Читать книгу Das Herz der Feuerinsel - Nicole-C. Vosseler - Страница 14

8

Оглавление

Zwei Tage waren es von Singapur nach Batavia.

Vor dem Panorama weich gezeichneter grüner Hügel war Singapur ein Welthafen, über den alle Wege zwischen Ost und West führten. Wie in einem Kaleidoskop zeigte sich hier die menschliche Vielfalt in all den feinen Nuancen von gelber, brauner und schwarzer Haut, die hellen europäischen Gesichter dazwischen eine beinahe geisterhafte Erscheinung, und vor den Kaianlagen, Docks und Lagerhäusern drängelten sich unzählige Schiffe aus aller Herren Länder wie Schwärme von Seevögeln, die es zu einem besonders reichen Futterplatz hinzog.

Zwei Tage, in denen sich die Prinses Amalia durch das Meer und an den darin verstreuten Inseln vorbeifädelte. Durch die glasklare Straße von Malakka, unter einem Himmel, der glänzte wie eine blaue Perle und sich im schimmernden Wasser spiegelte. Vorbei an Sumatra mit seinen saftig grünen Regenwäldern und Mangrovenhainen, an Inselküsten vorüber, die in der dampfigen Luft so zart aussahen wie mit Aquarellfarbe auf ein feuchtes Blatt getupft und vom irisierenden Jadegrün flachen Wassers umschmeichelt waren. Still war es an Bord an diesen zwei Tagen, eine ehrfürchtige, erschöpfte Stille, in einer Hitze, die sich wie ein heißes Laken auf Gesicht und Rücken legte; sogar die Maschinen des Dampfers schienen nur mehr zu raunen.

Ein einsam wirkender, blendend weißer Leuchtturm auf einem vorgelagerten Inselchen war der erste Vorbote, dass das Ziel dieser Reise nahe war. Am Horizont wurden Berge in sanftem Rauchblau sichtbar, wuchsen aus dem Meer empor und zeigten sich schließlich stolz in ihrer ganzen Herrlichkeit, hauchfeine Wolkenbänder um ihre Gipfel, und aus den Farben des Wassers formten sich Palmenhaine wie von einer Tuschefeder mit leichter Hand hingeworfen. Als ein Edelstein lag Java im Meer, frisch und tauglänzend, in wilder Ursprünglichkeit wie zu Anbeginn der Schöpfung.

Dann war sie da, die »Königin des Ostens«, wie man Batavia noch immer nannte. Eine unscheinbare, nachgerade ärmliche Herrscherin angesichts ihres Hafens, dachte Jacobina enttäuscht bei der Ankunft, vor allem verglichen mit dem Hafen von Singapur. Batavia hatten die alten holländischen Seefahrer sie nach dem früheren Namen für Holland getauft, der auf den Volksstamm der Bataver zurückging, zu Römerzeiten einige Meilen südlich des heutigen Utrecht angesiedelt, auf einer zwischen Rhein und Waal gelegenen fruchtbaren, aber schlammigen Halbinsel.

Ein im Rückblick durchaus passender Name, wie Jacobina fand, als die Prinses Amalia an der Mündung eines Kanals Anker warf, den man durch Morast und das Uferland, flach und braun wie eine Schuhsohle, gegraben hatte. Weitaus geduldiger als seine Passagiere wartete der Dampfer darauf, dass ein flacher Lastkahn mit rauchendem Schornstein und scheppernder Maschine an ihn herandümpelte, der die Reisenden und ihr Gepäck durch den Kanal in die Stadt bringen sollte. Die Stunde, die das Verladen in Anspruch nahm, füllte der uniformierte niederländische Zollbeamte aus, der über den Kahn an Deck gekommen war. Mit aufreizend langsamer Gründlichkeit ging er die Passagierliste durch und ordnete die Gesichter der Neuankömmlinge nicht nur den aufgeführten Namen zu, sondern musterte sie obendrein prüfend auf Anzeichen einer eventuellen Krankheit hin. Über die vorzuzeigenden Reisedokumente wurde sichergestellt, dass jeder von ihnen Bürger des Königreichs der Niederlande war und nicht etwa anderer Nationalität, was aufwändigere Reiseformalitäten nach sich gezogen hätte. Floortjes Lächeln unter flatternden Augenlidern ließ ihn ebenso ungerührt wie Frau Junghuhns Geknurre oder Joosts quengelndes »Ich muss mal!«.

