde. In den USA beispielsweise reichte das Spektrum von Occupy Wall Street bis Occupy Oakland, von dogmatischer Gewaltfreiheit bis zum offenen Antagonismus, vom öfter einmal verwirrten Liberalismus bis zur libertär-kom­munistischen Militanz.72 Doch es gab nicht nur regionale Unterschiede, auch die Beteiligten offenbarten die verschiedensten ideologisch-politischen Einstellungen, deren Spannbreite einen reformistischen Liberalismus ebenso wie antikapitalistische und aufrührerisch anarchistische Positionen einbegriff, antietatistischen Kom­munismus oder gewerkschaftlichen Aktivismus ebenso wie einen oberflächlichen Libertarismus, der sich vor allem gegen die Federal Reserve, die US-Notenbank, richtete. Hinzu kam eine weit verbreitete Abneigung gegen das Artikulieren politischer Forderungen, was es noch schwieriger machte, so etwas wie eine politische Einheit der Occupy-Bewegung zu entdecken.

Es lässt sich relativ leicht begreifen, warum so viele motiviert waren, sich der Bewegung anzuschließen. Der horizontalistische Charakter von Occupy gab den Leuten die Möglichkeit, sich in und gegenüber einer Gesellschaft zu äußern, die ihre Stimmen kaum einmal wahrnahm.73 Insbesondere in den USA führt der Zustand der auf Wahlen und zwei große Parteien zentrierten Demokratie dazu, dass für politische Debatten nur unglaublich wenig Raum bleibt. Die in der Occupy-Bewegung geradezu explosionsartig aufgekommenen Slogans und artikulierten Bedürfnisse verweisen auf viel unterdrückten Ärger; politische Ansprüche, die ansonsten unbekannt geblieben wären, traten nunmehr auf vielfältige Weise hervor. Selbst Menschen, die sich nicht direkt an den Besetzungsaktionen beteiligten, bot Occupy eine Plattform. Zu einem Forum entwickelte sich beispielsweise die Tumblr-Site We Are The 99 Percent, die einen Chor von Stimmen versammelte, die gegen ökonomische Verelendung und soziale Exklusion protestierten.74 Ohne dass es direkte politische Folgen gehabt hätte, war die Gelegenheit, der eigenen Frustration öffentlich Luft zu machen, vielen Ausgeschlossenen Inspiration und Ermutigung.

Occupy unterbrach für Beteiligte und Beobachter gleichermaßen Alltag und Normalität. So wurde die Möglichkeit geschaffen, sich in ein gemeinsames politisches Projekt einzubringen. »Selbstbestimmtes Handeln führt den Menschen ihre eigene Macht vor Augen«, wie es ein Beobachter formulierte.75 An Orten wie Oakland drängten die Aktivisten des Öfteren auf eine stärkere Radikalisierung der Politik, während die üblichen Vermittlungsinstanzen (wie etwa gemeinnützige Organisationen) weiter um Mäßigung bemüht waren. Occu­py war, wie viele andere Protestbewegungen auch, ein Weg, der die Beteiligten radikalisierte, insbesondere angesichts des unverhältnismäßigen und brutalen Vorgehens der Polizei. Die Besetzungen sollten, so wurde erwartet, eine neue Welt vorbilden; doch auch wenn diese neue Welt weiterhin erst noch entstehen musste, demons­trierten die Bewegungen den Beteiligten zweifellos, was politische Solidarität bewirken konnte.76

Von den besetzten öffentlichen Orten gingen ferner, über ihre Wirkung innerhalb der Bewegungen hinaus, Aktionen aus, die sich gegen das politische System insgesamt richteten, etwa bei den Protestcamps gegen G8-Treffen.77 In den meisten Fällen handelte es sich um Demonstrationen und Kundgebungen, und die Occupy-Camps dienten dabei als Räume kollektiver Entscheidungsfindung. Darüber hinaus waren die besetzten Plätze Orte, an denen die Beteiligten Aktionsformen trainieren, also beispielsweise Akte zivilen Ungehorsams oder den Umgang mit polizeilicher Repression, sowie Informationen austauschen konnten, etwa über ihre gesetzlichen Rechte.78 Allgemein lässt sich feststellen, dass sich in den Besetzungen die Infrastruktur der Bewegungen in der »realen« Welt am offenkundigsten manifestierte. Gleichzeitig waren die besetzten Plätze häufig (doch keineswegs immer) Orte, an denen gesellschaftlich besonders Marginalisierte, insbesondere Obdachlose, Unterstützung fanden.79 Vielleicht am wichtigsten aber war, dass die Occupy-Camps – und insbesondere das im Zuccotti Park in New York City – nachdrücklich ins Zentrum medialer Aufmerksamkeit rückten und so viele ansonsten gewöhnlich ignorierte Themen in der breiteren Öffentlichkeit und bei staatlichen Stellen Beachtung fanden.80 Zumindest eine Zeit lang gelang es Occupy, die Aufmerksamkeit des publizistischen Mainstream in Presse und Fernsehsendern auf die Frage ökonomischer Gerechtigkeit zu lenken, was angesichts des zutiefst neoliberalen Common Sense in den Medien ein wirklicher Erfolg war.

