Читать книгу Das Herz der Feuerinsel - Nicole-C. Vosseler - Страница 17
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ОглавлениеBatavia, den 30. August 1882
Sehr geehrter Herr Vater,
verehrte Frau Mutter,
ich bitte um Nachsicht, dass ich nach den wenigen Zeilen, mit denen ich Sie im Juni von meiner sicheren und gesunden Ankunft hier in Kenntnis setzte, bis heute nichts mehr von mir hören ließ. Auch wenn es nach einer Ausrede klingt, entspricht es doch der Wahrheit, dass die Tage in den Tropen sehr kurz sind, und meine sind überdies mit meinen Aufgaben als Lehrerin und Gouvernante ausgefüllt. Aufgaben, die mir große Freude bereiten, denn meine beiden Zöglinge haben sich nicht nur als äußerst wissbegierig und lernfreudig herausgestellt, sondern darüber hinaus auch als überaus liebenswert und brav.
Hier ist doch vieles anders als bei uns im Amsterdam. Nicht nur das Klima und die Landschaft, sondern auch die ganze Lebensart. Nach der einen oder anderen Anfangsschwierigkeit, die allein mir anzulasten gewesen war, vermag ich doch schon die Behauptung aufzustellen, mich hier sehr gut eingelebt zu haben, und es wird Sie sicher freuen, dass Frau de Jong und der Herr Major sehr zufrieden mit meiner Arbeit und meinem Betragen sind.
Ich hoffe, Sie beide befinden sich bei guter Gesundheit und sind auch sonst wohlauf.
Meine besten Wünsche auch an Martin und Henrik mit Tine.
Die herzlichsten Grüße aus der Fremde übersendet Ihnen Ihre ergebene Tochter
Jacobina van der Beek
Die Zeilen, die Jacobina nach Amsterdam schrieb, kamen ihr selbst dürftig und steif vor. Sie waren jedoch in Aussage und Wortwahl genau das, was ihre Eltern von ihr erwarteten, und noch vor drei Monaten hätte Jacobina diesen Brief gehorsam verfasst, ohne weiter darüber nachzudenken, was sie da schrieb – und wie wenig diese Worte dem entsprachen, was sie jeden Tag umgab, was sie erlebte, was sie beschäftigte und was sie dachte und fühlte.
Man schrieb Julius und Bertha van der Beek einfach nicht von roten Pusteln, die sich nach ein paar Tagen in diesem schweißtreibenden Klima auf Jacobinas Gesicht und Hals gebildet hatten, bis Endah, die sich auch um Haut und Haar von Frau de Jong kümmerte, sich mit verschiedenen Tinkturen und Salben ihrer angenommen hatte, mit dem Ergebnis, dass Jacobinas Haut zarter und klarer wirkte als früher und nach Blüten und Gewürzen duftete. Und genauso wenig konnte sie darüber berichten, dass sich ihr Gaumen zwar nach und nach an Chili und viel Pfeffer, an Ingwer, Kurkuma und Zitronengras gewöhnte, Magen und Darm aber zwischendurch heftig gegen die fremde Küche rebelliert hatten, sodass Jacobina schon geglaubt hatte, sie leide an der Ruhr und müsse sterben.
Um keinen Preis hätte sie zugegeben, wie es sich für sie, die sie ohnehin so großgewachsen war, anfühlte, den ganzen Tag von Dienstboten umgeben zu sein, die ihr noch nicht einmal bis zur Schulter reichten. Wie eine schwerfällige Riesin unter lauter flinken Elfenwesen kam sie sich vor, zwischen all den Frauen und Mädchen, die auf eine fremdartige Weise besonders schön waren mit ihrer honigbraunen Haut, den dunklen Mandelaugen und dem lackschwarzen Haar. Deren fein gezeichneten, mädchenhaften Zügen auch ein fortgeschritteneres Lebensalter kaum etwas anhaben konnte, die sich so anmutig bewegten und die so zierlich wirkten; selbst diejenigen, deren Wickelröcke sich an breite Hüften und pralle Hinterteile schmiegten und unter deren Blusen sich ein üppiger Busen abzeichnete, erinnerten in den seidigen Stoffen in Fuchsia, Veilchenblau, Lachsrosa, Pomeranzengelb und Apfelgrün an prächtige Tropenfalter, die durch das Haus und über die Veranda schwebten.
Vermutlich hätte es Bertha van der Beek, selbst Herrin über eine beachtliche Dienerschaft, gefallen, dass ihre Tochter im Haushalt der de Jongs von einer ganzen Schar an Dienstboten umsorgt wurde, von denen jeder eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen hatte. Endah würde sich niemals um die Kleidung von Frau de Jong kümmern, das übernahm ein anderes Mädchen, während ein wieder anderes die Leintücher bügelte, niemals aber die Tischtücher, um die sich ein weiteres Dienstmädchen kümmerte. Für das Bettenmachen gab es ein Mädchen und eine ganze Reihe, die sich das Saubermachen nach streng abgegrenzten Bereichen aufteilten. Die Köche bereiteten zwar die Mahlzeiten zu, das Herrichten und Vorbereiten der Zutaten jedoch fiel den Küchenhilfen jeweils für Fleisch, für Fisch, Gemüse und Obst zu. Es gab sogar einen Gärtnergehilfen, der sich allein darum kümmerte, möglichst viel Ungeziefer von der Veranda zu vertreiben und den Rasen nach Schlangen abzusuchen, und spillerige Burschen, kaum dem Kindesalter entwachsen, zogen stundenlang mit gleichmütigem Gesichtsausdruck an den Enden der Seile, die die punkahs, die an der Decke befestigten Schwingfächer, in Bewegung hielten. Und die Sitte, die Herrschaft mit ehrerbietigen Bezeichnungen anzureden wie tuan für Herr, nyonya für Herrin oder gar nyonya besar für große Herrin und selbst kleine Kinder wie Jeroen und Ida mit nyo und non anzusprechen, eine liebevolle Abkürzung für junger Herr und Fräulein, hätte Bertha van der Beek mit Wohlwollen betrachtet.
