Читать книгу Das Herz der Feuerinsel - Nicole-C. Vosseler - Страница 7
2
Оглавление»… zwei-und-zwan-zig, drei-und-zwan-zig …«, singsangte die kleine Lijsje im Takt ihrer Sprünge. »Vier-und-zwan…« Mit dem Absatz ihrer geschnürten Stiefelette blieb sie hängen und verhedderte sich, entwirrte das Seil und begann von vorne, sodass ihre zu Affenschaukeln hochgebundenen blonden Flechtzöpfe vor und zurück pendelten. »Ei-heins, zwei-hei, drei-hei …«
Das schöne Wetter hatte alle nach dem ersten Frühstück an Deck gelockt, um die Zeit bis zum Gabelfrühstück mit gepflegtem Müßiggang zu verbringen. Die Herren Verbrugge und Ter Steege saßen sich an einem Tischchen gegenüber und verschoben abwechselnd und mit langen Denkpausen die Spielsteine auf dem Damebrett zwischen sich. Im Schutz eines Sonnenschirms flanierte Frau Ter Steege neben ihrer Mutter die Reling entlang, wortreich bemüht, dieser die Aussicht auf das azurblaue Meer und die felsige, sonnenüberglänzte Küste Portugals schmackhaft zu machen. Doch mehr als ein ungnädiges Brummen dann und wann war der weißhaarigen älteren Dame, deren kohlschwarze Kleider so steif wirkten wie ein Harnisch, nicht zu entlocken. Ihre beiden Mädchen wusste Frau Ter Steege unterdessen gut aufgehoben: während unter Frau Verbrugges Fingern ein filigranes Häkeldeckchen Gestalt annahm, ruhte ihr fürsorglicher Blick teils auf Lijsje mit ihrem Springseil, teils auf Kaatje, die einträchtig neben der fast gleichaltrigen Tressje Verbrugge auf den Decksplanken saß. Mal mit ernsten Mienen und gedämpften Stimmchen, dann wieder mit dramatischer Mimik und aufgeregten Rufen hatten sich die beiden kleinen Mädchen ganz in die Welt ihrer Puppen zurückgezogen, deren Geheimnisse den Erwachsenen verborgen blieben.
»… zwei-und-dreißig, drei-und-drei…«, zählte Lijsje weiter die Augenblicke dieses friedlichen Vormittags an Deck ab, immer wieder unterbrochen durch ein verärgertes Schnauben, eine kurze Pause. »Ei-heins, zwei-hei …«
Jacobina vermochte sich nicht in ihr Buch zu vertiefen; beständig schweiften ihre Augen von den Seiten ab und zu Floortje hinüber, die im Liegestuhl neben ihr döste. Kaum dass sie sich nach dem ersten Frühstück hier niedergelassen hatten, hatte Floortje die Schuhe abgestreift und die Knie angezogen, einmal mehr einer Katze ähnelnd, die sich auf den Polstern zusammenrollte. Es schien ihr gleich zu sein, dass sich dabei die Rüschensäume ihres elfenbeinhellen, mit blauen Streublumen bedruckten Sommerkleides und des Unterrocks hochschoben und ihre weißbestrumpften Beine bis weit über die Knöchel enthüllten.
Den vier Rekruten aus dem Koloniaal Werfdepot in Harderwijk war dieser Anblick indes keineswegs gleichgültig. So jung, dass sie noch lange keine Männer waren, trotz schmucker Uniform und sorgfältig getrimmter Bärte kaum mehr als milchgesichtige Burschen, drückten sie sich in einigem Abstand an der Reling herum, rauchten, tuschelten und starrten unverhohlen herüber. Ab und zu war ein gedämpftes Lachen zu hören, gleichermaßen wissend wie verlegen, und jedes Mal reckten die Rekruten sogleich die Hälse und sahen sich verstohlen um, ob nicht einer der mitreisenden Offiziere an ihrem Benehmen Anstoß nahm.
