Читать книгу Das Herz der Feuerinsel - Nicole-C. Vosseler - Страница 8

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»Schau mal, da! Und da!« Floortje konnte kaum stillstehen. Mehr noch als die kleinen Ter Steeges und Verbrugges, die sich mit aufgerissenen Augen an die Reling pressten und unter begeisterten Lauten mit den Fingerchen hierhin und dorthin zeigten und von ihren Eltern Erklärungen einforderten, versprühte sie mit jedem Ausruf, jedem kleinen Hüpfer flirrende Begeisterung. »Da drüben – siehst du das? Ist das nicht wunder-wunderschön?!«

Jacobina nickte nur; sie vermochte sich nicht an der Herrlichkeit sattzusehen, die sich vor ihr ausbreitete und ihr keinen Raum für Worte ließ.

Hatte am Vortag schon der Hafen von Genua mit seiner belebten Mole und den bunt zusammengewürfelten, eng stehenden Häuschen in Ocker, Umbra und Terrakotta unter krummen Ziegeldächern einen reizvollen Anblick geboten, besaß die Aussicht auf Neapel einen ganz besonderen Charme. Cremehell, primelgelb, karminrot und rosenholzfarben dehnten sich die palazzi mit ihren ebenmäßigen Fensterreihen im Stadtbild aus; Fassaden von schlichter südländischer Eleganz, der schleichender Verfall keinen Abbruch tat, sondern vielmehr einen betörend morbiden Zauber verlieh. Von allen Seiten drängten sich schmale Häuser heran, zwischen denen sich enge Gassen hindurchwanden, und auf den Dächern und Kuppeln der Kirchen glänzte die Sonne. Eine Festungsanlage, ein Teil gelblich grau vor Alter, der andere adrett und blendend weiß, wachte von einem locker bewachsenen Hügel aus über die Stadt. Auch am Hafen behielten gleich zwei Kastelle mit stämmigen Wehrtürmen, verwittert und von der Zeit gezeichnet, aber unverändert trutzig, das Kommen und Gehen in der Bucht im Blick. Und selbst wenn sie nicht hinsah, konnte Jacobina die Farbe des Wassers fühlen; ein Blau, so strahlend und durchdringend, dass es die Luft in Schwingung versetzte und auf der Haut kribbelte.

In einem langgezogenen Laut des Entzückens ließ Floortje den Atem ausströmen, als sich ein gutes Dutzend kleiner Fischerboote von der Mole löste, das Wasser durchpflügte und auf den Rumpf des Dampfers zuhielt. Braungebrannte, schwarzhaarige Männer in losen Hemden und Kniehosen, dunkel gelockte Frauen in bauschigen Rüschenblusen und Schürzen über ihren bunten Röcken hielten schwere Rispen praller Trauben empor und Körbe mit Aprikosen und Pfirsichen, die Härchen der samtigen Haut silbrig schimmernd. Golden leuchteten Orangen und Mandarinen neben dem saftigen Rot aufgeschnittener Wassermelonen und dem zarten Lachsrosa und Blassgrün der Zuckermelonen. Das laute, lockende »Frutti! Frutti freschi! Frutti!« mischte sich mit dem »Fiori! Fiori belli! Fiori!« der Händler, die einladend Blumensträuße über ihren Köpfen schwenkten. Ihre Rufe trafen auf die Gegenrufe der Besatzung, verflochten sich mit den Stimmen der Passagiere, die sich an der Reling drängelten, und mit dem betriebsamen Lärm im Hafen, der von Menschen wimmelte. Eine vor Temperament übersprudelnde Geräuschkulisse, ansteckend in ihrer Lebenslust, von Zeit zu Zeit durch das ohrenbetäubend röhrende Horn eines ablegenden Dampfers ausgelöscht, ehe sie erneut auf das Deck herüberschäumte.

