Читать книгу Das Herz der Feuerinsel - Nicole-C. Vosseler - Страница 6
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ОглавлениеDas musste er sein, der Duft der Freiheit.
Salzig wie die Meeresluft, die sie sogar auf der Zunge schmecken konnte. Wie der Wind roch, klar und rein, wie Quellwasser oder wie frisch gewaschene und gestärkte Leintücher. Ein Duft nach Sonnenwärme und Seetang – wie der Geruch der Decksplanken aus honigbraunem Holz, nach dem frühmorgendlichen Schrubben stellenweise noch nass, die unter dem Dröhnen der Maschinen vibrierten, im Wechselspiel von vorwärtsstrebender Dampfkraft und Wellenschlag schwankten und schaukelten.
Kein zahmer, lieblicher Duft war es, sondern einer auf dem schmalen Grat zwischen Wohltat und beißender Schärfe. Rauchig, fast brandig wie Ruß und Qualm, die aus dem Schornstein des Dampfers quollen. Wie der Geruch des langgestreckten, schlanken Schiffsleibs aus Eisen, der in der feuchten Luft an Jodtinktur erinnerte, ebenso stechend und säuerlich, ebenso kühl. So wie auch Freiheit stets Hand in Hand mit dem Unbekannten einhergeht und ein Wagnis beinhaltet. Einen Sprung ins Ungewisse.
Jacobina schloss die Augen und sog diesen Duft tief ein, der ihr in seiner Kraft, in seiner Stärke hier auf hoher See neu war und doch nicht gänzlich fremd; sie hatte ihn sogleich wiedererkannt. Es war der Geruch, der jedes Jahr die hellen, unbeschwerten Tage der Sommerfrische im Seebad von Zandvoort erfüllt hatte. Derselbe, der manchmal beizend vom Hafen herübergedrungen war und sich zwischen den hohen Hausfassaden gesammelt hatte. Der an seltenen Tagen, wenn der Wind günstig stand, als kaum wahrnehmbarer Hauch über Amsterdam lag und das Meer erahnen ließ, verheißungsvoll und zugleich eine Mahnung, wie nahe es doch war. Aber erst seit sie mit ihren Koffern an Bord gegangen war und jede verstrichene Stunde, jede zurückgelegte Seemeile sie weiter von ihrem alten Leben forttrug, ihrem neuen entgegen, wusste Jacobina diesen Duft zu benennen.
Sei nicht albern, Bina, vermeinte sie Henriks Stimme zu hören. Wie sollte man Freiheit denn riechen können? Sie sah ihren älteren Bruder vor sich, in Anzug und Weste, die Krawatte korrekt um den steifen Hemdkragen gebunden und die Brauen unter den vorzeitig beginnenden Geheimratsecken emporgezogen, wie er sie mit einem nachsichtigen Lächeln bedachte. Kein Spott lag darin, denn dafür hätte es einer Leichtigkeit bedurft, die den van der Beeks nicht zu eigen war. Schweres Blut war es, das durch deren Adern floss und kaum je in Wallung geriet, geschweige denn in Leidenschaft entbrannte. Nüchtern war dieses Blut, wohltemperiert und satt von althergebrachten Werten. Wer es in sich trug, hatte sich von jeher anstandslos in die vom Vater für den Sohn, von der Mutter für die Tochter vorgezeichneten Bahnen gefügt und nie Anlass zur Enttäuschung gegeben. Anders als Jacobina. Obwohl sie nie trotzig oder ungehorsam gewesen war und sich unablässig bemüht hatte, alles richtig zu machen. Bis über die Zeit die bittere Erkenntnis in ihr aufgekeimt war, dass es Dinge gab, bei denen jegliche Mühe vergeblich blieb und die einem dennoch nicht verziehen wurden.
Ich bin frei. Jacobina reckte sich der bleichen Morgensonne entgegen, die ihr mit noch schwachen Fingern über die Wangen strich, hielt das Gesicht in den Wind, dessen Atem ihr eins zu sein schien mit ihrem eigenen. Ein Flattern stieg in ihrer Magengegend auf, halb aufgeregte Vorfreude, halb Angst vor ihrer eigenen Kühnheit, und trieb ihr Herz zu schnellerem Schlag an, voller Stolz, diesen ungeheuren Mut aufgebracht zu haben, und mit einer Ahnung von Glück. Sie konnte es sich nicht oft genug vorsagen. Ich bin frei.