Endlich war der Bürokratie Genüge getan und alles Gepäck umgeladen, und nachdem die Passagiere von der schwankenden Landungsbrücke in den nicht minder unruhig daliegenden Kahn umgestiegen waren, tuckerte das Gefährt gemächlich den Kanal entlang.

Jacobina musterte die vorbeiziehenden einstöckigen weißen Häuschen, die mit ihren ziegelgedeckten Walmdächern ebenso gut in der niederländischen Heimat hätten stehen können. Am anderen Ufer des Kanals erstreckte sich eine von mageren Bäumen und wuchernden Sträuchern bewachsene, sumpfige Fläche, und aus dem bräunlichen Wasser des Kanals stieg ein brackiger Geruch auf. Der Friedhof der Europäer, fiel ihr ein; so hatte man Batavia lange genannt, noch bis in dieses Jahrhundert hinein, wegen der vielen Toten, die das Klima und vor allem Wechselfieber, Ruhr, Gelbfieber und Dengue gefordert hatten. Das schwerste Geschütz, das ihre Mutter anfangs aufgefahren hatte, um diese Reise zu verhindern, aber dieses eine Mal wenigstens war Henrik für seine Schwester in die Bresche gesprungen und hatte einen befreundeten Apotheker um seine Einschätzung gebeten. Erst nachdem dieser Jacobina mit zahlreichen Empfehlungen und allerlei Arzneien versorgt hatte, allen voran Chinin gegen das tückische Wechselfieber, hatte sich Bertha van der Beek zumindest ein klein wenig beruhigt gezeigt.

Jacobina wurde gegen den Ellenbogen gestupst und sah auf.

»Was ist?«, flüsterte Floortje neben ihr. Es war das erste Mal, dass Jacobina sie mit Hut sah, ein zu ihrem blauen Kleid passendes zierliches Gebilde, das gekonnt schräg auf dem hochgesteckten Haar saß, und die Rüschen ihres Sonnenschirms flatterten in der Brise, die vom Meer hereinzog. »Du machst ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter!«

Ebenfalls von ihrem Schirm beschattet, ließ Jacobina den Blick unter ihrem Strohhut über das andere Ufer schweifen, die Augen zum Schutz gegen das von den Wänden grell zurückgeworfene Sonnenlicht zusammengekniffen. Kahl wirkte alles rings um die Lagergebäude, schmutzig und unansehnlich, und die Chinesen mit dem langen Zopf unter einem flachen kegelförmigen Strohhut, die dazwischen Karren beluden und Lasten schleppten, sahen ärmlich aus. Am Rand des Kanals lagen Ruderboote und kleine Segler vertäut, und darüber reihten sich Lastkräne aneinander, die Jacobina an Galgen erinnerten. Schnell senkte sie den Blick, als sie bemerkte, dass eine Gruppe braunhäutiger Männer, die am Kai müßig in der Sonne saßen, herüberstarrte.

»Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Ich hatte es mir hier doch ein wenig anders vorgestellt.«

»Wie denn?«

Bevor Jacobina dazu kam, ihre Gedanken in Worte zu fassen, richtete Frau Ter Steege das Wort an Floortje. »Und, Fräulein Dreessen – sind Sie denn schon aufgeregt?«

