Читать книгу Das Herz der Feuerinsel - Nicole-C. Vosseler - Страница 18

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Die Zunge konzentriert auf die Oberlippe geheftet, saß Jeroen mit baumelnden Beinen am Tisch auf der Veranda, faltete ein Stück Papier Kante auf Kante und knickte die Ecken um. Immer wieder schielte er zu Jacobina hinüber, um sich zu vergewissern, dass er auf dem richtigen Weg war, und um zu schauen, was als Nächstes kam, bevor er weitermachte.

Er hielt inne und betrachtete ratlos das entstandene Quadrat vor sich. »Und jetzt, noni Bina?«

»Jetzt faltest du die untere Spitze nach oben«, erläuterte Jacobina. Sie hielt Ida auf dem Schoß und half ihren noch ungelenken Fingerchen beim Papierfalten »Ja, so. Und dann drehst du es um und machst das Gleiche auf der anderen Seite.«

Sorgsam knickte Jeroen Spitze um Spitze um und strich mit dem Daumen fest über die Falze, und ein Leuchten glitt über sein Gesicht, als ihm einfiel, wie es weiterging. Ida schnaufte angestrengt auf und schaute bewundernd zu ihrem Bruder, dem die Faltarbeit so viel leichter fiel als ihr.

»Was macht ihr da Schönes?«

Alle drei sahen auf, als Jan Molenaar lächelnd zu ihnen trat. Jacobinas Herz schlug schneller, und rasch senkte sie den Blick wieder auf das Papier unter Idas Fingern.

Jeroen strahlte ihn breit an und hielt ihm das Kunstwerk mit beiden Händen hin. »Das ist ein Boot. Guck!« Er zog die beiden Zipfel auseinander und präsentierte voller Stolz das fertige Papierschiffchen. »Wir haben schon ganz viele!«

»Ganz, ganz viele!«, kam das kieksende Echo von Ida.

Jan Molenaar ging in die Knie. »Das ist ja eine richtige Flotte«, bewunderte er das halbe Dutzend Papierschiffchen in der Mitte des Tischs, zu dem Jeroen seines dazustellte. »Und was macht ihr dann damit?«

»Erst malen wir die noch an«, erklärte Jeroen und zeigte auf die Schachtel mit den Wachsmalkreiden, »und dann kriegen wir eine Schüssel mit Wasser und lassen die drin schwimmen.«

»Da will ich dann aber dabei sein!«, meinte Jan Molenaar.

»Weil du’s bist«, gab Jeroen großmütig zurück und lehnte sich im Stuhl zurück.

Jan Molenaar lachte und versetzte ihm einen zärtlichen Nasenstüber. »Es ist ganz ungewohnt, ihn holländisch reden zu hören«, wandte er sich an Jacobina, die nur nickte und lächelte.

Jeroen pendelte mit den Beinen und sah seiner Schwester zu, die sich noch mit dem letzten Schiffchen abmühte. »Du, noni Bina, sind die Blumen jetzt vielleicht fertig?«

Mit den Kindern hatte Jacobina im Garten Blüten gepflückt, sorgsam zwischen dickes Papier geschichtet und in eine Mappe gepackt, die sie mit den wenigen Büchern, die es im Haus gab, beschwert hatte. Seither war kein Tag vergangen, an dem Jeroen nicht danach fragte; er wollte unbedingt wissen, wie sie getrocknet aussehen würden. Wie hauchdünne, durchscheinende Seide, hatte Jacobina ihm erklärt und damit seine Neugierde und Ungeduld nur noch weiter entfacht.

»Jetzt könnten sie tatsächlich fertig sein«, erwiderte Jacobina gelassen und zog zusammen mit Ida das Papierschiffchen auseinander. Das Mädchen wandte den Kopf zu ihr um und strahlte über das ganze Gesicht, schaute wieder nach vorne und betrachtete verzückt ihr Werk.

»Kann ich sie holen gehen?« Ruckartig setzte sich Jeroen auf und rutschte auf die Kante vor, bereit, jeden Augenblick loszuflitzen. »Bitte?«, setzte er schnell hinzu.

»Ich komme mit«, sagte sie. »Wegen der schweren Bücher.« Sie fasste Ida unter den Achseln, um sie vom Schoß zu heben, während Jeroen bereits vom Stuhl gehüpft war.

»Bleiben Sie doch sitzen«, bat Jan Molenaar und stand auf. »Sie müssten mir nur sagen, wo …«

»Ich zeig’s dir!«, rief Jeroen, nahm ihn bei der Hand und zog ihn ins Haus.

