Читать книгу Das Herz der Feuerinsel - Nicole-C. Vosseler - Страница 9

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Nichts an den changierenden Blautönen von Himmel und Meer ließ erkennen, dass sie Europa hinter sich gelassen hatten; allein die stetig zunehmende Kraft der Sonne zeugte davon, dass die Maschinen des Dampfers sie bereits in den Orient getragen hatten.

Ohne die Abwechslung, die der Ausblick auf felsige Küstenstreifen und karge, manchmal hinter Dunstschleiern kaum zu erahnende Inseln geboten hatte, versank Jacobina in einem Zustand wohliger Trägheit. Sie war zufrieden damit, von ihrem angestammten Platz im Liegestuhl aus in den weiten Himmel hinaufzuschauen und den Blick auf der sanft gekräuselten Fläche des Meeres ruhen zu lassen. Stundenlang hielt sie ihr Buch aufgeschlagen auf den Knien, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen; über den letzten Absatz, den sie davon gelesen hatte, war sie seit mehreren Tagen nicht hinausgekommen. Manchmal hing sie ziellos Gedanken nach, die gemächlich durch sie hindurchzogen wie die Wolkenfetzchen, die über den Himmel segelten, ebenso zerfasert und ungreifbar.

Eine Weile sah sie Kaatje, Tressje und Lijsje zu, die mit ihren Puppen spielten.

»Bis wir in Batavia sind«, ließ sich Floortje leise vernehmen, »kann sie ihr neues Haus bestimmt komplett mit diesen Dingern auslegen.«

Jacobina sah über die Schulter hinweg verstohlen zu Frau Verbrugge hinüber, die unter dem Schattendach emsig an einem weiteren Spitzendeckchen häkelte; sofern Jacobina richtig mitgezählt hatte, das achte seit Beginn der Reise vor zweieinhalb Wochen. Die Augen auf ihre Handarbeit geheftet, lauschte sie den Empfehlungen und Ratschlägen, die Frau Ter Steege ihr in epischer Breite angedeihen ließ, und nickte dann und wann verstehend. Die plumpen Hände vor dem Bauch gefaltet und den Kopf in den Nacken gelegt, war Frau Junghuhn auf dem Platz neben ihrer Tochter eingedöst; Frau Rosendaal las, und Fräulein Lambrechts starrte mit sauertöpfischer Miene Löcher in die Luft. Die sanften, mädchenhaften Züge kalkig unterlegt und bläuliche Schatten unter den Augen, leistete ihnen Frau Teuniszen seltene Gesellschaft; ihre noch kaum sichtbaren anderen Umstände vertrugen sich nicht mit dem Seegang und ließen sie die längste Zeit in ihrer Kabine verharren.

Jacobina wandte sich wieder um, und auch Floortje beugte sich erneut über das Buch in ihrem Schoß, das sie aus dem hochtrabend »Schiffsbibliothek« genannten, mit zerlesenen und von Feuchtigkeit aufgequollenen Bänden vollgestopften Wandschrank gezogen hatte. Einen Fuß zum halben Schneidersitz unter sich gezogen, blätterte sie lustlos mit einer Hand zwischen den welligen Seiten herum, während sie eine Haarsträhne um den Zeigefinger der anderen Hand zwirbelte. Bis sie dem Buch einen abrupten Stoß versetzte, sodass es über ihr Knie hinweg auf dem Polster landete, und sie sich mit einem Stöhnen rücklings der Länge nach in den Liegestuhl warf.

»Mir ist todlangweilig«, maulte sie, zappelte mit den bestrumpften Füßen und sah Jacobina mitleidheischend an.

Jacobina blinzelte und senkte den Blick wieder auf die Buchseiten. »Tut mir leid«, gab sie betont langsam und mit einer gewissen Schärfe zurück. »Ich bin nun einmal keine aufregendere Gesellschaft.«

»Stimmt doch gar nicht!«, widersprach Floortje fröhlich. »Aber mitunter war ich schon froh, du würdest ein bisschen mehr über dich verraten. Denn sonst bin ich weiterhin allein auf Mutmaßungen und wildes Phantasieren angewiesen!«

Verblüfft starrte Jacobina sie an und wandte dann rasch die Augen ab. Dass Floortje sich Gedanken über sie machte, freute und beunruhigte sie zugleich, und die Verlockung, etwas von sich preiszugeben, rang mit ihrem Bedürfnis, auf der Hut zu bleiben.