Ungeachtet solcher Verdienste gibt es wichtige Fragen, an denen Occupy scheiterte. Verschiedene Kommentatoren aus den Bewegungen selbst haben bereits einige benannt, darunter auch die Tatsache, dass die Inklusivitätsrhetorik eine Reihe von Ausschlüssen – aufgrund von Race, Gender, Einkommen oder frei verfügbarer Zeit – bemäntelt.81 In den Handlungsweisen und Vorstellungen von Occupy wurden zudem folkpolitische Beschränkungen deutlich, was letztlich dazu führte, dass die Bewegung außerstande war, sich territorial auszudehnen, sich längerfristig zu halten oder sich politisch zu verallgemeinern. Gewiss hatten manche Strömungen in der Occupy-Bewegung gar nicht die Absicht, sich zu entfalten, zu halten oder zu verallgemeinern. Und manche Intellektuellen der Horizontalität (wenn auch nicht alle) betonen die besondere Dynamik einer relativ kurzlebigen, spontanen Politik oder vertreten die Auffassung, Beständigkeit sei »nicht unbedingt eine Tugend«.82 Doch beabsichtigt oder nicht, die in der Praxis der Bewegungen zum Ausdruck kommende Tendenz, zeitlich, räumlich und konzeptionell allein auf Unmittelbarkeit zu setzen, schwächte sie insgesamt und hinderte sie, kurzlebig wie sie waren, ihre grundlegenden Ziele ernsthaft zu verfolgen.