Wie selbstverständlich bewegte sich Jan Molenaar durch das Haus der de Jongs, als gehörte er zur Familie; offenbar war die Gastfreundschaft in Ostindien, die Herr Ter Steege im Speiseraum der Prinses Amalia so gerühmt hatte, durchaus wörtlich zu verstehen. Obwohl sie seit jenem Abend hier auf der Veranda an der Schmalseite des Hauses keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, mit ihm allein zu sein, da Jan Molenaar seine Abende in der Gesellschaft der de Jongs verbrachte und ganze Tage in der Stadt, fühlte es sich für Jacobina dennoch so an, als sei er immer zugegen. Eine Anwesenheit, die sie gleichermaßen verwirrte und unruhig machte, wie sie sich daran freute. Und wenn er so wie jetzt dazukam, während sie mit den Kindern spielte, und er sich ihnen ganz ungezwungen anschloss, mit Jeroen raufte und Ida neckte, dabei Jacobina immer wieder lächelnd ansah, schlug ihr das Herz höher. Sie konnte dann nicht anders, als einfach zurückzulächeln.

Gedankenverloren drückte sie ihr Gesicht in Idas Haar, das nach Sonne duftete und nach Ida selbst, süß wie Vanille und Honig, und Ida kuschelte sich enger an sie. Vor den Berührungen der Kinder hatte es kein Entkommen gegeben; sie scherten sich nicht darum, ob Jacobina wollte oder nicht, sondern fassten sie einfach bei der Hand und schmiegten sich zutraulich an sie, gleichermaßen besitzergreifend wie liebesbedürftig, und rührten damit tief in Jacobina etwas an, das sie nicht mehr missen mochte.

»Da, guck!«, rief Ida und deutete auf Jeroen und Jan Molenaar, die wieder auf die Veranda kamen.

Beinahe ehrfürchtig trug der Junge die schwarze Ledermappe vor sich her wie einen kostbaren Schatz; es fiel ihm in seiner Ungeduld sichtlich schwer, damit nicht vorwärtszustürmen und sie stattdessen behutsam auf dem Tisch abzulegen. Er stellte sich dicht neben Jacobina, um ja nichts zu verpassen, zappelte in den Knien und strahlte Jan hinter sich aufgeregt an.

Jacobina schob sich Ida auf dem Schoß zurecht, löste das Schleifenband der Mappe und klappte sie auf. Vorsichtig hob sie das oberste der Blätter an und schlug es um. »Oh nein«, murmelte sie.

Statt der erwarteten zart geäderten, fragilen Gebilde in sanftem Rot, Blau, Gelb und Weiß klebten plattgedrückte braune Formen auf dem Papier, die selbst an ihren Umrissen kaum noch als Blüten zu erkennen waren. Giftig gelb gesprenkelt und von einem Feld grauer Schimmelflöckchen umgeben, stieg ein modriger Geruch daraus auf.

»Die sehen aber nicht schön aus«, ließ sich Jeroen zögerlich vernehmen.

Jacobina schluckte und hielt Idas Händchen fest, das sich neugierig nach den verfaulten Blüten ausgestreckt hatte. »Nein, die sehen überhaupt nicht schön aus.« Sie versuchte sich an einem Lächeln, das zittrig geriet. »Da habe ich etwas falsch gemacht.«

Jeroen sah sie von der Seite her an, lehnte sich dann an sie und schmiegte die Wange gegen ihren Arm. »Nicht traurig sein, noni Bina«, sagte er leise. »Wir versuchen es noch mal.«

»Noch maaaal«, piepste Ida und hopste auf Jacobinas Schoß auf und ab.

»Ja«, presste Jacobina hervor. »Vielleicht.«

Zu ihrer Erleichterung rief Melati die Kinder für das nachmittägliche Bad zu sich; Jeroen jagte bereits davon, und Jacobina setzte die strampelnde Ida ab, die sich beeilte, ihrem Bruder zu folgen.

Schweigend war Jan Molenaar daneben gestanden, die Hände in den Hosentaschen vergraben. »Das tut mir sehr leid«, sagte er nun leise.

»Ja, mir auch«, erwiderte Jacobina mit belegter Stimme. Sie atmete auf, als sie aus den Augenwinkeln sah, wie er davonging, und gleichzeitig wünschte sie sich, er wäre geblieben. Enttäuschung schnürte ihr den Magen zusammen, und Tränen brannten hinter ihren Augen. Sie kam sich unendlich dumm vor, nicht daran gedacht zu haben, dass die Blüten in der feuchtheißen Luft hier sofort faulen würden. Langsam klappte sie die Mappe wieder zu, verschränkte die Arme darauf und starrte zu den Bäumen hinüber. Ihre Brauen zogen sich zusammen, als sie zwischen den Stämmen eine kleine Gestalt entdeckte. Ein einheimischer Junge war es, den schmalen, haselnussbraunen Leib nur mit einem gemusterten Tuch bekleidet, das er um die Hüften geschlungen hatte. Eine Hand gegen einen Baumstamm gestützt, reckte er sich auf den Zehenspitzen hoch und spähte zum Haus herüber.