»Allzu viel weiß ich ja auch nicht über dich«, entgegnete sie schließlich leise und bissiger als beabsichtigt. Halb unsicher, halb herausfordernd sah sie Floortje an.

Floortje wich ihrem Blick aus, ein dünnes Lächeln auf dem Gesicht. Unvermittelt wirkte sie in sich gekehrt, umso mehr, als sie sich aufsetzte, die Knie anzog und mit den Armen eng umschlang.

Beide verharrten in Schweigen. Ihre Augen schweiften über das Deck und das Meer, streiften dabei immer wieder die jeweils andere, ebenso neugierig wie vorsichtig. Wenn sich ihre Blicke dabei trafen, tauschten sie ein scheues Lächeln, das fragendem Ernst wich, bevor beide verlegen wegschauten. Eine seltsame Stimmung hatte sich zwischen ihnen eingeschlichen, angespannt und doch innig, geradezu vertraulich und doch nicht frei von Unbehagen.

Die Stille begann Floortje unangenehm zu werden, und schließlich hielt sie es nicht länger aus.

»Ist dir nicht zu warm?«, platzte sie mit dem Erstbesten heraus, das ihr in den Sinn kam, und deutete mit ihrem Kinn auf Jacobinas graue Tuchjacke.

»Nein«, log Jacobina. Die Bluse klebte ihr am Rücken, und unter den Achseln fühlte sie sich bereits feucht an. Dass sie die Jacke aufgehakt hatte und mittlerweile auf Handschuhe verzichtete, war ihr einziges Zugeständnis an die steigenden Temperaturen. Denn ohne die Jacke hätte sie sich schutzlos, beinahe nackt gefühlt; es kostete sie jedes Mal Überwindung, sie während der Mahlzeiten im Speiseraum auszuziehen, wie es sich gehörte. Und obwohl ihr die Kopfhaut juckte, würde sie um keinen Preis den Strohhut absetzen, das tat man in Gesellschaft unter freiem Himmel einfach nicht.

»Übrigens«, lenkte sie schnell ab, »wartet dort drüben jemand nur darauf, dass du ihm deine Aufmerksamkeit schenkst.«

Floortjes Blick folgte dem Jacobinas. Auf den obersten Holm der Reling gestützt, schaute Herr Aarens scheinbar gebannt auf das weite Meer hinaus. Ab und an wandte er sich um und warf Floortje einen sehnsüchtigen Blick zu, bevor er seine Taschenuhr hervornestelte, den Deckel aufschnappen ließ und das Zifferblatt eingehend studierte, ganz so, als könnte er darauf den günstigsten Moment ablesen, Fräulein Dreessen anzusprechen. Oder aber als wollte er damit zu verstehen geben, alle Zeit der Welt zu haben, um auf ein Zeichen von ihr zu warten. Mit enttäuschter Miene und unter Hüsteln und Räuspern klappte er dann jedes Mal die Uhr zu und verstaute sie wieder, sah noch einmal zu Floortje hinüber und widmete sich erneut der eintönigen Aussicht.

»Lieber nicht«, flüsterte Floortje und zog ihre Nase kraus. »Sonst macht er sich noch falsche Hoffnungen!«

»Ich dachte, du findest ihn nett«, sagte Jacobina erstaunt.

»Tu ich doch auch!«, erwiderte Floortje nicht weniger erstaunt. »Er ist ein anständiger, lieber Kerl. Aber er hat ja noch nicht einmal einen Pachtvertrag in der Tasche! Und selbst wenn er jetzt schon ein Stück Land sein Eigen nennen könnte – es wird Jahre dauern, bis das bebaut ist und Ertrag abwirft. Bis darauf ein Haus steht, in dem es sich komfortabel leben lässt. So lange will ich doch nicht in der Wildnis hausen!« Sie umschlang ihre Knie fester und scharrte nachdenklich mit einem Fuß über das Polster. »Und außerdem …«, fügte sie mit einem Murmeln hinzu, »außerdem stelle ich mir meinen Zukünftigen doch ein wenig fescher vor.« Eine feine Röte überzog ihre Wangen, als sie Jacobina von der Seite ansah, und das kokette Lächeln, zu dem sich ihre Lippen kräuselten, wirkte dazu nachgerade widersprüchlich.