Weniger gut hätte es Jacobinas Mutter gefallen, wie unschicklich man sich in der feinen Gesellschaft von Batavia benahm, auf die Jacobina manchmal einen Blick im Hause de Jong erhaschte. Damen, die zu ihrem teuren Schmuck die zwar hauchfeinen, aber simplen Blusen und Wickelröcke trugen, da Kleider und elegante Roben nach Pariser Mode größeren gesellschaftlichen Anlässen wie festlichen Diners, Bällen und Paraden vorbehalten waren. Damen, die die Angewohnheit hatten, ungeniert herauszulachen, laut zu sprechen und wild zu gestikulieren, und nicht allein diejenigen unter ihnen, bei denen Form und Farbe der Augen, das dunkle Haar und der tief karamellfarbene Teint den Schluss zuließen, dass malaiisches Blut in ihren Adern floss. Mit herzlichen Umarmungen und Wangenküssen begrüßte man sich hier, und nicht selten saßen die Damen, die zu Besuch kamen, stundenlang mit Frau de Jong auf Matten, die auf dem Boden ausgebreitet waren, und spielten mit Würfeln und Karten um Geld, während sich die Herren schon mittags bei Arrak oder Cocktails zusammenfanden, Zigarren rauchten und dabei bis in die Nacht hinein einen solchen Lärm veranstalteten wie in einer Hafenkaschemme. Die ohnehin spät aufgetragenen Mahlzeiten dehnten sich über Stunden hinweg aus, wie auch eine ausgiebige Mittagsruhe zum guten Ton gehörte. Bertha van der Beek, die nie ohne eine Handarbeit am Kamin saß, hätte wohl vieles hier in Batavia mit der alten Weisheit, für müßige Hände fände nur der Teufel Arbeit, gerügt. Schließlich wäre ihre Mutter ähnlich schockiert wie Jacobina selbst gewesen, hätte sie davon erfahren, wie Jacobina einmal zu Frau de Jong bestellt wurde und sie bäuchlings auf einer Matte am Boden liegend vorfand. Nur ein Tuch um die Hüften geschlungen, hatte sie sich nach den Fortschritten der Kinder erkundigt, während eine Malaiin ihr den eingeölten Rücken durchwalkte.
Wie eine Forelle, die sich durch die Strömung flussaufwärts kämpft, war Jacobina sich in den ersten Tagen und Wochen hier vorgekommen, nachdem so vieles, was hier alltäglich war, bei ihr auf Widerstand stieß, ihr ungehörig vorkam oder peinlich war. Doch so wie Jacobina sich stets allem gefügt und alles erduldet hatte, gab sie schließlich auch diesen Widerstand auf und ließ sich von dem sprudelnden Strom mittragen, der das Leben im Haus am Koningsplein Oost durchfloss und in ihr die Ahnung einer ungekannten Freiheit aufkeimen ließ.
Vor allem über diese Freiheit mochte sie ihren Eltern nicht schreiben. Dass es im Haus kein Schulzimmer mit Tafel gab und keine Schulbücher außer der Fibel, die sie selbst mitgebracht hatte. Ihr Unterrichtszimmer waren stattdessen der Garten und das Haus, in dem es keine verbotenen Zimmer gab, in dem alles berührt und ausprobiert werden durfte, um Ida und Jeroen die holländischen Namen der Gegenstände beizubringen. Und ein Garten, in dem sie mit den Kindern spielte und dabei Holländisch sprach, ohne Lehrplan, ohne strenge Oberaufsicht, ohne Regeln außer jenen, die sie selbst bestimmte. Die Freiheit vor allem, vieles von dem, was sie in Amsterdam über Jahre hinweg gelernt hatte, war es anerzogen, abgeschaut oder aus bitterer Erfahrung geboren, über Bord zu werfen, weil es hier keine Gültigkeit besaß. Eine Freiheit von steifer Kleidung und steifem Benehmen, von der sie ihren Eltern nicht schreiben konnte, weil sie wusste, sie hätte ihnen in höchstem Maße missfallen; womöglich hätten sie sogar Henrik geschickt, um seine Schwester wieder nach Hause zu holen, ehe Ostindien sie vollends verdarb.
Und sie schrieb auch nichts über die Farben, die in der Sonne und der feuchtheißen Luft, in einem Licht, das alles leuchten ließ, so intensiv waren, dass sie förmlich aus dem saftigen Grün hervorknallten. Nicht darüber, dass der Leib zwar träge wurde in der tropischen Hitze, der Geist erlahmte, der Seele aber Flügel wuchsen. Auch über die Düfte, so fremd, so anziehend in ihrer schwülen Süße, der aromatischen Frische und schweren Würze, schrieb sie nichts.
Allein deshalb, weil Jacobina die Worte dafür fehlten.
»Los geht’s! Und nicht schummeln!«
Jeroen, in weiten, dreiviertellangen Hosen und lockerem Hemd, drehte sich um und legte die Hände vor die Augen. »Eins«, begann er langsam auf Holländisch abzuzählen. »Zwei … drei …«
Jacobina nahm Ida bei der Hand und lief in leicht gebückter Haltung mit ihr über den Rasen, so schnell es die kurzen Beinchen des kleinen Mädchens erlaubten. Ida, ein Lachen auf dem Gesicht, gab sich alle Mühe; in ihrem Wickelrock und dem weißen Blüschen, beides eine Miniaturausgabe der Kleidung ihrer Mutter, rannte sie auf bloßen Füßen vorwärts, dass ihr blondes Haar hinter ihr herflatterte.
