Читать книгу Das Herz der Feuerinsel - Nicole-C. Vosseler - Страница 12

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Schwarz wie chinesische Tusche spannte sich das Firmament von Horizont zu Horizont, übersät von den Silbersprengseln der Sterne. Der fast runde Mond zog eine schimmernde Bahn durch das schlehendunkle Wasser des Indischen Ozeans und tauchte das Deck in sein opalisierendes Licht.

Das Brummen der Maschinen verlieh dem Rauschen des Meeres mehr Gewicht, und heller klang das Flüstern der Wellen, die am eisernen Leib des Dampfers aufschäumten. Die Nacht war warm, und die Wolldecken, die Jacobina und Floortje sich um die Schultern gelegt hatten, hielten den Wind ab.

Jacobinas Wangen brannten. Sie verwünschte den Zauber dieser Nacht auf See, aus Dunkelheit und Silberlicht, aus der unfassbaren Weite von Himmel und Ozean, der sie schwach gemacht hatte. Die Zunge hatte ihr dieser Zauber gelöst und sie ihr Herz ausschütten lassen, und mit jedem Herzschlag, den Floortje länger schwieg, bereute sie es mehr. Sie zog die Knie näher heran und wickelte sich enger in die Decke; ohne sich dessen bewusst zu sein, wurde sie damit zum Spiegelbild Floortjes, die in genau derselben Haltung auf der Liege nebenan kauerte.

»Das tut mir so leid«, flüsterte Floortje endlich, »dass es dir mit Tine so ergangen ist. Diese blöde Pute! Ich hätte große Lust, ihr den Hals umzudrehen.«

Um Jacobinas Mundwinkel zuckte es; es tat noch immer weh, an Tine zu denken, aber es war ein gutes, wohliges Gefühl, dass Floortje sie verstand und sich auf ihre Seite schlug. Womöglich musste es ihr doch nicht peinlich sein, sich ihr anvertraut zu haben.

»Zu schade, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind«, fuhr Floortje fort und kicherte. »Vielleicht hätte dein Bruder diese dumme Gans dann fallengelassen und lieber mich geheiratet! Tines Gesicht hätte ich dann zu gerne gesehen!«

Ein metallischer Geschmack stieg in Jacobinas Mund auf. »An Henrik hättest du keine Freude gehabt«, entfuhr es ihr. »Nicht an diesem pedantischen Langweiler.« Sie erstarrte. Da – sie hatte es gesagt; das, was sie all die Jahre immer nur heimlich und versteckt gedacht hatte.

Floortje prustete los, und Jacobina schlug schnell die Hand vor den Mund, um das erschrockene Lachen zurückzudrängen, das in ihrer Kehle aufwärtsdrängte. Gewagt kam es ihr vor, so leichtfertig über diese Dinge zu reden, wie Floortje es tat; gleichwohl löste sie die Hand von ihrem Mund und versuchte, es ihr gleichzutun. »Falls alle Stricke reißen sollten – ich hätte noch einen zweiten Bruder als Mann für dich in petto.«

»Oh, wirklich?«, rief Floortje begeistert aus. »Wie alt?«

»Martin wird im September zwanzig.«

Floortje schnaubte abfällig. »Noch so ein Grünschnabel! Viieeelll zu jung für mich … Aber hab Dank für das großzügige Angebot«, fügte sie hoheitsvoll hinzu, und beide kicherten vergnügt vor sich hin. Die Fröhlichkeit Floortjes tröpfelte aus; ernst klang sie, zärtlich und ein bisschen traurig, als sie leise sagte: »Ich hab auch einen kleinen Bruder. Piet. Fünfzehn müsste er jetzt sein.« Sie machte eine kurze Pause. »Ja, fünfzehn.« Ihre bestrumpften Füße bewegten sich unruhig über das Polster der Liege. »Ich kann ihn mir gar nicht als Halbwüchsigen vorstellen. Ich sehe ihn immer noch als kleinen Knirps vor mir, wie damals, vor über zehn Jahren.«

Jacobinas Kehle wurde eng. »Was ist passiert?«

Floortje starrte vor sich hin, unschlüssig, ob sie Jacobina wirklich davon erzählen wollte. Ihr aufrichtig davon erzählen und nicht etwa, um Mitleid zu erregen und dadurch Zuneigung zu gewinnen. Darauf verstand sie sich gut, das hatte sie früh gelernt. Aber gerade bei Jacobina war es ihr wichtig, ehrlich zu sein, und sie war ein klein wenig stolz darauf, dass ihr das bislang gelungen war. Obwohl sie gleichzeitig fürchtete, Jacobina, die in solch gesicherten Verhältnissen und so überbehütet aufgewachsen war, würde sich von ihr abwenden, wüsste sie mehr über sie.