Jacobina verspürte einen feinen Stich, wie immer, wenn es um Äußerlichkeiten ging. Um ihren wunden Punkt. »So wie die dort drüben?« Mit einer Kopfbewegung wies sie in Richtung der vier Rekruten, die sich um einen Tisch versammelt hatten und um kupferne Cent Karten spielten.

Floortje schien den galligen Unterton nicht bemerkt zu haben; zumindest störte sie sich nicht weiter daran. Sie kicherte, und als einer der vier Burschen, ein lang aufgeschossener, semmelblonder Schlaks namens Frits, ihren Blick auffing, winkte sie ihm geziert zu. Er lief rot an, grinste aber von einem Ohr zum anderen, was seine äußerst charmanten Grübchen zum Vorschein brachte, und betont lässig warf er eine Karte aus seinem Blatt in die Mitte des Tischs.

»Schon eher«, schnurrte Floortje mit einem verklärten Lächeln. Ihre Augen funkelten übermütig, als sie Jacobina wieder ansah. »Oder wie die Heizer, die wir auf unserem Rundgang über das Schiff gesehen haben – erinnerst du dich?«

Jacobinas Gesicht wurde heiß, und sie senkte den Blick. Natürlich erinnerte sie sich. An die lodernde Hitze und das Zwielicht des eisenverkleideten Raumes und an den glutroten Widerschein des Feuers in den Kesseln, der über die Silhouetten der Männer flackerte. Sie erinnerte sich an starke, rußverschmierte Arme, deren Sehnen und Muskeln sich deutlich abzeichneten; an weit geöffnete Hemden, die schweißglänzende Haut sehen ließen, und an eine einzelne bloße Männerbrust, markig und robust, dunkel entweder von dichtem Haar oder Kohlenstaub. Nur zwei, drei Herzschläge lang hatten sie und Floortje mit großen Augen und offenem Mund hinstarren können; dann war Kapitän Hissink aufgegangen, dass dies mitnichten ein geeigneter Anblick für junge Damen war. Hastig hatte er sie zum Weitergehen angetrieben und mit einem fieberhaften Wortschwall seinen Fauxpas zu überspielen versucht, bis sie wieder in unverfänglicheren Räumlichkeiten angelangt waren.

»Der arme Käpt’n!«, raunte Floortje gedehnt, und Jacobinas Mundwinkel zuckten, so fest sie sich auch auf die Lippen biss. »Der wälzt sich bestimmt jetzt noch nachts in seiner Koje hin und her, weil er von der Vorstellung gefoltert wird, wie wir uns bei der Reederei darüber beschweren, dass er uns einem solch unschicklichen Anblick ausgesetzt hat!« Ein Kichern sprudelt in ihrer Kehle herauf.

Jacobinas Mundwinkel schnellten auseinander, und ein echtes, offenes Lächeln entfaltete sich auf ihrem Gesicht. Dieses Lächeln, von dem sie lange geglaubt hatte, es könnte alle ihre anderen Makel überstrahlen. Bis sie mehrfach darauf hingewiesen worden war, wie wenig damenhaft es aussah, wenn sich ein solch großer Mund wie der ihre auch noch übermäßig in die Breite zog und dabei derart viele Zähne zeigte, mochten sie auch noch so weiß und regelmäßig sein. Bei dem Gedanken daran schrumpfte das Lächeln wieder zusammen und erstarb schließlich ganz.

»Fesch hin oder her …« Floortje seufzte tief auf und musterte sehnsüchtig Frits und seine Kameraden. »Was soll ich denn mit einem solchen Grünschnabel? Die müssen sich ihre Sporen erst noch verdienen, bei kärglichem Sold, und zu umtriebig für eine Ehe sind sie auch noch. Lieber«, in ihre Stimme schlich sich ein verträumter, beinahe schmeichlerischer Unterton, »lieber einen gesetzten, aber immer noch schneidigen Offizier.« Mit leuchtenden Augen sprang ihr Blick zwischen Major Rosendaal und Leutnant Teuniszen hin und her, die über die Schultern der vier Rekruten hinweg Frotzeleien und wohlmeinende Ratschläge in die Spielrunde warfen.