»… sieben … acht …« Jeroen zögerte. »Acht«, wiederholte er grüblerisch und zögerte wieder; dann rief er laut: »Was kommt nach acht?!« Es war erstaunlich, welche Fortschritte der Junge seit Jacobinas Ankunft gemacht hatte; als wäre die Muttersprache seiner Eltern bei ihm lediglich verschüttet gewesen und durch Jacobina nur wieder freigeschaufelt worden.
»Neun«, rief Jacobina im Laufen zurück.
»Acht … neun …«
»Komm, schnell«, flüsterte sie Ida zu. Sie hatten die Veranda erreicht, und Jacobina zog das kleine Mädchen hinter einen Hortensienbusch mit himmelblauen Blütenbällen.
»… elf … zzz-zwöllf …«
Jacobina ließ Idas Hand los, schürzte ihren Rock und kniete sich auf die Erde. Nachdem ihr einige Male schwindelig geworden war, weil sich ihre langen Röcke und die hochgeschlossenen Blusen trotz der leichten Stoffe als zu warm für das tropische Klima herausgestellt hatten, hatte Jacobina schließlich keine andere Wahl gehabt und trug seither genau wie alle anderen Frauen auch den sarong, den einheimischen Wickelrock, und die kebaya, die dazugehörige weiße Bluse, manchmal auf Holländisch zu baadje verniedlicht. Mittlerweile konnte sie sich auch keine andere Kleidung mehr vorstellen, der Sarong war luftig und die Kebaya aus solch feinem Stoff, dass sie kaum zu spüren war. Und da sie in ihren festen Schuhen förmlich geschwommen war, ging sie in Haus und Garten inzwischen ebenfalls barfuß umher.
»… vierzehn … fünfzehn …«
Ida kicherte, und Jacobina legte den Finger an die Lippen. »Schhh«, machte sie und fügte im Flüsterton hinzu: »Wir müssen leise sein!«
Das kleine Mädchen ahmte die Geste nach und nickte. »Leise«, piepste es hinter seinem Finger hervor und kicherte wieder.
Auch Ida verstand inzwischen sehr viel mehr Holländisch als noch vor drei Monaten, und Jacobina kam meistens ohne Melatis Hilfe aus. Wenn es dem kleinen Mädchen auch gleich zu sein schien, ob es nun malaiische Worte oder holländische benutzte; mal verwendete Ida das eine, mal das andere und oft eine Mischung aus beiden.
»… neunzehn … zwanzig! – Kommeee!«
Jacobina duckte sich tiefer hinter den Hortensienstrauch, ließ sich bis auf die Ellenbogen nieder, und auch Ida ging in die Knie, die Händchen auf die Oberschenkel gestützt. Gespannt lauschten sie in den Garten hinaus, spähten in das dichte Blattwerk der Hortensien hinein, um vielleicht einen Blick auf den suchenden Jeroen zu erhaschen.
Hinter Jacobina raschelte etwas, und sie wandte den Kopf. Auf der Veranda stand ein Mann in braunem Anzug und weißem Hemd, die obersten Knöpfe leger geöffnet. Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte er an einer der Säulen und beobachtete mit einem amüsierten Lächeln, wie Jacobina auf der Erde kauerte, den Saum des Wickelrocks bis über die Knie ihrer bloßen Beine hochgeschoben und das Hinterteil in die Höhe gereckt. Ihre Augen weiteten sich, und ihre Lippen formten ein stummes, hilfloses »Oh«.
»Onkel Jan!«, brüllte Jeroen auf, und Jacobina hörte ihn losspurten; neben ihr quiekte Ida entzückt auf und sauste ebenfalls davon. Jeroen war als Erster die Stufen hinaufgestürmt; lachend hob ihn der Mann unter den Achseln hoch und schwang den Jungen herum, der vor Freude jubelte und strampelte.
»Mensch, bist du gewachsen in den paar Monaten«, rief der Besucher mit einer warmen, volltönenden Stimme aus und setzte Jeroen wieder ab. Dafür hob er nun Ida hoch, die vor Vergnügen quietschte, als sie über dem Kopf des Mannes schwebte. »Und das Prinzesschen wird auch immer hübscher!« Er setzte Ida auf seinem linken Arm ab und zupfte Jeroen, der ihn gerade spielerisch gegen die Hüfte boxte, scherzhaft am Ohr. »He, junger Mann, wo bleiben deine Manieren? Solltest du mich nicht mit der Dame bekanntmachen?« Mit einer Kopfbewegung wies er auf Jacobina, die aufgestanden war und sich gerade ihren Rock zurechtschob. Und sich ein Loch wünschte, in dem sie sich verkriechen konnte.
Jeroen winkte sie zu sich heran, und Jacobina ging langsam zur Veranda hinauf. »Das ist unsere noni Bina«, erklärte Jeroen mit zärtlichem Stolz.
»Bina!«, rief auch Ida glücklich aus. Für sie hatte sich Fräulein van der Beek als zu kompliziert erwiesen, und da Jeroen nicht hatte einsehen wollen, warum ausgerechnet er sich dann mit diesem langen Namen abmühen sollte, hatte er ebenfalls auf »Bina« beharrt und darauf, sie weiterhin zu duzen. Allerdings hatte er von sich aus die Anrede noni davorgesetzt, und mittlerweile nannten sie alle im Haus außer dem Major noni Bina, Fräulein Bina.