Aus den Fischerbooten zitterten die Klänge angeschlagener Saiten herauf. Die warmen Töne der Gitarren rieselten heran, das Schmeicheln der Lauten und die Triller der Mandolinen vervielfachten und verdichteten sich zu einer Melodie, in die die Musikanten aus voller Kehle einstimmten. »Io t’aggio amato tanto, si t’amo tu lo ssaje … « Ein Lied, dessen Weise und Sprache ebenso kräftig und feurig waren wie melancholisch und sehnsüchtig. »Io te voglio bene assaje … e tu non pienze a me!«

Jacobina fuhr zusammen, als Floortje ihre Hand packte; ihr Arm zuckte zurück, wollte die fremden Finger, die viel zu vertrauliche Berührung loswerden wie ein lästiges Insekt. Floortje indes ließ sich nicht einfach abschütteln; aufgeregt klammerte sie sich an Jacobina, einen andächtigen und sehnsuchtsvollen Ausdruck auf dem Gesicht. Ein vervielfachtes, überlautes Echo dessen, was Jacobina selbst empfand. Viel zu tief in ihr vergraben, als dass es an die Oberfläche gelangen konnte, und doch in zaghafte Resonanz versetzt. Die verkrampften Muskeln ihrer Finger lockerten sich, und sie hielt still.

Ein mehrfaches, halb ersticktes Räuspern ließ sie beide auseinanderfahren und sich umdrehen. Herr Aarens stand hinter ihnen, sichtbar um eine aufrechte Haltung bemüht, die ihn in seinem schlecht sitzenden Anzug mehr denn je wie einen zu schnell erwachsen gewordenen Pennäler wirken ließ.

»Ver… verzeihen Sie die Störung, wertes Fräulein Dreessen«, begann er verlegen. Über seinem borstigen Backenbart zeichneten sich rote Flecke ab, und mit einer fahrigen Handbewegung rückte er erst den Knoten seiner zu eng gebundenen Krawatte zurecht, bevor er sich den unvermeidlichen Bowlerhut so heftig vom Kopf riss, dass sich einige Strähnen seines struppigen braunen Haares dabei aufstellten. »Ich habe mir erlaubt«, in einer unbeholfenen Verbeugung faltete er seine schlaksige Gestalt zusammen, »… dürfte ich Ihnen diese hier …« Seine andere Hand, die er bislang hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte, schnellte hervor und streckte Floortje ein kleines Blumengebinde entgegen.

»Ooh«, hauchte Floortje, die Wangen rosig und ein Leuchten in den Augen. »Wie freundlich von Ihnen!« Beinahe feierlich nahm sie das Sträußchen aus wilden Rosen, Mohnblumen und Madonnenlilien entgegen, in das Zweige von Lavendel und Rosmarin eingeflochten waren. »Ich liebe Lilien«, murmelte sie, vergrub das Gesicht in den weichen Blütenblättern und strahlte dann unter flatternden Lidern Herrn Aarens an. »Vielen, vielen Dank!«

Die Röte auf seinem Gesicht breitete sich weiter aus, während er sichtlich nach einer passenden Erwiderung suchte und sich gleichzeitig voller Stolz aufplusterte – darüber, den Mut aufgebracht zu haben, Fräulein Dreessen diese Gabe zu überreichen, die noch dazu von ihr derart wohlwollend aufgenommen worden war –, bis die Knöpfe des fadenscheinigen Jacketts über seiner mageren Hemdbrust spannten.

Brüsk wandte sich Jacobina ab. Blumen bekamen stets die anderen, das war schon immer so gewesen; seltsam, dass es ihr noch immer so viel ausmachte. Sie drückte die Schultern durch und ging mit staksigen Schritten davon. Floortjes Stimme, die ihren Namen rief, blendete sie aus, so gut es ging.

»Jacobina! So warte doch! Warte!« Atemlos holte Floortje sie ein, fasste sie am Ellenbogen und sah besorgt zu ihr auf. »Was ist denn?«

»Nichts.« Mit einem Ruck machte Jacobina sich los und wollte weitergehen.