Major Rosendaal, dem die vier jungen Männer während der Überfahrt unterstellt waren, schien darin jedoch keinen Grund für eine Rüge zu sehen, noch nicht einmal für einen strengen Blick. Die Hände auf dem Rücken seines schwarzblauen Uniformrocks ineinandergelegt, marschierte er gemessenen Schrittes auf dem Deck auf und ab, die Augen gedankenvoll auf die Planken unter seinen blank polierten Schuhen gerichtet. Wann immer ihn sein Weg an dem Liegestuhl vorbeiführte, in dem Fräulein Dreessen schlummerte, hob sich sein Blick und wanderte mit sichtlichem Wohlgefallen über ihre Fesseln und Waden, über die Falten ihrer Röcke hinweg die schmale Taille hinauf, streifte einen Wimpernschlag lang ihren Brustkorb, der sich unter dem züchtigen spitzengesäumten Ausschnitt hob und wieder senkte, und blieb dann auf ihrem Gesicht haften. Bis seine Augen aufwärts zuckten, als wäre ihm urplötzlich etwas eingefallen, und er über Jacobinas kleinen Strohhut hinweg zu seiner Gattin spähte, die sich mit ihrer Schwester unter das Schattendach zurückgezogen hatte. Jedes Mal strich sich der Major dann rasch über seinen Bart und gab einen kaum hörbaren Laut von sich, der ebenso gut ein Räuspern sein konnte wie ein Seufzen oder auch nur ein besonders tiefer Atemzug, bevor er seinen Weg über das Deck fortsetzte.
Wie hingegossen wirkte Floortje in ihrem Liegestuhl, einen träumerischen Ausdruck auf den feinen Zügen. Ihr leicht geöffneter Mund schien nur darauf zu warten, dass man sie wachküsste, und wie sich die geschwungenen Lippen ein wenig aufwarfen, sah es fast so aus, als schmollte sie, weil es bislang noch niemand gewagt hatte. Unter dem dünnen Stoff des Sommerkleids zeichneten sich verlockende Rundungen ab, und gerade jetzt, im Schlaf, verlieh ihr das an der Spitze himmelwärts gerichtete Näschen etwas Vorwitziges, Kokettes.
In der Gegenwart von Mädchen und Frauen wie Floortje, an denen alles klein und zart, weich und süß war, hatte Jacobina sich von jeher unwohl gefühlt. Daneben kam sie sich noch größer vor, als sie es ohnehin schon war. Grobschlächtig beinahe, obwohl sie doch so schlank war. Zu schlank, denn keinem noch so raffinierten und stramm sitzenden Korsett, keiner noch so ausgeklügelten Mogelei der Schneiderin war es je gelungen, für Jacobinas Figur wenigstens eine Illusion wohlgeformter Weiblichkeit herbeizuzaubern. An Jacobina war alles zu sehr: die Linien ihres Gesichts zu herb, beinahe hart, der Mund zu breit und die Nase eine Spur zu kräftig; ihre Gestalt zu lang aufgeschossen, zu mager, zu kantig. Allenfalls ihre Augen, groß und klar, hätte sie schön finden können, wäre deren Farbe nicht so fade gewesen, so nüchtern. Selbst die Andeutung eines Grübchens in ihrem Kinn, die gleiche, die sich an Henrik so überaus gewinnend ausnahm, vermochte nicht den Eindruck von Strenge zu mildern, den Jacobina van der Beek unweigerlich vermittelte. Den einer gewissen Freudlosigkeit und einer Kälte, die zum Kern ihres Wesens zu gehören schienen.
»… bin natürlich kein Mann vom Fach …« Der Wind trieb Satzfetzen in der sonoren Tonlage von Leutnant Teuniszen herüber, der in Herrn Aarens einen aufmerksamen Zuhörer gefunden hatte. »… der Boden des Preanger besonders geeignet für Tee …«
Floortjes Unterlippe zuckte, ihre Lider zitterten, und hastig senkte Jacobina den Blick auf das Buch in ihren Händen, beobachtete dabei aus den Augenwinkeln aber weiter Floortje, die die Beine von sich streckte, sich ungeniert rekelte und schließlich den Mund zu einem herzhaften Gähnen aufriss. Erst im letzten Moment hielt sie die Hand davor und warf Jacobina unter schlafschweren Lidern ein entschuldigendes Lächeln zu.
»Mmh, das ist vielleicht ein Leben hier an Bord«, murmelte sie und strich über die Armlehnen des Liegestuhls. »Wie bei Königs!« Genüsslich wackelte sie mit den Zehen, einen seligen Ausdruck auf dem Gesicht.