»Oh ja«, hörte Jacobina Floortje lachend sagen, dann schweiften ihre Gedanken ab. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich vorab keine genaue Vorstellung von Batavia gemacht, zumindest keine, die über unscharfe Bilder von weißen Kolonialhäusern und üppigen Gärten am Rand eines Regenwalds hinausging. Allenfalls noch die einer Stadt, in der auf irgendeine Weise die glorreiche Vergangenheit der Niederlande als Handelsmacht sichtbar war, die mit der Geschichte der längst untergegangenen Vereenigde Oostindische Compagnie hier in Batavia wurzelte. Das Einzige, was sich Jacobina deutlich ausgemalt hatte, war ihre Hoffnung, in ihrer Stellung als Lehrerin und Gouvernante einen fest umrissenen Platz zu haben. Abseits des Familienlebens und ihm doch auf eine Art zugehörig, vom Zwang gesellschaftlicher Anlässe von vornherein ausgeschlossen, ohne dass dies einen Makel bedeutete, weil niemand erwarten würde, dass sie Bälle oder Teegesellschaften besuchte. Eine gewisse Wertschätzung erhoffte sie sich und dass niemand mehr versuchen würde, einen Mann für sie zu finden. Für eine Gouvernante war Ehelosigkeit Pflicht, Keuschheit das höchste Gebot und für Jacobina gleichbedeutend mit der so lang ersehnten Freiheit.

Mit einem Poltern und einem abrupten Ruck, der in ein zitterndes Schaukeln auslief und an Bord für erschrockene Rufe und ein kleines Durcheinander sorgte, legte der Kahn an. Männer, die Gesichter von kupferbrauner Farbe, in locker fallenden Hosen und aufgekrempelten Hemdsärmeln, ein Tuch um das schwarzhaarige Haupt geknotet, deren gegenseitige Zurufe kehlig und schnatternd zugleich klangen, halfen den Reisenden, auf den Kai hinaufzusteigen, und trugen ihnen das Gepäck hinterher. Hinein in einen hölzernen Pavillon, in dem weitere Zollbeamte schon darauf warteten, auf langen Tischen die Koffer zu öffnen, hineinzuspähen und gegebenenfalls zu durchsuchen. Jacobina lief bis unter die Haarwurzeln rot an, als der noch junge und mit seinem geschwungenen blonden Schnauzbart durchaus fesche Beamte sorgsam ihre akkurat gefaltete Leibwäsche Stapel um Stapel umschichtete, während Floortje sich mit dem älteren Beamten daneben einen flotten Wortwechsel lieferte und immer wieder aufkicherte.

Auf der anderen Seite des Pavillons standen vereinzelt oder in Grüppchen europäisch aussehende Herren in hellen Anzügen und mit leichten Hüten, die offensichtlich darauf warteten, Reisende abzuholen. Ein Offizier in schwarzblauer Uniform salutierte mit einem zackigen Zusammenschlagen der Hacken vor Leutnant Teuniszen und Major Rosendaal, begrüßte die dazugehörigen Damen mit einem formvollendete Handkuss, bevor er die vier Rekruten mit ihren geschulterten Seesäcken jovial in Empfang nahm. Dahinter standen zahlreiche Wagen bereit, die meisten kleine zweirädrige mit Verdeck, vor die stämmige Ponys gespannt waren; nur zwei oder drei größere Pferdekutschen fanden sich dazwischen. Eine Handvoll der Wagen hatte sich in das einzige bisschen Schatten weit und breit gestellt, unter die schmale Markise eines einstöckigen Gebäudes mit Säulenfront und Dachterrasse, das »Stads Herberg« überschrieben war, Stadtherberge.

»Also, liebes Fräulein Dreessen«, wandte sich Frau Ter Steege erneut an Floortje, »sobald Sie sich etwas eingewöhnt haben, rechnen wir mit einem Besuch von Ihnen! Unsere Adresse haben Sie, nicht wahr? Alles, alles Gute für Ihre erste Zeit in Batavia. Und sollten Sie Fragen haben oder Schwierigkeiten bekommen – möge der Herr im Himmel dies verhüten! –, zögern Sie nicht, sich bei uns zu melden. Oh – Ihnen auch alles Gute, Fräulein van der … van der Broek!«

»Danke, Ihnen auch«, murmelte Jacobina beiläufig, während neben und hinter ihr das gegenseitige Verabschieden in Gang war. Sie sah keinen Grund, Frau Ter Steege zu berichtigen, und war obendrein vollauf damit beschäftigt, nach jemandem Ausschau zu halten, der sich vielleicht als Herr de Jong zu erkennen geben mochte. Wenig weltgewandt und ein bisschen lächerlich kam sie sich vor, wie sie erwartungsvoll der Reihe nach in die fremden Gesichter starrte, in der Hoffnung, irgendjemand würde in ihr die alleinreisende neue Lehrerin entdecken und sie in Batavia willkommen heißen.