»Eigentlich Jacobina van der Beek«, brachte Jacobina mühsam hervor, während sie die Hand ergriff, die Onkel Jan ihr entgegenstreckte. Schlank und so großgewachsen, dass er Jacobina sogar ein gutes Stück überragte, mochte er ungefähr in ihrem Alter sein. Der forschende Blick seiner tiefliegenden Augen, deren Farbe irgendwo zwischen sanftem Blau und zartem Grau lag, war Jacobina unangenehm, und sie wusste nicht, wohin sie schauen sollte.
»Die Hauslehrerin und Gouvernante«, ergänzte sie.
Noch während sie das sagte, ging ihr auf, wie wenig sie in diesem Moment einer solchen ähnelte. Der Sarong war zerknittert und grasfleckig und ebenso staubig wie ihre Füße. Ihre undamenhaft großen und knochigen Füße, die sie nirgends verstecken konnte und die unter der Sonne einen ähnlichen Farbton angenommen hatten wie ihr Gesicht und ihre Hände, irgendwo zwischen blassem Pfirsich und hellem Gold, den sie an sich hässlich fand. In dieser dünnen Bluse, in der sie sich mehr ausgezogen fühlte denn bekleidet, und kaum dass ihr Gegenüber ihre Hand losgelassen hatte, verschränkte sie die Arme vor der mageren Brust.
»Jan Molenaar«, erwiderte er. »Ein Freund des Hauses.«
Sein hellbraunes Haar war mit blonden Glanzlichtern durchsetzt und wirkte ein bisschen zerrauft, ebenso wie der Bart über seinem schmalen Mund und am Kinn. Auf eine bodenständige Art sah er gut aus mit seinem flächigen, freundlich wirkenden Gesicht, das mit seinen weichen Konturen und der Sonnenbräune noch etwas Jungenhaftes besaß, obwohl eine steile Falte zwischen den Augenbrauen ihm etwas Grüblerisches verlieh.
»Jan, wie schön!« Margaretha de Jong trat auf die Veranda, in Kebaya und einem prächtigen in Smaragdgrün und Königsblau gemusterten Sarong. In einer herzlichen Geste breitete sie die Arme aus. »Hattest du eine gute Reise?«
»Tag, Griet.« Er ließ sich mitsamt der kleinen Ida von ihr in die Arme schließen, drückte sie mit seiner freien Hand an sich und küsste sie auf beide Wangen. »Danke, hatte ich.«
»Habt ihr euch schon miteinander bekannt gemacht?« Fragend sah sie von Jan Molenaar zu Jacobina, die nur nicken konnte.
»Ja, haben wir«, antwortete er und sah Jacobina so lange an, dass sie verlegen die Lider niederschlug.
»Du, Mama«, mischte sich Jeroen ein und drückte sich an seine Mutter. »Weißt du, was ich kann? Ich kann schon bis zwanzig zählen. Auf Holländisch!«
»Das ist großartig, mein Schatz.« Margaretha de Jong strich ihm über den Kopf. Sie sah Jan Molenaar an. »Es ist unglaublich, was unsere noni Bina in der kurzen Zeit vollbracht hat. Wir sind sehr, sehr glücklich, dass sie bei uns ist.« Jacobina errötete vor Freude.
»Das glaube ich sofort«, sagte Jan Molenaar, ohne die Augen von Jacobina abzuwenden, und die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich. Unbeholfen strich sie sich mit einer Hand die Strähnen aus dem Gesicht, die sich aus ihrem schlichten Haarknoten gelöst hatten. Dank einer von Endahs Tinkturen war es nicht mehr so strohig wie früher, sondern weich und glänzend und duftete herrlich nach Zitrone, hatte sich aber dadurch auch in der Sonne aufgehellt und schimmerte fast silberblond.
»Soll ich’s dir zeigen?«, drängelte Jeroen seine Mutter. »Eins, zwei …«
»Später, mein Herz. Jetzt müssen wir erst sehen, dass Onkel Jan etwas zu essen und vor allem zu trinken bekommt. Es ist ein weiter Weg von Buitenzorg hierher, weißt du?«
»Jaaaa, weiß ich doch«, kam es mit einem Schnaufen von dem Jungen; er zog eine enttäuschte Miene, schlenkerte gelangweilt ein Bein vor und zurück und murmelte etwas auf Malaiisch in sich hinein.
Jan Molenaar bedeutete Jacobina mit einer Kopfbewegung und einem fragenden Gesichtsausdruck, ob er ihr Ida übergeben könnte. Sie nickte, und als sie ihm das kleine Mädchen abnahm und Jans und ihre Hände und Arme einander dabei streiften, durchwanderte sie ein Kribbeln und sammelte sich in ihrem Bauch.
»Bis später, kleine Maus«, flüsterte er Ida zu und beugte sich vor, um ihr ein Küsschen auf die Wange zu drücken, sah dabei aber Jacobina in die Augen. »Ihnen einen schönen Tag, noni Bina«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.
Jacobina brachte keinen Ton heraus. Das kleine Mädchen auf ihrer Hüfte, sah sie zu, wie Jan Molenaar Jeroen erst gegen die Schulter knuffte, dann über den Kopf rubbelte, dass der Junge quietschte und sich mit einem Boxhieb zu revanchieren versuchte, der aber ins Leere traf, und lachend ging Jan Molenaar mit Frau de Jong davon.
Erst als Jeroen an ihrem Sarong zupfte, löste sich Jacobinas Erstarrung. »Was machen wir jetzt?« Gespannt sah er sie von unten herauf an.