Als fürstlich oder luxuriös empfand Jacobina die SS Prinses Amalia nicht gerade, aber durchaus als komfortabel. Sowohl die Kabinen als auch der Speiseraum waren äußerst einfach gehalten, aber blitzsauber; Jacobina hatte sich die Überfahrt wesentlich schlimmer vorgestellt. Schließlich waren es keine Vergnügungsfahrten oder Erholungsreisen, die die Reederei zwei Mal monatlich von und nach Batavia anbot. Wer auf einem Dampfer dieser oder einer anderen niederländischen Schifffahrtsgesellschaft an Bord ging, hatte keine Zeit zu verschenken und wollte möglichst zügig ans Ziel kommen. Im Wettlauf um gutes, reiches Land galt es schnell zu sein, bevor ein anderer es pachten, roden und mit Kaffee, Tee und Chinin Geld machen konnte, wie Herr Aarens es vorhatte. Die Arbeit in der Kolonialverwaltung wartete auf Beamte wie Herrn Ter Steege, die Rechnungsbücher im Kontor eines Handelsunternehmens oder der Posten in einem Regiment auf Männer wie Leutnant Teuniszen, auf Major Rosendaal und auf die vier Rekruten. Noch unerschlossene Gegenden auf Java und Sumatra warteten auf Architekten und Ingenieure wie Herrn Verbrugge, die Straßen bauen, Schienen verlegen und Häuser errichten sollten. In umgekehrter Richtung wartete ein auf den Tag genau abgezählter Urlaub in der alten Heimat bei Angehörigen und Freunden, die man lange nicht mehr gesehen hatte, wie ihn die Ter Steeges und die Teuniszens verbracht hatten. Und auf die Söhne der Pflanzer, der Beamten und der Offiziere warteten ihre Plätze an den Schulen und Universitäten der Niederlande, bevor sie in einigen Jahren zu ihren Familien zurückkehren würden.
»Besuchst du Verwandte in Batavia?« Es war die erste persönliche Frage, die Floortje an sie richtete, seit sie sie am frühen Morgen an Deck angesprochen hatte.
Während ihres Rundgangs durch den Bauch des Schiffes – ein Labyrinth aus scheinbar endlosen schlauchschmalen Gängen, aus Frachträumen und Lagerkammern, den Quartieren und Arbeitsbereichen der Mannschaft –, der auch das beständig kraftvoll stampfende Herz des Maschinenraums mit eingeschlossen hatte, war Floortje ganz darin aufgegangen, die Erläuterungen von Kapitän Hissink mit erstaunten und entzückten Lauten zu kommentieren, über seine Späße zu kichern und ihm hin und wieder eine schlagfertige Erwiderung zuzuwerfen. Jacobina war stumm hinterdreingetrottet, wie der Inbegriff der Anstandsdame, die alles sah, alles hörte, der aber selbst keinerlei Beachtung geschenkt wurde. Es hatte ihr nichts weiter ausgemacht; sie war damit zufrieden gewesen, sich eingehend umzuschauen und mit eigenen Augen all das an Technik und Mechanik zu sehen, worüber sie bisher nur gelesen hatte. Und ebenso wenig hatte sie sich daran gestört, dass Floortje danach über dem Morgenkaffee, den frischen Weißbrötchen mit Butter, Marmelade und Honig, den Eiern und dem gebackenen Fisch den gesamten Speiseraum mit lebhaften Schilderungen ihrer Eindrücke unterhalten hatte. Über die Zeit hatte Jacobina ihren angestammten Platz am Rande jedweden Geschehens zu schätzen gelernt, von dem aus sie in Ruhe zusehen und zuhören und dabei ihren Gedanken nachhängen konnte.
»Nein, ich besuche keine Verwandten.«
»Deinen Zukünftigen vielleicht?«
Ohne ihre Augen von den Buchseiten anzuheben, versteinerte Jacobina auf ihrem Platz im Liegestuhl. Der neckende Tonfall Floortjes, der neugierige Blick, den sie auf ihrem Gesicht spürte, rührte an dem alten Dorn in ihrer Seite. Lange war es her, dass sie mit derlei Scherzen bedacht worden war, von den Mädchen, die einmal ihre Freundinnen gewesen waren. Bis diese eine nach der anderen selbst den Bund fürs Leben geschlossen und Kinder bekommen hatten und sich zunehmend Besorgnis in diese Scherze schlich. Danach war die Stille gekommen. Das merkliche Abrücken und die Einsamkeit.