Ihr Magen krümmte sich bereits angstvoll zusammen, entspannte sich dann aber mit einem Schlag, als ihr Blick auf einen kleingewachsenen Mann in langärmliger Jacke und buntem Turban fiel. Die nackten braunen Beine und Füße dunkel gegen die weißen Jodhpurs, hielt er mit einladendem Lächeln einen zerknitterten Pappkarton vor die Brust gepresst, auf dem in schiefen Großbuchstaben »VAN TER BECK« geschrieben stand.

Sie sah sich nach Floortje um, und dabei fiel ihr Blick auf den kleinen Joost, der auf dem Arm seines Vaters aus großen Augen die fremde Umgebung betrachtete. Als er Jacobina entdeckte, zuckte ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht auf, und als sie ein Winken andeutete, wedelte er eifrig mit seiner Kinderhand zurück.

Jacobina entdeckte Floortje ganz in ihrer Nähe; Herr Aarens stand bei ihr und verneigte sich gerade hölzern. »Es war mir eine Ehre und übergroße Freude, mit Ihnen zu reisen, wertes Fräulein Dreessen! Dürfte … dürfte ich Ihnen vielleicht bei Gelegenheit irgendwann einmal meine Aufwartung in Ihrem Hotel machen?« Es klang, als hätte er diese Ansprache tagelang einstudiert.

»Aber gewiss doch, lieber Herr Aarens«, erwiderte Floortje mit kaum unterdrücktem Kichern und hielt ihm ihre Rechte hin. Herr Aarens wurde rot, griff dann aber zu und beugte sich zur Andeutung eines Handkusses darüber. Es sah aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber Floortjes Blick hatte sich mit dem Jacobinas getroffen, und mit einem leicht über die Schulter geworfenen »Wiedersehen!« ging sie zu ihr. Verdutzt verharrte ihr Verehrer noch einen Augenblick auf der Stelle, bevor er mit hängenden Schultern zu seinen Koffern schlich.

»Ich werde abgeholt«, sagte Jacobina und wies mit dem Kinn auf den Kutscher, nahm ihre Reisetasche mit der einen Hand auf und packte mit der anderen den zusammengeklappten Schirm fester.

»Ja«, entgegnete Floortje nur, mit einem Lächeln, das ein bisschen traurig wirkte.

»Vielleicht kannst du ja mitfahren«, schlug Jacobina einer Eingebung folgend hastig vor, während sie sich anschickte, auf den Kutscher zuzugehen. Obwohl ihr flau wurde bei dem Gedanken, derart eigenmächtig über den Fahrer zu verfügen, der ihr von ihrem Dienstherrn geschickt worden war. »Vielleicht liegt dein Hotel ja auf dem Weg.«

Das Lächeln auf Floortjes Gesicht vertiefte sich, während sie ihr folgte. »Meinst du? Das wäre natürlich ganz famos!«

»Guten Tag«, sprach Jacobina den Fahrer unsicher an, der bei ihrem Anblick eine Verbeugung andeutete. »Ich bin Fräulein van der Beek. Bringen Sie mich zum Haus von Major de Jong, am Koningsplein Oost? – Sprechen Sie Holländisch?«, fügte sie rasch hinzu, beschämt darüber, dass sie während der Überfahrt so viel mehr Zeit mit Floortje verbracht hatte als mit ihrer malaiischen Grammatik.