Ein Erkennungszeichen von Occupy war das horizontalistische Beharren auf direkter Demokratie. Nun kann eine solche die unterschiedlichsten Formen annehmen, und sie charakterisiert Arbeiterräte ebenso wie etwa die Demokratie der Schweizer Kantone. Bei Occupy wurde die General Assembly oder Vollversammlung zum dominanten Merkmal einer praktizierten direkten Demokratie.83 Angesichts der Erosion bestehender demokratischer Prinzipien eine neue Art demokratischen Handelns zu schaffen, gehörte zu den am weitesten verbreiteten politischen Ambitionen der Proteste.84 Indes wirkt auch direkte Demokratie unausweichlich restriktiv, sobald man sie als ein Ziel an sich verabsolutiert. Zunächst einmal erfordert diese Form demokratischen Handelns ein Niveau der Mitwirkung und des Engagements, das nur äußerst schwierig aufrechtzuerhalten ist. Ein Entwurf wie Parecon beispielsweise, ein Projekt partizipatorischer Ökonomie, sieht Verfahren direkter Demokratie in allen gesellschaftlichen Bereichen vor. In einer solchen Welt »nach dem Kapitalismus« würden Versammlungen der Beteiligten in jeder Verästelung des Alltags über jedes Detail entscheiden – schwerlich eine besonders inspirierende Vorstellung.85 Ähnliche Situationen entstanden in vielen Occupy-Versammlungen, wo selbst die banalsten Fragen akribisch im Kollektiv behandelt wurden.86 Die erbitterte Debatte, die während des Camps im Zuccotti Park über eine Gruppe lärmender Trommler entbrannte, bietet nur ein besonders absurdes Beispiel. Doch der eigentliche Punkt ist, dass direkte Demokratie ein erhebliches Maß an Beteiligung und Engagement verlangt – mit anderen Worten zunehmend Arbeit macht. In einem Augenblick revolutionären Enthusiasmus mag eine solche zusätzliche Belastung folgenlos bleiben, doch sobald die Normalität wieder Einzug hält, tritt sie einfach zu den gewöhnlichen Mühen des Alltags hinzu.87 Diese Zusatzbelastung durch die direkte Demokratie ist nicht zuletzt deshalb problematisch, weil auch sie tendenziell exklusiv wirkt: Wer es nicht einrichten kann, persönlich anwesend zu sein, wem größere Gruppen unangenehm sind oder wer Schwierigkeiten hat, öffentlich zu sprechen, der oder die wird ausgeschlossen – nicht zu vergessen all die anderen Exklusionsfaktoren wie Gender und Race, die ebenfalls eine Rolle spielen.88 Mit zunehmender Dauer der Besetzungen platzten General Assemblies immer häufiger, einfach unter der Last der Erschöpfung und des Überdrusses der Beteiligten. Das Problem der Demokratie heute, so lässt sich daraus schließen, besteht nicht darin, dass die Leute darauf aus wären, jeden einzelnen Aspekt ihres Lebens zu diskutieren und zu entscheiden; das wirkliche Demokratiedefizit liegt vielmehr in der Tatsache begründet, dass Durchschnittsmenschen jegliche Mitwirkung an wirklich bedeutenden gesellschaftlichen Entscheidungen entzogen ist.89 Die direkte Demokratie von Occupy ist eine Reaktion auf dieses Problem, doch versucht sie es zu lösen, indem sie Demokratie als direkte, körperliche Erfahrung inszeniert, die jedwede Vermittlung ablehnt. Hinzu kommt die Vorliebe für räumliche Unmittelbarkeit, die jede territoriale Ausbreitung hemmt. Einfach gesagt: Direkte Demokratie bedarf kleiner, überschaubarer Gemeinwesen. Bemerkenswerterweise wurde von den Hunderttausenden auf dem Tahrir-Platz in Kairo keine Vollversammlung einberufen, und selbst bei Occupy Wall Street nahm an der General Assembly nur ein Bruchteil der insgesamt Aktiven teil.90 Die Mechanismen und Ideale direkter Demokratie, die Diskussion von Angesicht zu Angesicht, sorgen dafür, dass eine solche Form politischer Beteiligung jenseits überschaubarer Gemeinwesen nur schwer zu realisieren ist und kaum als Antwort auf die Probleme der Demokratie auf regionaler, nationaler oder gar globaler Ebene gelten kann. Zudem ignoriert die räumliche Beschränkung direkter Demokratie die regressiven Aspekte kleiner sozialer Zusammenhänge. Nicht selten sind in solchen Gemeinschaften die aggressivsten Formen von Xenophobie, Homophobie und Rassismus zu Hause, und bösartige Gerüchte sowie alle möglichen sonstigen Arten rückwärtsgewandten Denkens gedeihen hier. Kleine Gemeinschaften, wie direkte Demokratie sie voraussetzt, sind für eine moderne linke Bewegung kein erstrebenswertes Ziel. Zudem kann eine partizipatorische Demokratie gut auf sie verzichten, insbesondere wenn sie sich der heute verfügbaren Kommunikationstechnologien bedient.

Im Bemühen um Konsens ein grundlegendes Ziel politischer Willensbildung zu sehen, ist eine weitere folkpolitische Einschränkung von Occupy. Konsens sollte dazu dienen, Entscheidungen für alle akzeptabel zu machen, was wiederum Unmittelbarkeit und Nähe voraussetzt. Der Anarchist David Graeber stellt fest: »Es ist in einer Gemeinschaft, in der jeder jeden persönlich kennt, viel leichter herauszubekommen, was die meisten Mitglieder dieser Gemeinschaft tun wollen, als herauszufinden, wie man die Ansichten derjenigen ändern kann, die das nicht wollen.«91 Doch was auf der einen Ebene – nämlich im Rahmen der erwähnten Gemeinschaft, in der jeder jeden persönlich kennt – gut funktioniert, lässt sich auf einer erweiterten Stufenleiter ungleich schwerer umsetzen. Im Fall einer relativ heterogenen Bewegung wie Occupy drückte sich das Bemühen um Konsens unausweichlich in Forderungen aus, die, wenn sie überhaupt zustandekamen, nichts weiter als den kleinsten gemeinsamen Nenner formulierten.