»Der edle Ritter auf seinem stolzen weißen Ross«, sagte Jacobina trocken und zeichnete mit dem Finger den Buchfalz nach.

»Ja, genau!«, erwiderte Floortje lachend.

Jacobina starrte vor sich hin. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie einen ganz ähnlichen Traum gehegt hatte. Wenn sie heute daran zurückdachte, war er ihr peinlich, so kindlich, so versponnen kam er ihr im Nachhinein vor. Von einem Mann hatte sie geträumt, für den sie interessant und liebenswert sein mochte, der gerne mit ihr zusammen war und sie, wenn schon nicht hübsch, so doch wenigstens ein bisschen anziehend fände. Dessen Augen aufglänzten, wenn er sie ansah; ein Glanz, der vielleicht auf sie übersprang und sie auch in den Augen anderer weniger farblos, weniger langweilig aussehen ließ. Erst hoffnungsvoll, dann verzweifelt hatte sie diesen Traum gehütet, bis er sich an all den festlichen Diners, den Gartenfesten, Landpartien und Bällen, zu denen ihre Mutter sie mit wachsender Resignation begleitete, abgenutzt hatte. Zerschlissen war dieser Traum unter jenen endlosen Stunden, die Jacobina erst mit einem freudigen, dann mit einem zunehmend gequälten Lächeln am Rand der Tanzfläche ausgeharrt hatte, ohne von jemand anderem als Henrik aufgefordert zu werden. Der Mann ihrer Träume bekam nie ein Gesicht, nie einen Namen, genauso gut hätte Jacobina sich die Sterne vom Himmel wünschen können, und über die Zeit war sie schließlich diesem Luftschloss entwachsen. Mit jedem der Herren, die ihr vorgestellt wurden, ein wenig mehr; all diese jungen und mittelalten Männer in guten Anzügen, die unter höflichen Floskeln durch sie hindurchsahen. Bis sie Jacobinas Namen mit dem Bankhaus Van der Beek in Verbindung brachten und ein interessierter Funke in ihren Augen aufglomm, der jedoch niemals Jacobina selbst galt. Das einzige Opfer, das sie nie für die Familie gebracht hatte: einen Mann zu heiraten, der sie nur wegen des Geldes nahm. Eine Verfehlung, die ihr nie verziehen worden war.

»Du … du musst mich für sehr oberflächlich halten«, hörte sie Floortje kleinlaut flüstern.

Jacobina hob ausweichend die Schultern.

»Für mich ist das eben der einzige Weg, etwas aus meinem Leben zu machen«, erklärte Floortje leise, während sie an den Zehennähten ihrer Strümpfe herumknibbelte. »Mehr, als mich als Dienstmädchen oder als Magd zu verdingen oder einen Schmied, einen Bauern, vielleicht noch einen Krämer zu heiraten. Und ich finde, ich habe für den Rest meines Lebens genug Böden geschrubbt und Kartoffeln geschält.« Mit einem tiefen Seufzer richtete sie sich auf; einen Ellenbogen auf die Knie gestützt und die Wange in ihre Hand geschmiegt, sah sie Jacobina schüchtern an. »Bei dir ist das sicher etwas anderes. Du beherrschst schon allein mehrere Sprachen, während ich nur leidlich Deutsch und ein bisschen Englisch kann, und du bist überhaupt sehr gebildet. Damit lässt sich eben mehr anfangen als nur mit einem hübschen Gesicht.«

Jacobina lächelte schwach. »Glaub mir«, entgegnete sie mit belegter Stimme, »so viel anders ist das auch nicht.«