»Jajaja«, bestätigte der Kutscher, der Jacobina gerade mal bis zur Schulter reichte, und verneigte sich tief. »Selamat datang, noni van ter Beck! Ich«, er tippte sich mit dem Daumen vor die Brust, als er sich wieder aufrichtete. »Ich Budiarto. Ich sehr gutt in Sprache von tuan und nyonya besar de Jong.«

»Könnten Sie mich vielleicht mitnehmen?«, mischte sich Floortje mit ihrem charmantesten Lächeln ein. »Ich möchte ins Hotel Des Indes. Liegt das vielleicht zufällig auf Ihrem Weg?«

»Jajaja«, gab Budiarto mit eifrigem Nicken von sich. »Geht. Geht gutt.«

»Oh danke, vielen Dank!«, zwitscherte Floortje und klatschte glücklich in die Hände.

Der Kutscher warf den beschriebenen Karton einfach auf den Boden und eilte davon, um mit herrischen Rufen und wichtigtuerischem Fingerschnipsen zwei der Männer herbeizukommandieren, die zuvor das Gepäck aus dem Kahn in den Zollpavillon getragen hatten und sich sogleich beeilten, die Koffer und Hutschachteln von Jacobina und Floortje zu einem der bereitstehenden Ponywagen zu schleppen. Auf Malaiisch gab Budiarto Anweisungen, in welcher Reihenfolge die Gepäckstücke hinten auf dem Wagen aufgestapelt werden sollten, und zögerte nicht, dabei lautstark zu wettern und den beiden Trägern einen Klaps auf die Finger zu geben, war er mit ihrer Vorgehensweise nicht zufrieden. Schließlich rüttelte er unter ungnädigem Brummen prüfend an dem Gepäck herum und schickte die zwei mit einem Kopfrucken wieder fort. Unvermittelt erschien erneut das breite Lächeln auf seinem Gesicht, und mit einer tiefen Verbeugung half er erst Floortje, dann Jacobina in den Wagen, die dankend abwehrte, als er ihr die Reisetasche abnehmen wollte, und ihm nur den Schirm überließ, bevor er vorne aufstieg. Mit einem lauten Ruf ließ er die Zügel schnalzen und den Wagen so ruckartig anfahren, dass es Jacobina und Floortje in den Sitz zurückwarf.

Der Wagen wendete rasant vor der Herberge, vor der die vier Rekruten mit ihrem Kommandanten zusammenstanden, jeder ein Glas in der Hand.

»Alles Gute«, rief Floortje und winkte ihnen lachend zu, und mit einem Gegenruf winkten auch die vier Rekruten, ein seliges Grinsen auf ihren jungen Gesichtern.

Die beiden Ponys trabten munter, wenn auch nicht ganz gleichmäßigen Schritts voran. Ein Turm mit viereckigem Grundriss zog am gegenüberliegenden Ufer vorbei, und gleich dahinter flatterte auf einem Dachfirst die Trikolore der Niederlande in Rot, Weiß und Blau. Rein rechtlich befanden sie sich auf Heimatboden und doch elftausend Meilen davon entfernt. Auf der anderen Seite der Welt.

Jacobina atmete erleichtert durch, als leichter Fahrtwind unter das Verdeck zog. Auf dem Lastkahn und hinter dem Zollpavillon war die Luft feuchtheiß wie in einer Dampfküche gewesen; die Bluse unter der offen stehenden Jacke klebte ihr am Rücken, und ihr Nacken fühlte sich nass an. Die Reisetasche auf dem Schoß umklammert, spähte sie unter dem Rand des Verdecks hervor, ein aufgeregtes Flattern im Bauch. Hier also hatten sich die holländischen Seefahrer rund zweihundertsiebzig Jahre zuvor niedergelassen, um von einem günstig gelegenen Stützpunkt aus ihren Handel zu schützen und auszuweiten und um die Rivalen Portugal und Großbritannien auszustechen im Kampf um das Geschäft mit den Kostbarkeiten Asiens: Silber und Kupfer aus Japan, die in Indien und China gegen Seide, Baumwolle und Porzellan für die westliche Welt gehandelt wurden. Reis und Indigo und edle Hölzer wie Teak; Gewürze wie Zimt, Muskat, Nelken und Pfeffer und später Tee und Kaffee. Schätze, die die Niederländer reich machten, so auch einen gewieften Händler namens Jacobus van der Beek, dessen Vermögen später den Grundstock für das Bankhaus Van der Beek gebildet hatte und nach dem Jacobina benannt worden war.