»Nein.« Sie zögerte, dann überwog ihr Stolz. »Ich trete eine Stellung an.« Zwischen den hinteren Seiten des Buchs holte sie ein Stück Papier hervor und reichte es Floortje, die sich neugierig aufgesetzt hatte, mit einem Schlag hellwach. Ein akkurat aus einer Zeitungsseite ausgeschnittenes Rechteck, aus dem Standaard vom November 1881, in den sechs Monaten seither zu sprödem Pergament abgegriffen und immer wieder sorgsam geglättet, die Druckerschwärze speckig geworden und in das Papier hineingerieben, sodass die Lettern ausgefranst und ein wenig unscharf wirkten. Ihr Talisman. Ihr Schlüssel zu einem neuen Leben.
Gut situierte Offiziersfamilie in Batavia sucht kultivierte junge Dame zwischen zwanzig und dreißig in Dauerstellung als Lehrerin und Gouvernante für Junge und Mädchen, fünf und zwei Jahre alt. Anforderungen: gepflegtes Holländisch; Französisch, Deutsch und Englisch fließend. Musikkenntnisse wünschenswert. Großzügige Entlohnung und Übernahme der Reisekosten geboten sowie freie Kost und Logis. Bewerberinnen ohne Erzieherinnenzertifikate bevorzugt.
Floortje widmete sich den Zeilen länger als nötig und betrachtete währenddessen unter halb gesenkten Lidern Jacobina. Wie sie ihr in der tadellosen Haltung einer Dame gegenübersaß, die Füße am Boden eng beisammen, die Beine unter dem schmalen Rock eine elegante Diagonale bildend und den Oberkörper kerzengerade, erinnerte sie Floortje einmal mehr an die Heldinnen der Romane, die sie früher heimlich verschlungen hatte. Sie hatte etwas von einer Einsiedlerin, umweht von einem Hauch Tragik und mit einer Ahnung von Tiefgründigkeit, die ihr unscheinbares Äußeres Lügen strafte. Als hütete sie ein dunkles Geheimnis. Eine verwundete Seele.
Gespenstischer Nebel, der das Gerippe eines kahlen Baumes umwaberte, eine sturmumtoste Klippe über dem kochenden Meer oder die Silhouette eines düsteren Herrenhauses hätten einen passenden Rahmen für dieses Fräulein van der Beek geboten – aber eine Überfahrt nach Java, um dort eine Stellung als Gouvernante anzutreten, fand Floortje mindestens ebenso romantisch. Ebenso aufregend.
»Klingt gut«, sagte sie und gab Jacobina den Zeitungsausschnitt zurück. Beiderseits ihrer Nasenwurzel tauchten kleine Kniffe auf. »Mich wundert nur, dass sie so gar keinen Wert auf Zeugnisse legen.«
»Das ist in dieser Art von Inseraten häufig zu lesen«, erwiderte Jacobina, während sie das ihr so kostbare Stück Papier wieder sorgsam zwischen die Buchseiten legte. »Frau de Jong hat es mir in einem ihrer Briefe erklärt. Sie wünscht sich, dass ihren Kindern nicht einfach festgelegter Lernstoff eingebläut wird, sondern dass sie ganz selbstverständlich mit den Sprachen aufwachsen und nebenbei mit den gesellschaftlichen Gepflogenheiten vertraut gemacht werden.«
»Ach so.« Floortje zog die Beine unter sich und zupfte an den Rüschen ihrer Rocksäume. »Warst du in deiner bisherigen Stellung nicht zufrieden, oder lockt dich die Ferne?«
Auf Jacobinas Wangen zeichnete sich eine feine Röte ab. »Das … das ist meine erste Anstellung.« Ihr Mund presste sich zusammen, als machte sie sich bereit, im nächsten Moment zuzuschnappen.
»Oh.« Floortjes Wimpern flatterten auf und ab. »Dann musst du ja mächtig Eindruck gemacht haben, dass sie dich so ganz ohne Empfehlungsschreiben um die halbe Welt kommen lassen!«
Jacobinas Augen wanderten über die Reling hinweg in das leuchtende Blau des Sommerhimmels über dem Atlantik. Einmal mehr waren es nicht ihre Fähigkeiten gewesen, die ihr diese Tür geöffnet hatten, sondern allein der Name van der Beek. Ein Kunde ihres Vaters, der Geschäftsbeziehungen nach Ostindien unterhielt, kannte dort jemanden, der seinerseits die de Jongs kannte und sich ihnen gegenüber lobend über den Charakter, den Lebenswandel, die Umgangsformen und vor allem den familiären Hintergrund des Fräuleins van der Beek äußerte. Julius und Bertha van der Beek wiederum konnten sich auf diesem Wege absichern, ihre Tochter in einem anständigen Haus, bei honorigen und finanziell gut gestellten Bürgern Batavias aufgehoben zu wissen.