Unbehagen sickerte nach und nach in diese Freude hinein, zäh und schwer wie in Wasser geträufeltes Öl und ebenso unauflöslich. Begleitet von einem Kribbeln zwischen den Schulterblättern, das den Nacken hinaufwanderte und die Haut dort sich kräuseln ließ. Jacobina musste sich nicht umdrehen, um sich zu vergewissern. Sie hatte jahrelange Erfahrung darin, wie sich neugierige, abschätzende, gar mitleidige Blicke im Rücken anfühlten. Sie wusste, sie wurde beobachtet.
Bis gerade eben hatte Floortje der anderen jungen Frau noch dabei zusehen können, wie sich ihre Haltung zunehmend entspannte. Als schälte sie sich zögerlich aus dem Mantel von Unnahbarkeit und Selbstgenügsamkeit, mit dem sie bislang alle Mitreisenden auf Abstand gehalten hatte. Gerade so weit, dass sie nicht unhöflich oder unfreundlich wirkte, aber auch nicht zu einer näheren Bekanntschaft einlud. Wie sie hier, auf dem noch stillen und leeren Oberdeck an der Reling stand, hatte sie auf Floortje zum ersten Mal einen weniger unzugänglichen Eindruck gemacht. Erleichtert schien sie, beinahe wie befreit, als wäre ihr dieser Mantel auf Dauer selbst zu schwer geworden. Für einige wenige viel zu kurze Augenblicke, die Floortje ungenutzt hatte verstreichen lassen. Die Schultern unter der schmucklosen, taillierten Jacke aus grauem Tuch versteiften sich wieder; schließlich wandte sie den Kopf zu Floortje um und sah sie mit zusammengezogenen Brauen unter der Hutkrempe hervor an. Bleib, wo du bist, besagte dieser Blick. Lass mich in Frieden!
Floortje verwünschte im Stillen ihr Zögern, das ihr im Grunde überhaupt nicht entsprach. Etwas zu bereuen, das man gesagt oder getan hatte – dafür blieb schließlich hinterher immer noch genug Zeit. Was aber den Umgang mit dem eigenen Geschlecht betraf, so hatte sich Floortje eine gewisse Vorsicht angewöhnt. In den Augen dieser jungen Frau, grau wie der Himmel über Friesland im Winter, hatte Floortje bislang jedoch keinen Funken Bosheit aufglimmen gesehen. Ein beherrschtes Abwarten stand darin, eine Duldsamkeit, die müde wirkte. Und manchmal glaubte Floortje in einem Blick unter halb gesenkten Lidern oder in einer kleinen, unwillkürlichen Bewegung gar einen Anflug von Unsicherheit zu entdecken. Auch wenn die junge Frau nun wieder den Kopf abwandte und den Blick zurück aufs Meer richtete, den Rücken durchgedrückt und die Schultern in unmissverständlicher Abwehr angespannt.
Das behagliche Gefühl, allein und unbeobachtet zu sein, war dahin, die friedliche Stimmung dieser frühen Stunde verdorben; dennoch dachte Jacobina keineswegs daran, ihren Platz aufzugeben. So schnell würde sie nicht mehr mit brennenden Wangen und gesenktem Kopf die Flucht ergreifen. Wie sie es früher so oft getan hatte, in ein dunkles Nebenzimmer, in dem sie wieder atmen konnte, abseits einer gediegenen Gesellschaft, die sich selbst feierte und für die der Name Jacobina van der Beek gleichbedeutend war mit dem Geld ihres Vaters. Mehr nicht. Denn mehr hatte Jacobina nicht zu bieten.
Als müsste sie ihr Recht verteidigen, hier zu sein, schlossen sich ihre behandschuhten Finger um den obersten Holm der Reling. Umklammerten ihn fester, als sich schnelle, leichtfüßige Schritte näherten.
»Guten Morgen!« Für eine solch kleine, zarte Person war ihre Stimme erstaunlich dunkel. Eine Stimme wie schwerer Samt, der während der Mahlzeiten den Speiseraum auskleidete, wenn sie am Nebentisch unablässig über Nichtigkeiten plauderte. Oftmals begleitet von einem Lachen, das tief war, zuweilen geradezu unanständig rau und wohl gerade deshalb ihre Tischnachbarn zum Mitlachen einlud. Auch jetzt schwang dieses Lachen in ihren Worten mit und klang wie Portwein, den man im Glas umherschwappen ließ. »Ist das nicht ein herrlicher Tag?!«
»Guten Morgen.« Jacobina sah weiterhin eisern geradeaus. »Ja.«
»Fährst du bis nach Batavia?«
Jacobina starrte sie an, eher verblüfft als verärgert darüber, so ungehörig, so vertraulich geduzt zu werden. Offen wurde ihr Blick erwidert, aus oval geschnittenen Augen unter dichten, dunklen Wimpern. Katzenaugen, manchmal grün, dann wieder wie aus dem Stoff des Ozeans geschaffen, ebenso lichtblau oder türkisen. Neugierig blickten sie, mit einer entwaffnenden Arglosigkeit und einem hoffnungsvollen Schimmer darin, und Jacobina sah schnell wieder auf das Meer hinaus.
