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Kapitel 1

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Yellowstone National Park

Wyoming

Gegenwart

Harvey Ben Bennett schob das Ende seines Gewehrs vorsichtig zwischen zwei Büschen hindurch. Dann verlagerte er sein linkes Bein, weg von dem Stein, auf dem er gekniet hatte. Dabei hielt er das Gewehr ruhig und stützte es auf einem kleinen Ast ab. Er betrachtete das Schauspiel durch sein Zielfernrohr.

Auf der Lichtung war der Grizzly gerade damit beschäftigt, in einer umgestürzten Kühlbox zu wühlen. Das Weibchen, das klein für ihr Alter war, aber trotz allem nicht weniger gefährlich, grunzte vor Entzückung, als sie den Bacon und die Pfannkuchen entdeckte.

Die Camper waren schon lange geflohen, und hatten sich bei der Parkleitung über einen Problembären in der Gegend beschwert. Sie waren besorgt gewesen, dass der Bär in ihr Lager einfallen und ihre Kinder erschrecken oder Schlimmeres anstellen würde.

Dass der Bär genau das tat, was seiner Natur entsprach, dachte Ben kopfschüttelnd.

Diese Art von Touristen waren die Allerschlimmsten. Sie ließen all ihren Müll zurück, beschwerten sich ununterbrochen und scherten sich dabei kein bisschen um das empfindliche Gleichgewicht des Ökosystems, in das sie einfach so eingedrungen waren.

Leute aus der Stadt sahen Camping irgendwie als luxuriösen Kluburlaub mit All-Inclusive-Paket an. Als wäre die Natur einzig und allein dazu da, sie zu erfreuen. Ben hasste diesen Typ Mensch beinahe ebenso sehr wie diesen Teil seiner Arbeit.

Problemtiere, vom Waschbären bis hin zu Grizzlys, schreckten die Touristen ab und waren daher unerwünscht. Die Leute wussten einfach nicht, wie sie mit wilden Tieren auf Nahrungssuche umgehen mussten, und tendierten meistens dazu, einfach auszuflippen, und dachten, sie würden gleich angegriffen werden, anstatt den Ort einfach ruhig zu verlassen und einen Ranger zu suchen.

Ben schob ein Projektil in die Kammer und visierte sein Ziel an. Dann schloss er abwechselnd jedes Auge, prüfte die Entfernung und versuchte abzuschätzen, wohin sich das Tier als Nächstes bewegen würde. Sein linkes Auge gab jetzt den Blick auf das angebrachte Manometer frei, während er weiterhin durch das Zielfernrohr sah, und erlaubte es ihm, den Luftdruck einzubeziehen, ohne dabei das Ziel aus den Augen zu verlieren. Der Lauf aus Metall und das amerikanische Nussholz des Kolbens fühlten sich warm und lebendig in seinen Händen an. Es war eine äußerst komfortable Waffe und Ben war sehr zufrieden mit der Anschaffung seiner Abteilung.

Er sah die dicken Nackenmuskeln der Bärin arbeiten, als sie ein Stück Pappe aus dem stinkenden Müllhaufen riss, den sie entdeckt hatte.

Das war noch etwas, das Ben an diesen Leuten nicht ausstehen konnte. Sie hatten keinerlei Absicht, irgendetwas dazuzulernen … wie und was man in der Wildnis kochte, wie man Nahrung fand … sie wollten während ihres Ausflugs in die Ursprünglichkeit schließlich den Komfort der modernen Welt genießen.

Die Bärin hob ihren Kopf leicht an und Ben konnte einen Blick auf ihr linkes Auge erhaschen.

Der graue Schimmer, der darauf lag, verriet ihr hohes Alter, und er erkannte, dass es sich um den Grizzly, namens Mo handelte.

Ben kannte den Grizzly von früheren Begegnungen. Er hatte vor zwei Jahren und noch einmal vor wenigen Monaten im letzten Sommer zwei Teams dabei geholfen, sie umzusiedeln.