»Jetzt?« Jacobina überlegte. »Ja, also jetzt …«
Ihr Kopf war wie leergefegt.
Jacobina fand keinen Schlaf. Sobald sie die Lider schloss, sah sie Jan Molenaar vor sich. Sein freundliches Gesicht, seine Augen, die zurückhaltend und doch neugierig auf ihr ruhten, und jedes Mal aufs Neue kam ihr dann in den Sinn, welch unmöglichen Anblick sie geboten hatte, und Scham wand sich glühend durch sie hindurch.
»Du bist eine Närrin, Jacobina von der Beek«, schimpfte sie leise mit sich selbst, während sie sich halb aufsetzte, ihre Kissen aufschüttelte und sich mit entschiedenen Bewegungen wieder zurechtlegte. Eine Närrin, jawohl. Und eine versponnene alte Jungfer. Die schon aus dem Häuschen gerät, wenn ein Mann nur mal freundlich zu ihr ist. Entschlossen kniff sie die Augen zu und zwang sich, ruhig zu atmen. Ihnen einen schönen Tag, noni Bina, flüsterte seine Stimme ihr zu.
Sie wälzte sich auf die andere Seite, als könnte sie damit den Gedanken an Jan Molenaar ebenfalls den Rücken zukehren, und die Nacht im Grand Oriental in Colombo fiel ihr ein. Wie es Floortje wohl ging? Die ersten Tage und Wochen hier am Koningsplein hatte Jacobina kaum an sie gedacht; zu viele neue Eindrücke waren auf sie eingestürmt, und zu sehr war sie davon in Anspruch genommen, sich einzuleben, sich mit den Kindern vertraut zu machen und täglich neue Aufgaben und Spiele für sie zu ersinnen. Die Zeit schien in den Tropen schneller zu verfliegen als im Rest der Welt, obwohl es hier so viel geruhsamer zuging, geradezu träge. Einteilungen wie Wochentage oder Monatsnamen schienen keine Bedeutung zu besitzen, als verschwämmen solche von Menschenhand entworfene Raster in der feuchten Hitze der Tage und Nächte.
Erst seit Kurzem dachte sie wieder häufiger an Floortje, und mehrfach hatte sie schon einen Briefbogen in die Hand genommen, um ihr ins Hotel Des Indes zu schreiben, es dann aber doch nicht gewagt und das Blatt wieder in der Schublade ihres Sekretärs verstaut. Was, wenn Floortje es nicht ehrlich gemeint hatte damit, dass sie Freundinnen sein könnten? Wenn es nur eine Laune gewesen war, nicht mehr als eine flüchtige Bekanntschaft, die auf dem begrenzten Raum und in der Langeweile an Bord nach mehr ausgesehen hatte und längst verflogen war? Im Nachhinein schien es ihr zu schön, um wahr zu sein, dass ausgerechnet die hübsche Floortje, die so offen auf Menschen zuging und sie so leicht um den Finger wickeln konnte, mit ihr hatte befreundet sein wollen. Wahrscheinlich hatte sie inzwischen schon genug andere Freundschaften geschlossen und Jacobina längst vergessen. Dennoch fehlten ihr Floortjes quirlige Art und die Lebenslust, die sie versprühte. Und fast noch mehr vermisste sie die ruhigen, ernsthaften Momente, in denen sie einander so nahe gewesen waren.
Jacobina ertappte sich dabei, wie sie vor sich hin starrte, und seufzte unwillig. Es hatte keinen Sinn, sie musste sich auf andere Gedanken bringen. Sie drehte sich um und zerrte das Moskitonetz beiseite, um die Lampe auf ihrem Nachttisch zu entzünden und zu ihrem Buch zu greifen. Mit gerunzelter Stirn suchte sie den Lichtkreis, den die Lampe auszirkelte, nach dem ledergebundenen Band ab. Jacobina beugte sich aus dem Bett heraus und tastete unter dem Nachttisch herum, aber das Buch blieb verschwunden. Wann hatte sie zuletzt darin gelesen? Gestern? Nein, heute – aber nicht hier auf ihrem Zimmer. Auf der Veranda hatte sie im Schein einer Lampe gesessen, an ihrem Lieblingsplatz auf der Schmalseite des Hauses, an dem sie ihre Mahlzeiten serviert bekam und an dem sie den Trubel auf der großen Veranda, auf der die de Jongs ihre Gäste zu bewirten pflegten, nur als ein Murmeln und ein Summen mitbekam, das in den Geräuschen der Nacht aufging. Irgendwann hatte sie das Buch beiseitegelegt und hatte zu den Bäumen hinübergeschaut, die sie auch von ihrem Fenster oben sah. Und umflutet von den Klängen und moosigen Gerüchen des tropischen Abends hatte sie das Buch schlichtweg vergessen.
Seufzend ließ sie sich ins Kissen zurückfallen. Einen Augenblick lang war sie versucht, die Klingel zu betätigen und ein Dienstmädchen mit der Suche nach dem Buch zu beauftragen, aber das kam ihr albern vor. Mit einem weiteren Seufzer tauchte sie unter der Kante des Moskitonetzes hindurch und stieg aus dem Bett. Ihrer alten Gewohnheit nach streifte sie den dünnen Morgenrock über, den sie aus Amsterdam mitgebracht hatte, und schlüpfte aus ihrem Zimmer. Vor der gegenüberliegenden Tür blieb sie kurz stehen, lauschte und lächelte, als sie den schlafschweren Atem der Kinder hörte, und huschte dann den Korridor entlang, die Treppe hinunter.