»Wohin denn sonst?«, murmelte sie, und es geriet ihr weniger barsch als beabsichtigt.
»Vielleiiichht … naaachhh …«, kam die langgezogene Erwiderung in neckendem Tonfall, wie in einem Ratespiel, »… Alexandria? Aden? Nach Colombo? Oder nach Singapur?« Ebenfalls an eine Katze erinnerte die Art, wie sie sich an die Reling schmiegte, während sie einzelne Stationen dieser Schiffsreise aufzählte, und wie ihre bloßen Finger über das Eisen des obersten Holms strichen, auf Jacobina zu.
Unwillkürlich ließ Jacobina die Hände sinken und trat einen halben Schritt zurück. »Nein, ich bleibe bis Batavia an Bord.«
»Oh, ich auch! Ich bin übrigens Floortje. Floortje Dreessen.«
Jacobina schaute auf die Hand hinunter, die Floortje ihr in einer selbstbewussten Geste hinstreckte, Handfläche nach oben, als böte sie ihr mit Nachdruck etwas dar. Ebenso wenig wie Handschuhe trug sie einen Hut, offenbar unbesorgt darum, dass die Sonne ihren Teint verderben könnte, der hell war wie Sahne und zart, beinahe durchscheinend. Anders als Jacobinas Blässe, die so leicht ins Fahle überging. Es schien Floortje auch nicht zu kümmern, dass der Wind unablässig an dicken Partien ihres Haares raufte, das schwer war und kaffeedunkel glänzte. Sie hatte es ihm sogar noch leicht gemacht, nur einen Teil davon am Hinterkopf zu einem filigranen Schlaufengebilde hochgesteckt, während der Rest in geschmeidigen Wellen und Kringeln ihren Rücken hinabfiel. Kein Vergleich zu Jacobinas flachshellem Haar, das schnell strähnig aussah und in Sonne und Wind strohig wurde, wenn sie nicht achtgab. Einmal mehr durchfuhr es Jacobina, wie jung dieses Fräulein Dreessen doch war, fast noch ein Mädchen. Und hübsch, so hübsch, dass es wehtat. Am liebsten hätte sie sich auf dem Absatz umgedreht und wäre ohne ein weiteres Wort davongegangen. Ihre gute Erziehung indes verbot es ihr; sie wusste, was sich gehörte.
»Jacobina van der Beek.« Es versetzte ihr einen Stich, wie winzig und zerbrechlich sich Floortjes Hand in ihrer eigenen anfühlte, trotz der unvermuteten Kraft, mit der diese zupackte, und Jacobina ließ sie schnell wieder los.
»Ich war eigentlich auf dem Weg zum Käpt’n. Er hat mir angeboten, mich heute Morgen auf dem Schiff herumzuführen und mir alles zu zeigen. Sogar den Maschinenraum!« Floortjes Augen funkelten auf wie Aquamarine. »Magst du vielleicht mitkommen?«
»Sehr freundlich – aber danke, nein«, entgegnete Jacobina in mechanischer Förmlichkeit.
Floortjes Brauen, zwei wie mit sepiabrauner Tusche gezeichnete Bögen, hoben sich. »Aber warum denn nicht? Auf dem Pott hier läuft dir sicher nichts weg! Komm doch mit, das wird bestimmt lustig!«
»Nein, danke. Wirklich nicht.« Jacobina blinzelte in die Sonne, die sich weiter am Himmel hinaufgeschoben hatte und das Deck mit einem Licht wie zerlassene Butter übergoss. Sie war dieser Art wohltätiger Einladungen überdrüssig, für die sie sich später dankbar zeigen sollte.
»Ach, bitte!« Ein Ruck ging durch Floortje hindurch, halb Aufstampfen, halb Hüpfen, wie auch ihr Tonfall gleichermaßen flehend wie trotzig war. »Komm schon, zier dich nicht so! Zu zweit ist es noch mal so lustig!«
»Nein, ich …«, setzte Jacobina an; der Rest des Satzes blieb ihr in der Kehle stecken, als Floortje schwungvoll ihre Hand ergriff und sie im Laufschritt mit sich zog.