Floortje stellte sich rasch vor sie hin. »Warte. Hier, schau.« Geschickt löste sie eine weiße, zartrosa geflammte Rose aus dem Gebinde und hielt sie Jacobina lächelnd hin. »Die ist für dich!«

Stumm starrte Jacobina die Blüte an. Wie ein Sinnbild kam sie ihr vor, für das, womit sie sich hätte begnügen sollen. Die Brosamen, die andere übrig gelassen hatten.

»Behalt sie«, sagte sie schließlich rau. »Ich will sie nicht.«

Die Stirn gerunzelt, den Mund zu einer Schnute aufgeworfen, sah Floortje zwischen der Rose und Jacobina hin und her, eher verwirrt als gekränkt. »Aber warum denn nicht?«

»Ich will sie eben nicht!«

Jacobinas Magen zog sich zusammen, als sie sah, wie Floortje den Kopf hängen ließ.

»Meinst … meinst du nicht«, flüsterte Floortje, den Blick auf den Blumenstrauß in ihrer Hand gesenkt, »wir könnten vielleicht Freundinnen werden?«

Freundinnen. Nach Betje und Johanna, Jette und Henny, nach Tine vor allem hatte diese Bezeichnung einen schalen, beinahe fauligen Beigeschmack bekommen, der Jacobina schlucken ließ.

»Man kann Freundschaft nicht einfach so beschließen.« Kühl klang sie, belehrend und unverhohlen abweisend.

»Aber man kann es doch versuchen, oder nicht?« Floortje hob den Blick zu ihr an. »Immerhin werden wir noch drei Wochen hier auf diesem Dampfer zusammen verbringen. Wenn wir danach feststellen, dass wir uns doch nicht leiden mögen, können wir uns in Batavia bestimmt prima aus dem Weg gehen.« Die Fünkchen, die eben noch in ihren Augen getanzt hatten, verglommen und machten stiller Ernsthaftigkeit Platz.

Jacobina wich diesen Augen aus, die in ihrem weichen Blau so verletzlich wirkten. Ich habe keine Familie mehr. Scham durchglühte sie, darüber, dass sie Floortje mit solchem Widerwillen begegnete, wo sie doch selbst nur zu gut wusste, wie es war, allein aufgrund des Äußeren beurteilt zu werden.

»Wir haben doch gar nichts gemeinsam«, entgegnete sie lahm.

»Oh doch«, erwiderte Floortje mit einem Auflachen. »Wir reisen beide allein, und wir sind beide aufgebrochen, um in der Ferne unser Glück zu machen. Das muss uns doch verbinden!«

Unter halb gesenkten Lidern sah Jacobina, wie Floortje sie anstrahlte, den Kopf leicht schräg gelegt, gleichermaßen selbstbewusst wie schüchtern und durch und durch süß und lieb. Auf dieselbe Art war es ihr in den wenigen Tagen an Bord gelungen, fast alle ihre Mitreisenden zu bezirzen; selbst das fortwährend von Frau Ter Steeges gestrenger Mutter gemurmelte schamlos, einfach schamlos war unter Floortjes Lächeln und Schmeicheln verstummt und zu vereinzelten missbilligenden Blicken zusammengeschmolzen. Jacobina wollte sich nicht auf die gleiche Weise um den Finger wickeln lassen. Nicht noch einmal.

Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.«

Floortje teilte die Blumenstängel; sorgsam befreite sie eine Hälfte des Gebindes von dem mehrfach darum gewundenen Zwirn. »Hier. Die sind für dich. Von mir.« Die Geste, mit der sie Jacobina das halbe Sträußchen entgegenhielt, wurde nachdrücklicher. »Nun nimm schon! Ich hab mehr als genug!«

Als gehorchte ihr Leib nicht mehr ihrem Willen, schlossen sich Jacobinas Finger darum.

»Danke«, würgte sie hervor.