Die de Jongs waren nach dem Dinner ausgegangen, trotzdem waren die Eingangshalle und der Salon ebenso erhellt wie die Veranda. Das gehörte hier zum guten Ton; wer etwas auf sich hielt, beließ das Haus bis in die frühen Morgenstunden hinein beleuchtet, solange auch nur ein einziges Familienmitglied unter dem Dach weilte, und seien es nur die Kinder, die im Beisein ihrer babu selig schliefen.
Auf bloßen Füßen tappte sie durch den kleinen Salon, in dem das hoffnungslos verstimmte Piano stand, und trat auf die Veranda hinaus. Sie blickte sich suchend um und schrak mit einem erstickten Laut zusammen.
»Verzeihung.« Jan Molenaar erhob sich langsam von seinem Stuhl. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu sehr erschreckt.«
Jacobina raffte ihren Morgenrock vor der Brust zusammen. »Ich … ich dachte nur, ich sei allein im Haus.« Ihr fiel ein, wie merkwürdig das klang angesichts der Anzahl der Dienstboten, die auch die Nacht hier im Haus verbrachten. »Ich dachte, Sie wären mit Frau de Jong und dem Herrn Major ausgegangen.«
Er schmunzelte. »Ich mache mir nicht viel aus diesem gesellschaftlichen Ringelreihen.«
Ein kleines Lächeln erhellte Jacobinas Gesicht. »Ich auch nicht.« Sie zögerte und wandte sich dann zum Gehen. »Gute Nacht, Herr Molenaar.«
»Ist das Ihres?« Im Lampenschein sah sie, dass er ein Buch hochhielt, einen Finger als Lesezeichen zwischen den Seiten.
»Ich … ich glaube ja. – Deshalb bin ich eigentlich heruntergekommen«, sagte sie hastig; sie wollte nicht, dass er womöglich auf die Idee kam, sie sei seinetwegen hier. Sie trat näher und streckte die freie Hand danach aus.
Er musterte das Buch mit gerunzelter Stirn, als sähe er es zum ersten Mal. »Flaubert. Eine ungewöhnliche Lektüre für eine junge Dame. Noch dazu für eine junge Dame in Batavia.«
Jacobinas Brauen zogen sich zusammen. »Und weshalb?«
Mit dem Buch in seiner Hand deutete er auf den kleinen Tisch mit Marmorplatte neben sich, auf dem eine angebrochene Flasche, ein Glas und ein Aschenbecher standen, dann auf den zweiten Stuhl. »Möchten Sie sich nicht zu mir setzen und eine Kleinigkeit mit mir trinken?«
Unwillkürlich trat Jacobina einen Schritt zurück. »Das … das geht nicht.«
»Warum nicht?« Seine Stirn zerfurchte sich weiter, glättete sich dann wieder. »Ich verstehe. Erstens, weil Sie hier in Diensten stehen. Und zweitens, weil Sie dann mit mir allein wären und das nicht schicklich ist.« Jacobina spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, und sie schwieg betreten.
»Sie können ganz beruhigt sein«, fuhr er fort. »Hier in Batavia ist das«, das Buch in seiner Hand beschrieb einen Bogen zwischen Jacobina und ihm selbst, der den Tisch mit einschloss, »keineswegs eine verfängliche Situation. Obendrein kenne ich Vincent und Griet schon sehr lange und kann Ihnen deshalb versichern, dass es für die beiden in Ordnung wäre.«
Jacobina kaute verstohlen auf ihrer Unterlippe herum, während sie den zweiten Stuhl anstarrte. Der Wunsch, sich tatsächlich einfach zu ihm zu gesellen, nagte genauso an ihr wie die Angst, sie könnte einen unverzeihlichen Fehler begehen, wenn sie sich neben ihm niederließ.
»Ich … sollte mir auf jeden Fall noch etwas anziehen«, sagte sie schließlich leise, immer noch unschlüssig in derselben Haltung verharrend.
»Sie haben doch etwas an«, erwiderte er mit einem Augenzwinkern und legte das Buch auf den Tisch. »So viel anders als Sarong und baadje ist das ja nun auch nicht. Und auch da müssen Sie sich keine Sorgen machen – man sieht nichts.« Jacobina wurde glutrot.
Als hätte er ihre Verlegenheit gespürt, fuhr er schnell fort: »Ich hole Ihnen ein Glas, ja? Bin gleich zurück.«
Aus den Augenwinkeln sah Jacobina, wie er an ihr vorbei in den Salon ging, hörte, wie er dort eine Schranktür öffnete und wieder schloss. Ihr Verstand drängte sie, das Buch zu nehmen und einfach wieder hinaufzugehen, aber sie vermochte sich nicht zu rühren und stand noch immer an derselben Stelle, als er mit dem Glas in der Hand zurückkam.
»Wie lange sind Sie jetzt hier?«, fragte er, während er Jacobina einschenkte.
»Etwas über drei Monate«, erwiderte sie leise. Fast wie von selbst machten ihre Füße einen Schritt auf den Stuhl zu und noch einen, und vorsichtig ließ sie sich auf der Kante nieder, den Oberkörper vorgeneigt, als hielte sie sich bereit, jederzeit zu flüchten. Dankend nahm sie das Glas entgegen, schnupperte erst an der scharf riechenden Flüssigkeit und nippte dann daran. Das Getränk brannte auf der Zunge, rann heiß die Kehle herunter und hinterließ einen süßen Nachgeschmack und nach einer Weile eine Wärme im Bauch.
»Und, gefällt es Ihnen?« Jan Molenaar hatte sich ebenfalls nachgeschenkt und wieder Platz genommen.