Ihr Blick senkte sich wieder auf das Buch. Behutsam klappte sie es zu und legte es in den Schoß. Womöglich war sie einer Täuschung erlegen, der gleichermaßen behütenden wie erdrückenden Hand ihrer Eltern und ihres Bruders entkommen zu können, wenn sie so weit fortging wie nur möglich. Ihre Finger umklammerten den Buchrücken, so wie sie sich an der Hoffnung festhielt, es würde von nun an keine Rolle mehr spielen, welchen Namen sie trug oder gar wie sie aussah. Nur noch, was sie tat und sagte und was zu leisten sie im Stande war.
»Was führt dich denn nach Batavia?« Leise brachte sie die Frage hervor; ihre Neugierde schien ihr unhöflich, obwohl es doch augenfällig war, dass sie und Floortje die einzigen jungen Frauen an Bord waren, die ohne Begleitung reisten. Eine Seltenheit, weil wider alle Gepflogenheiten und deshalb sicher nicht ohne triftigen Grund.
»Ich will dort heiraten.«
Der Dorn bohrte sich tiefer in Jacobinas Seite.
»Meinen Glückwunsch«, gab sie steif zurück.
Floortjes Augen weiteten sich. Dann brach sie in ein solches Lachen aus, dass sich alle Köpfe auf dem Sonnendeck nach ihr umdrehten. Jacobinas Wangen brannten, und sie zog ein Bein näher zu sich heran, um aufzustehen.
»Du meine Güte, entschuldige!« Bestürzt hellten sich Floortjes Augen auf, und sie schlug die Hand vor den Mund, um ihr ungebärdiges Lachen zum Verstummen zu bringen, das noch einige Herzschläge lang zwischen ihren Fingern, unter ihren Worten hervorsprudelte und ihre Schultern beben ließ. »Ich hab mich ungeschickt ausgedrückt!« Unter den letzten Glucksern lehnte sie sich vor und streckte die Hand nach Jacobina aus, wollte sie ihr besänftigend auf den Arm legen, ließ aber davon ab, als Jacobina zurückwich. »Es ist nämlich so, dass mir der Mann zum Heiraten noch fehlt.« Ein Leuchten glitt über ihr Gesicht. »Aber den werd ich in Batavia schon finden!«
Ungläubig starrte Jacobina sie an, vergaß sogar die glühende Scham, die entsetzlichen Augenblicke, in denen es ihr vorgekommen war, als würde sie ausgelacht.
»Du musst doch aber zu Hause Dutzende Verehrer gehabt haben!«, rutschte es ihr heraus.
Floortje zuckte mit den Schultern. »Kann sein. Der Richtige«, sie atmete tief ein und lehnte sich im Liegestuhl zurück, »der Richtige war jedenfalls nicht dabei.« Sie streckte die Beine aus und zog sie gleich darauf wieder zu sich heran. Ihr Mund kräuselte sich zu einem Lächeln. »Außerdem hatte ich ohnehin nicht vor, mein restliches Leben ausgerechnet in Friesland zu verbringen.« Sie warf Jacobina einen verschmitzten Seitenblick zu, bevor sie die Augen wieder schloss und zu einem stummen Takt die Knie hin und her wippen ließ. Eine Bewegung, die die vier Rekruten geradezu hypnotisierte; mit hungrigen Blicken lauerten sie darauf, dass die sich auffächernden Rüschen und Falten des Rocks mehr von Fräulein Dreessens Beinen sehen ließen als die bestrumpften Fesseln.