Jacobina erhob sich, um ihn besser erkennen zu können, und wie ein Windstoß wirbelte der Junge herum und war sogleich zwischen den Bäumen verschwunden. Einige Herzschläge lang blickte Jacobina noch zu der Stelle hin, an der der Junge gestanden hatte, dann machte sie sich daran, die Schiffchen zusammenzuräumen, um sie ins Haus zu tragen. Sie hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Eine Hand hinter sich verborgen, kam Jan Molenaar auf sie zu und blieb dicht vor ihr stehen.

»Das einzig Beständige auf dieser Welt ist die Vergänglichkeit alles Irdischen«, sagte er leise. »Ganz besonders hier in den Tropen.« Er holte die Hand hinter dem Rücken hervor und hielt Jacobina zwischen den Fingerspitzen eine Blüte entgegen. Die wächsernen, ovalen Blütenblätter waren cremigweiß und färbten sich zur Mitte hin dottergelb. Eine Blüte, wie mehrere Bäume im Garten sie trugen und wie Jacobina sie unter anderem hatte trocknen wollen – nicht zuletzt ihres betäubend süßen Dufts wegen, der an manchen Abenden durch die Fenster hereinquoll.

»Frisch sind sie doch am schönsten«, fügte er hinzu.

Jacobina nickte und streckte die Finger danach aus, aber Jan Molenaar zog seine Hand einen Deut zurück. »Man trägt sie im Haar.« Er machte eine Geste zu Jacobina hin. »Darf ich?«

Verlegen nickte sie wieder, und er trat näher, so nahe, dass Jacobina die Wärme seines Körpers auf ihrer Haut spüren konnte und seinen Atem auf ihrem Gesicht. Er roch gut, nach frisch gewaschener Wäsche und ein bisschen wie sonnendurchwärmter Stein und wie grünes Moos.

»Der botanische Name ist Plumeria«, raunte er ihr zu, während er sich mit der Blüte an ihrem Haarknoten zu schaffen machte, sodass ihr kleine Schauder das Rückgrat hinabrannen. »Wir Europäer nennen sie Frangipani, und hier heißt sie Kemboja.« Er legte den Kopf zurück, um sein Werk zu betrachten, und Jacobina schielte zu ihm hin. Sein Gesicht war so dicht an ihrem, dass sie die ersten feinen Linien unter seinen Augen erkennen konnte. Augen, die aus der Nähe von einem eigentümlich warmen Grau waren, beinahe wie Rauchquarz, und Linien, die sich vertieften, als er schief grinste und ihr zuzwinkerte. »Für einen Mann hab ich das ganz ordentlich hinbekommen, meine ich.«

Ihre Blicke verhakten sich ineinander, ein, zwei Herzschläge lang, dann trat Jan Molenaar einen halben Schritt zurück. Er räusperte sich und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über Mund und Kinn. »Haben Sie sich schon etwas von der Stadt angesehen?« Als Jacobina den Kopf schüttelte, setzte er schnell hinzu: »Möchten Sie gerne? Wann haben Sie Ihren freien Tag? – Sie haben doch einen freien Tag?«

Jacobina senkte den Kopf. Ein freier Tag in der Woche, vorzugsweise der Sonntag, war vorab im Briefwechsel mit Frau de Jong vereinbart gewesen, aber Jacobina hatte sich nicht getraut, sie daran zu erinnern; überdies war sie gern mit den Kindern zusammen und hätte auch gar nicht gewusst, was sie mit einem freien Tag anfangen sollte, sie hatte auch so genug Zeit für sich.

»Schon«, flüsterte sie langsam, »aber …«

»Aber Griet hat es vergessen, was?« Er lachte. »Das sieht ihr ähnlich! Kommen Sie!« Ehe Jacobina es sich versah, hatte er sie bei der Hand genommen und zog sie im Laufschritt die Veranda entlang, um die Ecke herum zur Rückseite des Hauses. »Griet!«

Die Teetasse in der einen, die Untertasse in der anderen Hand und die Beine in ihrem blauweißen Sarong übereinandergeschlagen, drehte Margaretha de Jong sich mit fragender Miene auf ihrem Rattanstuhl um. Auch der Major, der sich breitbeinig auf seinem Platz zurückgelehnt hatte, sah ihnen mit hochgezogenen Brauen entgegen; nur der einheimische Junge, der in einer monotonen Bewegung am Seil des punkahs über dem Tisch zog, zeigte keine Regung.