Jacobina nickte. »Ja, sehr.« Sie trank noch einen kleinen Schluck. »Wie lange leben Sie denn schon hier? Oder – oder sind Sie hier geboren?«
»Nein, ich bin erst mit Anfang zwanzig hierhergekommen. Nach meinem Studium. – Stört es Sie, wenn ich rauche?«
»Nein, natürlich nicht.« Jacobina hatte eine heimliche Schwäche für Tabakrauch und mochte den Geruch, der für sie etwas Männliches, Verwegenes hatte. Sie zögerte und fragte dann vorsichtig: »Was haben Sie studiert?«
Jan Molenaar lächelte, klappte ein silbernes Etui auf und nahm eine Zigarette heraus. »Theologie. Ob Sie’s glauben oder nicht – ich bin Missionar.«
Verblüfft sah Jacobina ihn an, während er die Zigarette an der Tischkante zurechtklopfte, bevor er sie sich zwischen die Lippen steckte und anzündete. Er zwinkerte ihr zu, fächelte das Zündholz aus und legte es in den Aschenbecher. »Ich weiß«, nuschelte er, nahm die Zigarette aus dem Mund und blies den Rauch aus, »Missionare stellt man sich entweder als weißhaarige, verschrobene Käuze oder aber als beleibte Mönche vor.«
Er lachte leise, und auch auf Jacobinas Gesicht leuchtete kurz ein Lächeln auf. Sie nippte an ihrem Glas. »Warum sind Sie Missionar geworden?«
Jan Molenaar betrachtete nachdenklich die Glut seiner Zigarette. »Weil ich gläubig bin. Und weil ich finde, jeder Mensch sollte zumindest die Chance haben, das Christentum kennenzulernen und sich vielleicht dazu zu bekennen.«
Jacobina dachte daran, dass man es hier in Batavia mit dem sonntäglichen Kirchgang nicht allzu genau nahm; obwohl die Willemskerk ganz in der Nähe war, waren die de Jongs noch nicht ein Mal dort gewesen, seit sie ihre Stellung angetreten hatte. Und angesichts der Vielzahl der Gäste, die in schöner Regelmäßigkeit den Sonntagvormittag hier auf der Veranda verbrachten und zur rijsttafel blieben, waren die Gottesdienste offenbar grundsätzlich nicht sonderlich gut besucht.
»Leicht ist es nicht«, sagte Jan Molenaar zwischen zwei Zigarettenzügen. »Hier auf Java ist der Islam stark verbreitet. In ihren Grundzügen sind sich die beiden Religionen sehr ähnlich, aber ich habe den Eindruck gewonnen, dass der Islam etwas hat, das den Menschen und der Lebensart hier näher ist. Etwas, das sich besser mit dem Volksglauben verträgt, der immer noch lebendig ist. Etwas Leidenschaftlicheres als unser nüchternes Christentum.« Er lächelte Jacobina zu. »Ich gebe trotzdem nicht auf und leiste jeden Tag meinen kleinen Beitrag in der Missionsarbeit. Auf dass sie irgendwann Früchte trage.«
Jacobina lächelte zurück. Sie erwärmte sich mehr und mehr für den Besucher der de Jongs, und ihre Hand, die noch immer den Morgenrock vor ihrer Brust festhielt, lockerte sich und glitt schließlich in ihren Schoß hinab.
»Flaubert«, murmelte er nach einer kleinen Pause und strich über den Ledereinband des Buches, dessen Seiten sich in der feuchten Luft Javas zu wellen begonnen hatten. Unverwandt sah er Jacobina an. »Was reizt Sie an Flaubert?«
Auf diese Frage war Jacobina nicht gefasst; ihr Magen schnürte sich zusammen, und sie brauchte eine Weile, um nachzudenken. »Flaubert ist …«, antwortete sie schließlich leise, »lebendig. Ich meine damit, dass es in seinen Werken zugeht wie im richtigen Leben. Es gibt darin keine Heldenfiguren, sondern Personen mit Schwächen und mit Fehlern, gänzlich unvollkommen.«
»Menschen wie du und ich«, raunte Jan Molenaar.
Das Timbre seiner Stimme und wie er sie dabei ansah, schickten einen wohligen Schauder über Jacobinas Rücken. Schnell trank sie noch einen Schluck.