Sie hatte lange gebraucht, um zu durchschauen, dass ihre Erziehung zu einer kultivierten jungen Dame allein den Zweck verfolgte, vielleicht einen Arzt oder einen Gelehrten für sie zu gewinnen. Vergeblich; denn offenbar bevorzugten auch Männer mit großen Geistesgaben und mehr oder minder ansprechendem Erscheinungsbild eine Gattin, die vor allem hübsch anzusehen war und ihnen Glanz verlieh. Und obwohl weder ihr Vater noch ihre Mutter je ein Wort darüber fallen ließen, hatte Jacobina dennoch ihre Enttäuschung gespürt, dass all die Ausgaben für teure Privatstunden und Bücher umsonst gewesen waren; eine Verschwendung des Familienvermögens, die dem Ethos der van der Beeks zuwiderlief, jede Ausgabe musste sich rechnen. Denn wenn sich kein Mann für Jacobina fand, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als den Rest ihres Lebens erst weiter das Anhängsel ihrer Eltern, irgendwann später einmal das von Henrik und Tine oder das von Martin zu sein. Die bedauernswerte, lästige alte Jungfer. Eine andere Aussicht bestand nicht. Nicht in Amsterdam; nicht in den Niederlanden, in denen es für Töchter aus gutem Hause keine Möglichkeit gab, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen oder auch nur allein und selbstbestimmt zu leben.

»Deshalb will ich nach Batavia«, wisperte Floortje mit glänzenden Augen. »Stell dir doch nur mal vor – all die Junggesellen auf Java, die mit Kaffee, Tee und Chinin zu Geld gekommen sind! Die keine Frau zum Heiraten finden, weil die Mädchen bei uns das Leben in der Fremde scheuen. Das ist doch das große Los für mich! Und«, sie stützte sich auf den Armlehnen ab, stemmte sich ein Stück hoch und spähte über ihre Schulter hinweg unter das Sonnendach, bevor sie sich zurückfallen ließ und sich zu Jacobina hinüberbeugte, »und ich bin mir sicher, deswegen haben der Major und seine Frau auch die Lambrechts mit dabei!«

Auf Jacobinas Stirn bildeten sich Furchen. »Meinst du wirklich?«

»Auf jeden Fall!«, bekräftigte Floortje im Flüsterton. »Die ist ja ohnehin nicht gut auf mich zu sprechen, aber wehe, Herr Aarens hält sich in meiner Nähe auf … Tot umfallen müsst ich, so böse schaut sie mich an!« Sie streckte sich auf der Sonnenliege aus und rekelte sich wohlig. »Der Ärmste tut mir jetzt schon leid, sollte sie ihn je in ihre Fänge kriegen.« Mit einem Aufkichern reckte sie ein Bein herüber und stupste mit der Fußspitze Jacobinas Knie an. »Vielleicht finden wir dort ja auch noch einen Mann für dich!«

Jacobina bemühte sich, ihre Knie unauffällig aus Floortjes Reichweite zu bringen, und rang sich ein verkniffenes Lächeln ab. »Wohl kaum.«

Nach den endlosen Wochen, in denen Jacobina ihre Eltern in einem zähen Ringen zu überzeugen versucht hatte, sie gehen zu lassen, hatte letztlich ein Argument schwerer gewogen als alles andere: die Hoffnung Bertha van der Beeks, ihre Tochter, die trotz aller Bemühungen mit sechsundzwanzig immer noch unverheiratet war, würde vielleicht doch noch eine annehmbare Partie machen. In den ostindischen Kolonien, in denen auf eine Frau fünf Männer kamen und wo es deshalb vielleicht keine allzu große Rolle spielte, dass sich bei Jacobina die guten Erbanlagen der van der Beeks und der Steenbrinks zu keinem gefälligeren Äußeren verbunden hatten. Und Jacobina, beseelt von dem Wunsch, endlich ein eigenes Leben zu führen, hatte ihrer Mutter nicht widersprochen. Sie hatte ihr aber auch nicht erzählt, dass eine Heirat nicht mehr für sie in Frage kam. Die Freiheit, die sie sich von ihrem neuen Leben in der Fremde erhoffte, würde sie sich nicht mehr nehmen lassen.

»Warum denn nicht?«

Die Antwort darauf blieb Jacobina ihr schuldig. In kurzen Hosen und sein Steckenpferd hinter sich herschleifend, marschierte der kleine Joost an den Sonnenliegen vorüber. Sonst ein Rabauke, schlich er seit Neuestem vorsichtig und auf Abstand bedacht um Jacobina herum, still und mit großen Augen, in denen aber immer ein besonderer Glanz lag. Seine Schritte wurden unregelmäßig und verlangsamten sich; er blickte zu den Decksplanken hinab, und mit gerunzelter Stirn schlenkerte er dann bei jedem zweiten Schritt den rechten Fuß hoch, um dem losen Schnürsenkel seines Schuhs Herr zu werden.