»Ich stell die nur schnell ins Wasser, bin gleich wieder da!«, rief Floortje vergnügt und hastete auf leichten Sohlen davon.

Jacobina konnte ihren Blick nicht von den Blumen in ihrer Hand lösen. Von diesem bunten Fetzen eines wilden südlichen Gartens, aus seidigen Blütenblättern in Weiß, Rosé und Scharlachrot, eingebettet in grünes Blattwerk, aus winzigen wie aufgefädelten Blütenkelchen in Lila. Ein betörender Duft stieg daraus auf, süß und frisch, würzig und schwer zugleich und kitzelte sie in ihrer Magengegend. Um ihre Lippen zuckte es, und in ihrer Brust begann es zu flattern, zaghaft zuerst, dann aufgeregter. Wie ein Vogeljunges, das zum ersten Mal seine Flügel gebraucht.

Frau Ter Steege hob ihren Blick von den Trauben, den Melonensicheln und den Pfirsichhälften auf ihrem Dessertteller und lächelte Floortje über den Tisch hinweg zu. »Wenn Sie sich in Batavia ein wenig eingelebt haben – vielleicht möchten Sie uns dann einmal besuchen kommen?« Die Herzlichkeit, die dabei von ihr ausging, ließ ihr rundes Gesicht noch weicher wirken und ihre blauen Augen anheimelnd aufleuchten.

Ihre Mutter, die gestrenge Frau Junghuhn, erstarrte auf ihrem Platz und warf erst ihrer Tochter einen konsternierten, dann Fräulein Dreessen einen warnenden Blick zu, unter dem Floortje gekonnt den Kopf einzog, bevor sie mit großen Augen erst Frau Ter Steege, dann deren Mann ansah.

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie mit unsicherer Stimme, »ob ich eine solch großzügige Einladung …« Mit fragendem Blick ließ sie ihren Einwand auströpfeln.

Herr Ter Steege schmunzelte in seinen graumelierten Bart hinein und stellte seinen Bierkrug ab. »Selbstredend können Sie annehmen! Gastfreundschaft wird bei uns auf Java großgeschrieben.«

»Wir würden uns sehr freuen, Sie in unserem Haus begrüßen zu dürfen«, bekräftigte Frau Ter Steege und versetzte Lijsje, die seit geraumer Zeit die Orangenschalen, Traubenstängel und Pfirsichkerne auf ihrem Teller zu immer neuen Mustern arrangierte, einen leichten Klaps auf die Finger. Das Mädchen zog einen Flunsch, ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen und begann gelangweilt mit den Beinen zu baumeln, worauf es von seiner Mutter ermahnt wurde, sich gerade hinzusetzen.

»Uns wären Sie auch jederzeit willkommen«, ließ sich Frau Rosendaal vom Nebentisch vernehmen und ignorierte das unwillige Schnaufen ihrer jüngeren Schwester neben sich.

»Wir Niederländer müssen doch zusammenhalten in der Fremde«, gab sich der Major jovial und zwinkerte Floortje zu.

Ungläubig sah Floortje von einem zum anderen und bemerkte voller Genugtuung, wie sich Frau Junghuhns zerfurchte Miene noch weiter zusammenzog, die Lippen kaum mehr als ein fadendünner Strich, bevor sie selbst über das ganze Gesicht strahlte, die Hände in einer Geste der Rührung vor die Brust gepresst. »Das ist so liebenswürdig von Ihnen allen, danke! Ich nehme Ihre Einladung sehr gerne an!«

»Ich bewundere Ihren Mut«, sagte Frau Ter Steege und zog die kleine Kaatje, die sich bereits heftig mit den Handrücken die müden Augen rieb, auf ihren Schoß. »Eine solch weite Reise in ein fremdes Land, geradezu ins Blaue hinein – ein so junges Ding wie Sie! In Ihrem Alter hätte ich diesen Mut ganz gewiss nicht aufgebracht.«

»Die Zeiten ändern sich«, verkündete Herr Ter Steege und besah mit nachdenklicher Miene den Krug vor sich. »Es ist dringend nötig, dass frisches Blut ins Land kommt. Holländisches Blut. Die Zeiten sind vorbei, in denen man es hingenommen hat, wenn ein Beamter oder Pflanzer seine malaiische …«

»Pscht, Hermann!«, fiel ihm seine Frau hörbar verlegen ins Wort und warf einen entschuldigenden Blick in die Runde. Herr Ter Steege räusperte sich und spülte den Rest seines Satzes mit einem großzügigen Schluck Bier hinunter.