»Liebste, verehrteste Griet«, rief Jan Molenaar aus, als er und Jacobina den Tisch auf der Veranda erreicht hatten, »wie sich gerade zufällig herausgestellt hat, hast du in deiner unnachahmlichen Art vergessen, eurer Hauslehrerin ihre freien Tage zuzugestehen. Und noni Bina hier«, er hob ihrer beider verschränkten Hände leicht an, »war viel zu langmütig, um dich daran zu erinnern.«

Jacobinas Wangen wurden heiß; die Situation war ihr unangenehm, und Jan Molenaars Hand, die ihre festhielt, brachte ihren Herzschlag ins Stolpern.

Frau de Jong riss die Augen auf und setzte ihre Tasse auf der Untertasse ab; sie schlug die Hand vor den Mund und presste sie dann auf ihr Brustbein, während sie zwischen ihrem Mann, Jan und Jacobina hin und her sah. »Du große Güte! Das tut mir schrecklich leid, noni Bina! Wie unaufmerksam von mir! Warum haben Sie denn nichts gesagt? Natürlich steht Ihnen ein freier Tag zu! Entschuldigen Sie vielmals! Ich weiß nicht, wie das passieren konnte!« Unglücklich blickte sie in die Runde.

Der Major verdrehte die Augen und beugte sich vor, um die Glut seines Zigarillos am Rand des Aschenbechers abzustreifen. »Herrje, nun mach doch keine Staatsaffäre daraus, M’Greet! Wärst du weniger mit deinen Kränzchen beschäftigt und würdest nicht alles dem Personal überlassen, wäre dir das nicht passiert. Soll Fräulein van der Beek die freien Tage, die ihr entgangen sind, eben nachholen, und das Ganze ist damit vom Tisch.« Er ließ sich wieder im Stuhl zurückfallen und knurrte etwas auf Malaiisch in sich hinein.

Auf den Wangen von Frau de Jong zeichneten sich rote Flecke ab. »Sollen wir das so machen, liebe noni Bina? Ach Gott, das tut mir so unendlich leid, das müssen Sie mir glauben!«

»Ja, natürlich, sehr gerne«, sagte Jacobina leise; sie fühlte sich ein bisschen schuldig, dass sie Frau de Jong nicht schon früher darauf angesprochen hatte und nun daran beteiligt war, dass diese sich in eine solch unangenehme Lage gebracht fühlte. Der eindringliche, blaufunkelnde Blick, mit dem der Major sie musterte, vergrößerte ihr Unbehagen. Obwohl er stets auf seine zurückhaltende, ein wenig bärbeißige Art freundlich zu ihr war, fühlte Jacobina sich in seiner Gegenwart befangen. Vielleicht, weil sie ihn so selten sah; er schien schon frühmorgens aus dem Haus zu gehen und kehrte erst sehr spät zurück, und die Kinder bejubelten es wie einen Feiertag, wenn er einmal schon am Nachmittag nach Hause kam und mit ihnen im Garten herumtobte.

»Im ersten Moment«, ließ sich der Major vernehmen, »war ich überzeugt, Jan würde uns die Bombe vor die Füße fallen lassen, dass er unser Fräulein van der Beek vom Fleck weg heiraten will.« Er drohte Jan Molenaar mit seinem Zigarillo. »Das, mein Lieber, würde dir hier im Haus niemand verzeihen, das sag ich dir gleich!«

Jacobinas Wangen standen in Flammen, und sie wollte Jan Molenaar ihre Hand entziehen, doch er packte sie nur fester.

»Ich kann schon beim Trinken nicht mit dir mithalten, Vincent«, gab er lachend zurück. »Da muss ich dir auch das nicht nachmachen!«

Der Major lachte dröhnend; mit seinen starken, regelmäßigen Zahnreihen und den besonders spitz zulaufenden Eckzähnen erinnerte er dabei an einen kräftigen Hund, der sein Gebiss bleckte.

»Ihr könnt ja gleich morgen einen Anfang machen«, fuhr Jan Molenaar fort und sah Jacobina an, »und noni Bina frei geben.« Ihr Herz geriet ins Taumeln, als sein Daumen über ihre Finger strich. »Dann zeige ich ihr ein bisschen was von der Stadt.«

Das Herz der Feuerinsel

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