Letztlich glorifizierte man die Absenz gezielter Forderungen wortreich als irgendwie radikal. Innerhalb der Bewegung kursierte das Argument, Forderungen wirkten polarisierend und spaltend; insofern sie an »institutionelle« Mächte wie etwa den Staat appellierten, entfremdeten sie die Bewegung von sich selbst und verantworteten, dass jene Mächte die Bewegung vereinnahmten.92 Kritikerinnen einer solchen Position haben hingegen auf die durchaus vorhandenen positiven Aspekte einer Polarisierung hingewiesen: Zugespitzte Forderungen mögen manche Beteiligte verschrecken, doch gleichzeitig wirken sie mobilisierend auf andere, die sich für ihre Anliegen stärker engagieren. Und darüber hinaus tragen Zuspitzungen dazu bei, politische Differenzen innerhalb der Bewegung herauszuarbeiten – Differenzen, die in der Praxis häufig ignoriert werden, obwohl sie sich möglicherweise als unüberbrückbar erweisen.93

Auch die plakative Ablehnung jeglicher Form vertikaler Organisation bei Occupy stellte ein Problem dar, das sich insbesondere im Verhältnis zu anderen, mit den Zielen der Bewegung sympathisierenden politischen Gruppierungen zeigte. Während die Bewegungen in Ägypten und Tunesien nachdrücklich die Verbindung zu bestehenden politischen Strukturen der Arbeiterbewegung in ihren Ländern suchten, lehnten die Occupy-Bewegungen im Westen solche Beziehungen weithin ab.94 Die Ablehnung jeglicher vertikalen Organisation nun führte zu dreierlei: erstens zu einer häufig lähmenden Entscheidungsfindung. Wenn Occupy aktiv wurde, ging die eigentliche Aktion in der Regel von einer Untergruppierung aus, die auf eigene Faust handelte, und nur selten von der Vollversammlung mit ihren Konsensentscheidungen.95 Anders gesagt: Horizontalität führte nicht zur politischen Praxis. Zweitens lehrt die Erfahrung, dass hierarchische Organisationsstrukturen von wesentlicher Bedeutung sind, wenn es darum geht, eine Bewegung gegen die Staatsmacht zu verteidigen. Die Verteidigung der Besetzung gegen die polizeiliche Repression war nicht ein Verdienst der Horizontalität, sondern hierarchisch organisierter Gruppierungen, die ihre Mitglieder mobilisierten, um Occupy zu unterstützen.96 In Ägypten spielten Fußballfans und religiöse Organisationen eine zentrale Rolle bei der Verteidigung des Tahrir-Platzes gegen die Gewalt des Staates und der Reaktion.97 Drittens schließlich war die Ablehnung vertikaler Organisationsformen ein wichtiges Moment, das einer räumlichen und zeitlichen Expansion der Bewegung entgegenstand. Verbindungen zu Gewerkschafts- oder Bürgerrechtsgruppen und selbst zu politischen Parteien hätten Occupy Möglichkeiten jenseits folkpolitischer Beschränkungen bieten können. In Ägypten beispielsweise waren es organisierte Arbeiter, die den Massenprotest in einen (Beinahe‑)Ge­neralstreik verwandelten, der das Land lahmlegte und dem Mubarak-Regime den letzten Stoß versetzte.98 In Island, Griechenland und Spanien waren Verbindungen zu politischen Parteien hilfreich und konsolidierten die politischen Erfolge der Besetzungsbewegungen. Occupy hingegen unternahm niemals Schritte, wie sie notwendig gewesen wären, wollte man gesellschaftliche Strukturen umwälzen – trotz des expliziten Bemühens, die eigenen Vorstellungen zu propagieren, und trotz der tatsächlich gewonnenen öffentlichen Aufmerksamkeit.

Letztlich war es jedoch das Beharren auf einer rigiden präfigurativen Politik, das Occupy stark beeinträchtigte. Für eine solche Politik grundlegend ist die Haltung, eine künftige Welt bereits im Heute vorwegnehmen zu wollen – unsere Beziehungen zueinander zu verändern, um die postkapitalistische Zukunft im Hier und Jetzt zu leben. Exemplarische Aktionen wie Besetzungen spielen hierfür eine wichtige Rolle: In den besetzten Räumen soll eine nichtkapitalistische Welt Gestalt annehmen, die sich durch gegenseitige Hilfe, die Ablehnung von Hierarchien sowie eine rigorose direkte Demokratie auszeichnet. Zugleich sind solche Räume ihrem Selbstverständnis und ihrer Struktur nach immer schon temporär. Besetzungen schaffen keine Räume nachhaltiger Veränderung oder des Ausarbeitens konkreter Alternativen, und noch weniger haben sie die Ambition, dem globalisierten Kapitalismus die Stirn zu bieten. Sie sind temporäre Orte der flüchtigen Erfahrung unvermittelter Gemeinschaft.99 Ein Pamphlet einer studentischen Aktionsgruppe, das konkrete Forderungen als »reformistisch« ablehnt, beschreibt eine solche Haltung:

Sie [die Studierenden] betrachteten die Besetzung als einen Akt, der in das kapitalistische Raum- und Zeitgefüge eine momentane Öffnung reißt, als eine temporäre Neuanordnung, die eine neue Gesellschaft in Umrissen skizziert. Eine solche antireformistische Position findet uns an ihrer Seite. Natürlich wissen wir, dass befreite Zonen nur partiell und transitorisch bleiben, doch die zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen bestehende Spannung, die sie bloßlegen, kann eine Radikalisierung der Kämpfe forcieren.100

Das Bekenntnis zum temporären Charakter der Besetzung verbindet sich hier mit dem naiven Glauben daran, die Aktion könne zugleich der Funke sein, der den radikalen Wandel entfacht. Präfigurative Räume ringen aus guten Gründen permanent um ihren Fortbestand. Denn erstens sind sie auf vielfältige Weise auf Logistik angewiesen, sie brauchen Unterkunft, Verpflegung, Sanitär- und Gesundheitseinrichtungen sowie politische, moralische und juristische Unterstützung. In den meisten Fällen stellt eine präfigurative Gemeinschaft dies alles nicht selbst zur Verfügung, sondern baut auf das bestehende kapitalistische Umfeld.101 Die soziale Reproduktion eines Camps ist auch unter günstigsten Bedingungen schwierig, und selbst etablierten utopischen Gemeinschaften (die häufig religiöser Natur sind) gelingt es in der Regel nicht, unabhängig zu bleiben und sich ausschließlich selbst zu versorgen.102 Hinzu kommt, zweitens, dass präfigurative Räume häufig Behörden oder Unternehmen ein Dorn im Auge sind und entsprechend bekämpft werden – und falls nicht, so in der Regel, weil sie die herrschende Ordnung nicht wirklich bedrohen. Die Zapatistas beispielsweise genießen relative Freiheiten, weil Staat und Kapital in ihnen keine Gefahr sehen.103 Sobald ein präfigurativer Raum die bestehenden Verhältnisse ernsthaft bedroht, schlägt die Stunde der Repression, und spätestens dann erweist sich die Verabsolutierung des Horizontalismus als Belas­tung. Doch unter Umständen ignoriert präfigurative Politik auch einfach die Kräfte, die der Schaffung und Entfaltung einer neuen Welt entgegenstehen. Das bloße Einfordern und Ausprobieren einer anderen Welt jedenfalls reicht nicht aus, jene Kräfte zu überwinden. Die politische Bilanz der Repression gegen Occupy zeigt das.104

Die Frage, die sich präfigurative Politik daher unmittelbar stellen müsste, lautet daher: Wie kann unser politisches Handeln ausstrahlen und mehr erreichen?105 Selbst unter der recht problematischen Annahme, dass die meis­ten Menschen bereit wären, ein Leben wie die Aktivisten von Occupy zu führen, bliebe zu fragen, welche konkreten Schritte den beschränkten Raum des Camps physisch und sozial expandieren könnten. Wenn Intellektuelle auf diese Frage zu sprechen kommen, bleiben die Antworten gewöhnlich im Vagen: etwa, dass verstreute Momente angeblich »eine Resonanz« fänden, alltägliche Formen des Handelns irgendwann zu einem qualitativen Sprung führten, der die gesellschaftlichen Verhältnisse »knackt«, sich Revolten und Blockaden »ausbreiten und vervielfachen«, Erfahrungen die Beteiligten »kontaminieren« würden oder Nester präfigurativen Widerstands einfach »spontan aufbrechen«.106

Wie auch immer, die Schwierigkeit, den Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Lokalen zum Globalen, vom Temporären zum Permanenten zu beschreiben, wird durch Wunschdenken übergangen. Die strategischen Notwendigkeiten – die politische Bewegung zu verbreitern, auszuweiten und zu verallgemeinern – bleiben Leerstellen.