Jacobina drehte sich um. Frau Verbrugge war immer noch in ihr Häkeldeckchen vertieft und lauschte aufmerksam Frau Ter Steeges Ausführungen, und so legte Jacobina ihr Buch beiseite und stand auf.

Neben dem Jungen ging sie in die Knie. »Soll ich dir den wieder zubinden?«

Joost ließ seine klarblauen Augen zwischen dem Schuh und Jacobina hin und her wandern, bis er schließlich nickte, ein winziges Lächeln um den Kindermund.

»Pass gut auf!« Während sie die losen Enden zur Schleife band, wiederholte sie den alten Reim, mit dem ihre Kinderfrau ihr das Zubinden beigebracht hatte. »Die Maus baut ein Haus … geht ums Haus … und kommt vorne … wieder raus!« Sie sah den Jungen an. »Fertig! Gut so?«

Das Lächeln auf dem pausbäckigen Gesicht des Jungen hatte sich zu einem Strahlen ausgedehnt; hingebungsvoll lag sein Blick auf Jacobina. Schließlich nickte er und setzte sich langsam in Bewegung, immer noch glückselig und ohne die Augen von ihr abzuwenden.

Die Unterarme auf der Armlehne überkreuzt und das Kinn darauf gelegt, hatte Floortje den beiden zugesehen. »Du kannst gut mit Kindern.«

Jacobina zuckte mit den Schultern. »Das war ja nun keine große Sache.« Umständlich setzte sie sich wieder auf der Liege zurecht.

Sie mochte nicht zugeben, wie wenig Erfahrung sie tatsächlich darin hatte; ihr Umgang mit Kindern beschränkte sich auf wenige Stunden während der einen oder anderen Feier, in denen sie davor geflohen war, vor aller Augen als Mauerblümchen herumzusitzen oder von ihrer Mutter wieder einmal einen Herrn vorgestellt zu bekommen. Stunden, in denen sie sich daran freute, den Kinderfrauen und ihren Zöglingen zuzuschauen, daran, ein Lied beizusteuern oder einen Abzählvers und wie selbstverständlich die Kinder sie in ihr Spiel miteinbezogen; Stunden, in denen sie ihr sonstiges Dasein vergessen konnte. Und so wie Frau de Jong sie in keinem ihrer Briefe nach ihrem Erfahrungsschatz gefragt hatte, hatte Jacobina es ihrerseits vermieden, von sich aus dazu Angaben zu machen.

Sie kam sich vor wie eine Hochstaplerin, und unter Floortjes unverwandtem Blick verschanzte sie sich hinter ihrem Buch, ohne auch nur eine Zeile davon in sich aufzunehmen. Erleichtert sah sie aus dem Augenwinkel, wie Floortje sich auf der anderen Liege ausstreckte, die aneinandergelegten Hände zwischen Kopf und Polster schob, die Wange dagegenschmiegte und die Augen schloss.

»Ich finde«, murmelte Floortje nach einer Weile, »manchmal muss man sich einfach das nehmen, was einem das Leben bisher verweigert hat. Ohne Wenn und Aber. Ohne Gewissensbisse. Und dann muss man alles auf eine Karte setzen.«

Jacobina gab keinen Laut von sich. Als Floortje irgendwann ein Rascheln hörte, blinzelte sie und beobachtete verstohlen unter gesenkten Lidern, wie Jacobina sich aus ihrer Jacke schälte, sie zusammenfaltete und sorgsam über die Armlehne hängte. Einige Augenblicke lang schien sie mit sich zu ringen; dann schlüpfte sie hastig aus ihren Schuhen und zog mit einem kaum hörbaren, wohligen Aufseufzen die Beine unter sich, bevor sie erneut zu ihrem Buch griff.

Floortje schloss die Augen und kuschelte sich mit einem zufriedenen Lächeln tiefer in das Polster.

Das Herz der Feuerinsel

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