Ben seufzte und konzentrierte sich auf die Luft, die seine Lunge verließ. Er atmete noch einmal kurz ein und hielt dann den Atem an. Anschließend zählte er bis fünf und betätigte den Abzug.

Das sanfte Ploppgeräusch überraschte ihn noch immer. Die von Menschenhand erschaffene Maschine, die er gerade abgefeuert hatte, wirkte in der unberührten Natur gänzlich fehl am Platz. Nun war plötzlich er es, der in die natürliche Ordnung eingriff und er hatte ein unglaublich schlechtes Gewissen deswegen.

Das Fell der Bärin sträubte sich und sie richtete sich nun plötzlich abrupt auf, während ihr Rücken immer noch Ben zugewandt war. Sie drehte sich nun langsam um und ihr Kopf schwankte, als das Betäubungsmittel seine Wirkung entfaltete. Mo, der Grizzly würde ihn nicht angreifen. Der Pfeil störte das Tier nicht mehr als ein herabfallender Zweig, aber Ben wusste, dass die zwei Milligramm Etorphin und Acepromazinmaleat, die der Pfeil in ihren Körper injiziert hatte, mehr als ausreichend waren, um die Bärin ruhigzustellen.

Ben wartete ab, um die Bärin nicht unnötig zu erschrecken, denn ein Tier zu verärgern oder aufzuregen, kurz bevor es ohnmächtig wurde, bedeutete nur vermeidbaren Stress, der das Tier womöglich gefährden könnte. Ein paar Sekunden später gab der Grizzly ein tiefes Stöhnen von sich, während er sich auf die Hinterbeine stellte. Er drehte sich unsicher im Kreis und fiel dann zu Boden. Der Grizzly ließ sich daraufhin auf dem feuchten Laub nieder und der Körper erschlaffte.

Ben wartete eine volle Minute, bevor er aus seinem Versteck trat. Er schob sich durch das Gebüsch, ohne die Zweige beiseitezuschieben, überquerte die Lichtung und beugte sich dann über das Tier.

»Sorry, Mo«, sagte er leise. »Aber du musst wieder hoch in den Norden.« Er entfernte die kleine Gaskartusche aus dem Lauf des Gewehrs und steckte sie in seine Tasche, dann kniete er sich hin und fand den roten Betäubungspfeil in der linken Flanke des Bären.

Die Pfeile waren wiederverwendbar und sehr teuer, deshalb war es den Rangern untersagt, sie einfach in den Parks liegenzulassen, selbst wenn sie irgendwann kaputt waren.

Ben nahm das Walkie-Talkie von seinem Gürtel und schaltete es ein.

»Hier ist Bennett«, sprach er in das Gerät. »Ich habe Mo hier im Dornröschenschlaf und bitte um Unterstützung bei der Umsiedlung.«

Das Funkgerät knackste und erwachte dann zum Leben.

»Okay, markiere die Position und warte anschließend auf Bestätigung. Wir schicken dir eine Crew – Out.«

Ben steckte sein Handfunkgerät wieder weg und holte stattdessen sein Smartphone hervor. Dort öffnete er eine App und tippte ein paar Mal auf das Display, womit er seinen derzeitigen Standort markierte, und aktivierte anschließend den GPS-Sender.

Innerhalb kürzester Zeit erschien eine Crew aus vier Männern und zwei Frauen am Lagerplatz und begann den Grizzly auf ein Brett zu schnallen.

Die Ranger würden Mo in einen anderen Teil des Parks umsiedeln, wo weniger Publikums-Verkehr herrschte, denn früher oder später würde sie wieder herunterwandern, angezogen von den verlockenden Gelegenheiten, die ignorante Camper zwangsläufig zurückließen.

Dies war bereits Mos dritter Umsiedlungsversuch, und Ben befürchtete, dass es ihr letzter war.

Komm nicht wieder hier runter, Mo, flehte Ben den schlafenden Riesen im Stillen an. Ich werde dir nicht immer helfen können.

DER ENIGMA-VIRUS

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