Obgleich es Occupy insgesamt nicht gelang, Grenzen zu überwinden und die präfigurativen Räume in die Gesellschaft hinein zu erweitern, spielten die Protestcamps eine wichtige Rolle als Ausgangspunkte politischer Interventionen. Tatsächlich war es eine der bedeutendsten Errungenschaften der Occupy-Bewegungen, eine soziale und physische Infrastruktur für die verschiedensten Formen direkter Aktion zu etablieren. In verschiedenen Ländern, etwa in Griechenland und in Spanien, wurden Schuldnerstreiks organisiert oder wilde Ausstände durch Streikposten unterstützt. Andere Occupy-Bewegungen beteiligten sich an Hausbesetzungen, versorgten Obdachlose mit Nahrungsmitteln, betrieben Piratensender, mobilisierten zum Widerstand gegen Zwangsräumungen, protestierten gegen Kürzungen staatlicher Beihilfen oder leisteten nach Naturkatastrophen humanitäre Hilfe. Doch sollte die Rolle von Occupy auch nicht überbewertet werden.

Beispielsweise konnte der Widerstand gegen Zwangsräumungen und -vollstreckungen an die Arbeit bereits länger existierender politischer Kampagnen anknüpfen, etwa die der von schwarzen Aktivistinnen und Aktivisten getragenen Bewegung Take Back the Land.107 Das grundlegendere Problem ist indes, dass direkte Ak­tion Oberflächenphänomene aufgreift, die Wunden sieht, die der Kapitalismus schlägt, doch die zugrundeliegenden Probleme und Strukturen nicht berührt. Zwangsräumungen gibt es weiterhin zuhauf, die Verschuldung privater Haushalte erreicht neue Rekordstände, Beschäftigte werden auf die Straße gesetzt und die Zahl der Obdachlosen steigt weiter steil an. So waren es letztlich die Grenzen einer Propaganda der Tat, die Occupy offensichtlich werden ließ.108 Direkte Aktion kann erfolgreich sein, doch bleiben ihre Erfolge folkpolitisch bedingt und insofern räumlich und zeitlich beschränkt. Sie mag imstande sein, die schlimmsten Exzesse des Kapitalismus abzumildern, doch konzentriert sie sich häufig auf intuitiv erfassbare Ziele und wird daher niemals eine Antwort auf das Problem finden, wie sich eine global vernetzte Abstraktion bekämpfen lässt.109 Das Projekt einer expansiven Linken – einer Linken, deren Ziel es ist, den Kapitalismus grundlegend umzuwälzen – bleibt außen vor.

Das Bild von Occupy, das sich daraus ergibt, zeigt eine Bewegung, die untrennbar verbunden war mit bestimmten Annahmen über die politischen Vorteile lokaler Räume, kleiner Gemeinschaften, direkter Demokratie und temporärer Autonomie an den Rändern der Gesellschaft. Derartige Überzeugungen machten es unmöglich, räumlich zu expandieren, nachhaltige Veränderungen zu etablieren und sich selbst zu verallgemeinern. Wirkliche Erfolge errang Occupy als eine Bewegung der Solidarität, die den Erniedrigten und Marginalisierten eine Stimme gab und öffentliches Bewusstsein weckte. Doch insgesamt blieb sie ein Archipel präfigurativer Inseln inmitten einer unerbittlich feindseligen kapitalistischen Umwelt. Der unmittelbare Grund für die Niederlage von Occupy war die staatliche Repression, die rücksichtslose Räumung der besetzten Plätze überall in den USA durch polizeiliche Aufstandsbekämpfungseinheiten. Die strukturellen Gründe für das Scheitern aber lagen in den Überzeugungen und Praktiken der Bewegung. Ohne den Brennpunkt der besetzten Räume zerfiel die Bewegung und löste sich auf.

Letzten Endes hatte die Organisationsform von Occupy keine Antwort auf das Problem, wie die Bewegung hätte expandieren und eine Form von Gegenmacht entwickeln können, um der unausweichlichen staatlichen Reaktion Widerstand entgegenzusetzen. Was in einem bestimmten Rahmen – mit vielleicht hundert Beteiligten – möglicherwiese funktioniert, wird schwieriger, je weiter der Kreis gezogen wird.110

Sucht linke Politik wirklich die Auseinandersetzung mit globalen Akteuren – mit dem neoliberalen Kapitalismus und dessen Entscheidungsstrukturen, mit führenden Staaten samt ihrer Militär- und Polizeiapparate sowie mit all den Konzernen und Banken weltweit –, dann ist es unumgänglich, die Ebene des Lokalen zu verlassen. Von Bewegungen wie Occupy ist gewiss viel zu lernen, doch bleiben sie auf sich gestellt außerstande, die Verhältnisse im Großen zu verändern.

Die Zukunft erfinden

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