Jacobina fragte sich, wie ausgerechnet ein Landstrich wie Friesland eine Floortje Dreessen hervorgebracht haben konnte. Sie tat sich schwer damit, sich Floortje zwischen den Deichen am Wattenmeer, den Heideflecken und dichten Laubwäldern vorzustellen, in einem der beschaulichen Städtchen oder Dörfchen, gar auf einem der versprengten reetgedeckten Gehöfte inmitten der Weiden, auf denen schwarz-weiße Kühe und Schafherden grasten. Mit ihrem dunklen Haar, den irisierenden Augen und ihren ganz und gar nicht friesischen Gesichtszügen musste sie dort aufgefallen sein wie der sprichwörtliche bunte Hund. Selbst in Amsterdam wäre Floortje noch als exotische Schönheit hervorgestochen wie eine Orchidee unter lauter Gänseblümchen.
»Warum Batavia?«, fragte Jacobina vorsichtig. »Warum nicht einfach Amsterdam?«
Floortje blinzelte und schielte unter halb geschlossenen Lidern zu Jacobina hinüber. Die graue Jacke, die sie trotz des warmen Sonnenscheins bis zum Hals zugeknöpft hielt, und der ebenso graue Rock waren äußerst schlicht gehalten, weniger modisch als praktisch, wie auch die schwarzen Schuhe, die unter den Säumen hervorschauten. Als wollte Jacobina van der Beek damit zu verstehen geben, dass sie keinen Wert auf all den Zierrat aus Rüschen, Spitzen, Biesen und Stickereien, auf die Farben und Muster legte, in denen Floortje selbst so gern schwelgte. Dabei war das, was sie bislang von Jacobinas Garderobe zu Gesicht bekommen hatte, aus unverkennbar teuren Stoffen maßgeschneidert. Floortje witterte eine behütete Kindheit und Jugend in einem wohlhabenden Elternhaus, in dem exquisites Mobiliar und dicke Teppiche und Portieren Stimmen und Schritte dämpften; Tanzstunden und Privatunterricht, Kutschfahrten und Bälle, Kaffeekränzchen und Teegesellschaften und Sommer am Meer. Ein Leben so makellos wie Jacobinas gestärkte weiße Blusen. Ein Leben unter ihresgleichen.
»Warum auch nicht?«, gab sie zurück und kuschelte sich tiefer in das Polster des Liegestuhls.
Jacobina musterte Floortje eingehend; einen flüchtigen Moment lang hatte sie älter gewirkt, erwachsener, beinahe wie vor der Zeit gereift. Dabei musste sie in ungefähr demselben Alter sein wie Jacobinas jüngerer Bruder Martin, achtzehn vielleicht oder neunzehn, keinesfalls älter. Jünger, als Jacobina selbst es jemals gewesen war; sie konnte sich nicht daran erinnern, irgendwann einmal derart leichtherzig und forsch durchs Leben gegangen zu sein.
»Und deine Familie hat dich einfach so gehen lassen?«
Floortje rührte sich nicht. Ihr Gesicht fühlte sich kühl und glatt an, wie eine Maske, die jederzeit zerspringen konnte. Sie dachte an die Dokumente in ihrem Koffer, die es ihr ermöglichten, so zu handeln, als wäre sie bereits mündig. An das Bündel Geldscheine daneben und die Fahrkarte nach Batavia. Und daran, was sie getan hatte, um all das zu bekommen. Was doch nichts anderes als ihr gutes Recht gewesen war. Um den Riss hinter sich zu lassen, der durch ihr Leben ging und einen Teil von ihr ins Dunkel geschleudert hatte. An all die Tränen, die hässlichen Dinge und Worte. Den Schmerz, die Scham und die Schuld. Als sie die Stimme zu einem Flüstern anhob, kamen die Laute nicht weich und geschmeidig aus ihrem Mund, sondern trocken und spröde.
»Ich habe keine Familie mehr.«
Mit wildem Indianergeheul, das alle an Deck aufschreckte, stürmte der kleine Joost Verbrugge heran, stürzte sich auf seine Schwester und ihre Freundin und entriss ihnen eine der Puppen am Skalp. Frau Verbrugge ließ ihre Handarbeit fallen und erwischte ihren Sohn gerade noch am Hemdsärmel. Unter der lauten Schelte, der schallenden Backpfeife, dem Gebrüll des Jungen und den tränenreichen Schluchzern der beiden Mädchen ging das Läuten der Glocke beinahe unter, die die Passagiere zum Gabelfrühstück rief.
Floortje schlug die Augen auf, wandte den Kopf und lächelte Jacobina an. »Ich sterbe vor Hunger!«