»Vielleicht«, fuhr er langsam fort, »sollten die Damen und Herren hier auf Java sich einmal Flaubert zu Gemüte führen.« Jacobina wusste nicht, worauf er hinauswollte, und schwieg; sie war ohnehin zufrieden damit, hier mit ihm in der warmen Nachtluft zu sitzen und ihm zuzuhören. »Es würde ihnen sicher nicht schaden, mit Flauberts selbstzufriedener, verblendeter Bourgeoisie einen Spiegel vorgehalten zu bekommen. Diese extravagante, genusssüchtige – ja, selbstzufriedene! – Lebensart, in der sie hier schwelgen, während gleich nebenan …« Unvermutet heftig drückte er den Stummel seiner Zigarette im Aschenbecher aus und lächelte Jacobina schief an. »Entschuldigung. Ich wollte Ihnen nicht die Freude an Ihrer neuen Heimat verderben.«
Jacobina schüttelte den Kopf. »Das haben Sie keineswegs. Bitte, reden Sie weiter.«
Er lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und fuhr sich mit einem tiefen Ausatmen durch das Haar. »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag sowohl Vincent als auch Griet sehr gern. Ich wünschte nur, beide würden ab und zu einmal ein bisschen über ihren goldenen Tellerrand schauen. Vor allem Griet …« Gedankenvoll klopfte er mit der Handfläche gegen die Armlehne, dann wandte er den Kopf und sah Jacobina ernst an. »Hier liest man keinen Flaubert. Hier liest man überhaupt sehr wenig, was über Zeitungen, Broschüren und Geschäftsberichte hinausgeht. Allenfalls noch einen sentimentalen französischen Kitschroman, vor allem dann, wenn er ein bisschen schlüpfrig ist. Wissen Sie, was eine leestrommel ist?« Auf Jacobinas Kopfschütteln hin erklärte er: »Das ist eine Kiste aus Zinn, die bunt gemischten Lesestoff enthält und zwischen den Plantagen im Umlauf ist. Ein Segen für die Bewohner, die oft sehr abgeschieden leben, aber der Inhalt besteht immer aus stapelweise Magazinen und nur einigen wenigen Büchern. Und es gibt hier auf Java nicht wenige Niederländer, die Lesen als solches für hanebüchenen Unsinn halten. Die die Meinung vertreten, dass man nur Kataloge und Banknoten drucken sollte, weil alles andere Papierverschwendung ist.« Er verstummte und starrte an ihr vorbei in die Nacht, gleichermaßen erzürnt wie nachdenklich. Sein Blick richtete sich wieder auf Jacobina, und ein Lächeln umspielte seinen Mund, als er sanft hinzufügte: »Deshalb war ich so erstaunt, dass Sie Flaubert lesen. Erstaunt und erfreut.«
Jacobinas Wangen glühten, und sie stellte das noch nicht einmal halb geleerte Glas auf den Tisch, bevor ihr noch schwindeliger wurde. Sie wollte etwas erwidern, aber das Schwindelgefühl in ihrem Kopf verstärkte sich; sie blinzelte verwirrt, als sie sah, wie die eben noch spiegelglatte Oberfläche des Getränks in ihrem Glas vibrierte. Sacht zuerst, dann stärker, bis die Flüssigkeit hin und her zu schwappen begann. Ein weit entferntes Grollen war zu hören, langsamer, tiefer und ungleich dröhnender als ein Donner, gewaltiger und bedrohlicher. Die Flasche, die Gläser und der Aschenbecher ruckelten klirrend auf der Tischplatte vorwärts, so wie auch der Stuhl unter Jacobina erzitterte. Aus großen Augen sah sie Jan Molenaar an. »Was ist das?!«
»Ein Erdbeben«, erklärte er ruhig und hielt die Flasche fest, die zu kippeln begonnen hatte. »Ist gleich vorbei.«
Jacobina wollte aufspringen. »Die Kinder …«
»Bleiben Sie sitzen«, fiel er ihr bestimmt, aber freundlich, ins Wort. »Melati ist bei ihnen, und wahrscheinlich merken sie es nicht einmal. Wir sind das hier gewohnt.«
Jacobina gehorchte, umklammerte aber dennoch die Armlehnen des Stuhls. Tatsächlich wurde das Grollen leiser und verstummte schließlich ganz. Die Erschütterungen ebbten ab, und gleich darauf war der Spuk vorbei. Die Nacht war wieder ruhig und still wie ein glatter, dunkler Ozean unter einem mondlosen Firmament.
Jan Molenaar ließ die Flasche los, und seine Augenbrauen hoben sich amüsiert. »Sagen Sie bloß, Sie haben noch kein Erdbeben erlebt, seit Sie hier sind?«
Jacobina schüttelte den Kopf. »Nein, nicht dass ich wüsste.«
Er schmunzelte. »Gewöhnen Sie sich besser schnell daran, denn hier bebt die Erde ständig. Überall«, er machte eine große Geste in den Garten hinaus, »brodelt es unter den Inseln. Wir leben hier in einer unruhigen Vulkangegend – Java, Sumatra und die Nachbarinseln sind Teil der dichten Kette aus Vulkanen, die sich um den Erdball zieht. Gerade Java ist von Vulkanen geprägt.« Sein Blick wanderte in die Ferne, und seine Stimme dämpfte sich zu einem Murmeln. »Die Menschen hier glauben, dass unter der Erde ein böser Geist namens Orang Alijeh haust. Der Herr über Rauch und Feuer unter den östlichen Himmeln. Wenn die Zustände in seinem Reich schlecht sind, bläst er vor Zorn Schwefel aus seinen Nüstern, und wenn er nicht durch Opfergaben besänftigt wird, lässt er die Erde erzittern. Und in seinem Zorn spuckte er Rauch und Feuer.« Er richtete seine Augen wieder auf Jacobina. »Ich bin Christ, aber manchmal denke ich, diese Legende entspricht der Wahrheit. Zumindest ist sie ein gutes Bild für das Feuer, das unter diesem Inselparadies lodert.« Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht ängstigen.«
Jacobina schüttelte nur den Kopf; sie hatte ihm gebannt gelauscht, und nun fehlten ihr die Worte, ihrerseits etwas dazu zu sagen. Das Beben hatte ihr einen Schrecken eingejagt, aber wirkliche Angst hatte sie nicht empfunden, und sie hatte auch jetzt keine. Stattdessen spürte sie etwas, für das sie keinen Namen hatte; etwas, das tief in ihr aufgeregt flatterte und sehnsüchtig an ihr zog, das sich heiß anfühlte und sich in ihr ausbreitete.
»Das Paradies, in dem wir hier leben«, sagte Jan Molenaar leise, »hat zwar seine Fehler.« Er beugte sich weit vor, streckte den Arm über den Tisch hinweg aus und legte seine Hand auf ihren Unterarm, der noch immer auf der Lehne ruhte. »Aber Sie sind hier gut aufgehoben, noni Bina.«
Angenehm warm fühlten sich seine Finger an, und es machte ihr nichts aus, dass er behutsam den Druck verstärkte, als er ihr in die Augen sah.
Im Gegenteil.