An einer Kaimauer endete der Kanal, und der Wagen rumpelte über eine schmale Brücke mit weiß lackiertem Holzgeländer, die einen weiteren, quer verlaufenden Kanal überspannte. Links und rechts erstreckten sich weite Flächen, nur unterbrochen von Lagerhäusern und weiteren Nutzgebäuden, hinter denen auf der rechten Seite das Panorama eines dicht bebauten Stadtteils sichtbar war. Die staubige Straße führte zu einem weißen, europäisch gestalteten Tor, um das Budiarto in einer scharfen Kurve herumfuhr, während er den Kopf zu Jacobina und Floortje umwandte. »Amsterdam Poort!«, rief er in das Gebimmel der von Pferden gezogenen Trambahn hinein, die ihnen entgegenkam, und er nickte ein paar Mal bedeutungsschwanger, als müsste ihnen diese Bezeichnung etwas sagen. Und mit stolzgeschwellter Brust trompetete er wenig später »Stadhuis!«, als sie an dem langgestreckten weißen, zweistöckigen Rathaus vorbeifuhren, dessen Glockentürmchen in der Mitte des Dachs über den großzügigen, aber unbefestigten Vorplatz blickte.

Auch Floortje sah sich nach allen Seiten um; quirlig rutschte sie auf dem Sitz umher, beugte sich über die Seitenlehne heraus oder zu Jacobina herüber, stieß sie immer wieder in die Seite, lachte und kicherte und rief fortwährend »Schau doch! Da! Und da! Hast du das gesehen?!«.

Jacobina konnte nur nicken. Nach der Stille an Bord des Dampfers erschlug sie der Lärm der Stadt, das Hufgeklapper und das Knirschen der Räder unzähliger Karren, Ponywagen und Kutschen auf den Straßen, hinter denen Staubfahnen aufflatterten. An vielen Häusern waren bezopfte Chinesen mit Hämmern, Sägen und Malerarbeiten beschäftigt; Männer, die Haut so braun wie Zuckerrübensirup, kehrten die Veranden oder hockten schwatzend beisammen, die nackten Fußsohlen plan auf der rötlichen Erde und das Hinterteil so tief über dem Boden, dass Jacobina allein vom Hinsehen schon die Achillessehne brannte. An einer Straßenecke kauerte in den Fältelungen ihres Gewandes in Blau und Rot ein uraltes Weiblein, das Gesicht dunkel und zerfurcht wie eine Dörrfeige, und bot auf einem tellergroßen grünen Blatt flache Kuchen mit Zuckerkruste feil. In Anzügen oder hemdsärmelig standen europäische Männer mit einer Zigarette in der Hand vor einem Hauseingang oder überquerten im Schlendergang die Straße, und Männer, deren Hautfarbe zwischen Weiß und Braun lag, mal mehr wie Toffee, mal Erdnussbraun, schritten in abgetragenen Anzügen und von einem Sonnenschirm beschattet voran. Batavia schien eine lebhafte Stadt zu sein, aber keine, die Eile oder gar Hektik kannte.