»Mein Vater …«, begann sie schließlich. Dieser stolze, schöne Mann in seinen eleganten Anzügen, viel zu vornehm für einen einfachen Kurzwarenhändler, das Haar beinahe schwarz vor Pomade. Mit seinem dunklen Bart, der die kleine Floortje so herrlich kitzelte, wenn er sie in seine Arme zog und ihr einen Kuss gab. Mein Püppchen. Mein Augenstern. Dessen Augen, von hellem Grünblau wie ihre eigenen, strahlten, wenn sie das kleine Mädchen betrachteten. »Mein Vater hat ihn zu sich geholt. Zu sich nach Amsterdam.«

»Und dich konnte er nicht mitnehmen?«

Floortje zog die Knie noch weiter heran, rieb die Wange an ihrer Schulter und verkroch sich tiefer in der Decke. »Seine neue Frau dort hat so entschieden. Sie wollte nur Piet.« Ihr wurde heiß, heiß vor Angst, dass sie sich schon zu weit vorgewagt hatte.

»Ach, Floortje.« Jacobina streckte die Hand nach Floortje aus, zögerte und legte sie ihr dann doch vorsichtig auf die Schulter. Es versetzte ihr einen Stich, dass Floortje unter ihren Fingern einen Deut zurückwich, ohne sich ihr wirklich zu entziehen; dasselbe Abrücken vor zu viel Nähe, das sie von sich selbst so gut kannte.

Ein flammendes Hochgefühl schoss durch Floortje hindurch, dass sie Jacobina so weit gebracht hatte, sich dazu zu überwinden. Ausgerechnet die nüchterne, unnahbare Jacobina, die Berührungen mied wie der Teufel das Weihwasser. Ein Gefühl des Triumphs war es, als hätte sie Jacobina mit einer besonders gerissenen Lügengeschichte ausgetrickst. Nur eine Lüge mehr, die zu all den anderen Lügen, den dramatisch ausgeschmückten Flunkereien hinzukam; nicht der Rede und schon gar nicht der Reue wert. All diese Lügen, die so viel besser waren als die Wahrheit, die Floortje von sich selbst fernhielt, so gut sie konnte. Als hätte es das kleine Mädchen nie gegeben, das im Haus ihrer Tante und ihres Onkels in Sneek am Fenster gestanden war, hinter der weißen Spitzengardine, und Stunde um Stunde, Tag um Tag, darauf gewartet hatte, dass sein Vater endlich aus der großen Stadt zurückkam, um das Mädchen abzuholen. So wie er Piet abgeholt hatte. Keine Sekunde lang hatte er Floortje in die Augen gesehen, ihr nur mit zitternden Fingern flüchtig über den Kopf gestrichen und sich kein einziges Mal umgedreht, als er mit Piet aus dem Haus gegangen war, so heftig Floortje sich auch im festen Griff von Onkel Ewoud gewunden und so laut sie auch geschrien und geweint hatte.

Die Stichflamme des Triumphs erstickte so plötzlich, wie sie aufgelodert war; stattdessen breitete sich tiefe Traurigkeit in Floortje aus. Weil ihr mit noch nicht einmal ganz neunzehn die Wahrheit manchmal vorkam wie eine Lüge und die Lüge ihr oft näher war als die Wirklichkeit. Weil sie fürchtete, auch nur ein Stückchen ans Licht gebrachte Wahrheit würde mehr davon nach sich ziehen, wie eine Lüge stets weitere nach sich zog, bis nichts von dem, was an der Wahrheit hässlich und abstoßend war, mehr verborgen blieb. In Batavia werd ich ehrlich sein können. So wie mit Jacobina. Bestimmt werd ich das.

Sie tastete blind nach Jacobinas Hand, die noch immer auf ihrer Schulter lag, wenn auch nur halbherzig, und umklammerte sie. Erleichtert spürte sie, wie Jacobina ihren Händedruck erwiderte. Als verkörperte Jacobina alles, was gut und richtig war, anständig, wahr und echt, hatte sie das Bedürfnis, diese Hand nicht mehr loszulassen.

»Floortje, schau«, hörte sie Jacobina raunen, und sie sah auf, folgte mit den Augen Jacobinas Zeigefinger, der Richtung Himmel wies. Ein silbern leuchtender Streif zog sich quer darüber; der Schweif einer Sternschnuppe, die auf den Horizont zustürzte.

»Das ist ein Zeichen«, wisperte Floortje, atemlos vor Glück.

Jacobina widersprach nicht. In dieser Nacht auf See konnte selbst das nüchternste Gemüt nicht anders, als diese Erscheinung als einen Fingerzeig des Himmels zu verstehen, dass auf dieser Reise ein Segen lag.

Dass es für Jacobina und Floortje eine Reise ins Glück sein würde.

Das Herz der Feuerinsel

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