Waren die Häuserreihen, durch die sie kutschiert wurden, anfangs noch einfach, beinahe provisorisch und ein bisschen schäbig unter ihren vorgezogenen Dächern, wurden die Häuser später größer, wenn sie auch nie über zwei Stockwerke hinauskamen, und sahen sauberer aus, und auch die Straßen verbreiterten sich. Die Fassaden der Geschäfte, an denen sie vorüberrollten, wirkten einladend und beinahe wie in Europa. Hier war die Stadt auch grüner; statt einzelner zerzauster Palmen beschatteten Baumriesen die Dächer und Straßenränder. Jacobina staunte über die Gaslaternen, die ihren Weg säumten; wenn sie bei Einbruch der Dunkelheit aufglimmen und ihren blassen Lichtschein verbreiten würden, sähe die Stadt bestimmt wie verzaubert aus, und die Grachten, die Batavia durchzogen, erinnerten sie ein bisschen an ihre Heimatstadt. Aus dem Nichts hatte man hier nach und nach ein zweites Amsterdam erbaut, ein Stück Holland, das dennoch unübersehbar von den Tropen geprägt war.

Einer der Kanäle, der die Stadt schnurgerade durchschnitt – »Molenvliet!«, hatte Budiarto entzückt mit einer Wendung seines Kopfes herausposaunt und dabei um ein Haar einen anderen Ponywagen gerammt –, begleitete sie ein gutes Stück ihres Wegs, bis Budiarto unvermittelt in die Eisen stieg und der Wagen jäh anhielt.

»Hotel von noni!«, rief er, stieg ab und bellte nach den Kofferträgern, die in schlammfarbenen Hosen, langärmligen weißen Hemden und dem unvermeidlichen Tuch um den Kopf schon herbeisprangen.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte Floortje und kletterte mit Budiartos Hilfe aus dem Wagen, um den Kofferträgern zu zeigen, welches ihre Gepäckstücke waren.

Jacobina lugte unter dem Verdeck hervor. Mehrere aneinandergebaute, makellos weiße Bungalows unter tief herabgezogenen Schindeldächern bildeten die Front des Hotels; dahinter ließen sich weitere Gebäude um einen großzügigen Innenhof erkennen. Das gesamte Anwesen war groß und parkähnlich und von einem zierlichen schmiedeeisernen Zaun umgeben. Der hässliche Gedanke trieb in Jacobina herauf, dass Floortje sich das Zimmer in Colombo angeblich nicht hatte leisten können, sich aber offenbar sehr wohl für längere Zeit hier in Batavia schick einzumieten gedachte.

Dennoch war ihr beklommen zumute, als Floortje wieder in den Wagen stieg und sich neben sie setzte.

»Mach’s gut«, flüsterte Floortje mit belegter Stimme und streichelte über Jacobinas Unterarm.

»Du auch«, erwiderte sie mit zugeschnürter Kehle.

Zu ihrer eigenen Überraschung wich sie nicht zurück, als Floortje sie gleich darauf stürmisch umarmte; vielmehr verspürte sie das Bedürfnis, sie fest an sich zu drücken, beließ es aber dabei, ihr unbeholfen über den schmalen Rücken zu streichen.

»Danke, Jacobina, für alles!«, flüsterte Floortje gegen ihre Wange. »Ich wünsch dir alles, alles Gute für deine neue Stellung! Und ich hoffe so sehr, dass wir uns bald wiedersehen!«

»Ja«, kam es erstickt von Jacobina. »Dir auch alles Gute. Und viel Glück!«

Als sie Jacobina losließ, wischte sich Floortje mit dem Handrücken über die Wange. Mit einem zittrigen Lächeln auf dem Gesicht hüpfte sie aus dem Wagen, bedankte sich artig bei Budiarto und stellte sich vor den Hoteleingang.

»Jetzt zu tuan de Jong und nyonya besar«, bekundete Budiarto zufrieden vom Kutschbock aus und fuhr scharf an. Jacobina beugte sich über die Seitenlehne hinaus und winkte Floortje zu, die zurückwinkte. Ihre Gestalt wurde schnell kleiner und verschwamm in der Staubwolke, die die Räder aufwirbelten, bis sie nicht mehr zu sehen war.

Jacobina lehnte sich im Sitz zurück und fuhr sich über die Wange, die nass war. Sicher von Schweiß, vielleicht auch von Floortjes Tränen.

Oder aber von ihren eigenen.

Das Herz der Feuerinsel

Подняться наверх