Eine peinlich berührte Stille hing einige Herzschläge lang im Speiseraum. Überlaut klang das Ticken der Uhr in der Ecke herüber, lauter noch als das beständige gedämpfte Dröhnen der Maschinen und ungleich hektischer, als suchte sie möglichst schnell einen anderen, unverfänglicheren Gesprächsgegenstand aufzubringen. Allein die vier Rekruten, die an einem gesonderten Tisch saßen, hielten die Ohren gespitzt, während sie unruhig auf ihren Stühlen herumrutschten und sich vielsagende Blicke zuwarfen, und Lijsje und Joost begannen, sich gegenseitig die Zunge herauszustrecken.

»Wissen Sie denn schon, wo Sie wohnen werden?«, wandte sich schließlich Frau Ter Steege mit der Fürsorge einer Alteingesessenen für den Neuankömmling an Frau Verbrugge.

»Ja, mein Mann hat ein Haus für uns angemietet. Sag, Gerrit – wo war das doch gleich?«

»Am Molenvliet.«

»Am nördlichen Ende oder am südlichen?«

»Hauptsache, so weit entfernt von der benedenstad wie möglich! Schmutzig, laut und …«

»Wenn Sie noch Personal benötigen, so kann ich Ihnen gerne …«

Jacobina hörte nur mit halbem Ohr zu. Während sie sorgfältig die weißen Häutchen von den Mandarinenschnitzen pellte, dachte sie daran, wie wenig sie eigentlich über ihre neue Heimat wusste. Was sie darüber gelesen und gehört, was sie an Bildern gesehen hatte, hatte ihr kaum mehr als eine grobe Vorstellung vermittelt. Die einer tropischen Insel mit undurchdringlichen Dschungeln, Reisfeldern und Teeplantagen an den Hängen hoher Berge. Eine üppig grüne Insel unter vielen, unter unzähligen gar, die die Schöpferhand leichthin in den Ozean gestreut hatte wie Smaragdsplitter. Eine Schatzkammer, reich angefüllt mit Tee und Kaffee, mit Chinin und Gewürzen. Ein Garten Eden am Ende der Welt, gezähmt und zu noch größerer Blüte gebracht von den Herren der Meere.

Ungleich schemenhafter war ihre Vorstellung davon, wie es sein mochte, dort zu leben, und ihr war bang zumute. Mit jedem einzelnen Tag, der sie näher an ihr Ziel brachte, ein wenig mehr. Aber eine andere Wahl hatte sie nicht gehabt; nicht, wenn sie diesem Leben noch etwas abgewinnen wollte. Etwas anderes als ein Dasein, das nicht schlecht gewesen war, aber auch nicht gut, grau und trostlos und ohne Sinn.

Sie spürte einen Blick und sah auf. Unbeachtet von den Erwachsenen, die Empfehlungen, Ratschläge und Fragen austauschten, hielt der kleine Joost die gespreizten Hände an seine Ohren. Sein Kopf wackelte hin und her, während er mit den Augen rollte und Jacobina die Zunge zeigte. Ihre Mundwinkel krümmten sich aufwärts, und sie lehnte sich etwas zurück, weiter aus dem Blickfeld ihrer Tischnachbarn hinaus. Den herausfordernden Blick des Jungen erwiderte sie unverändert fest, während sie ihre Augäpfel in Richtung Nasenwurzel wandern ließ, bis sie alles doppelt und verschwommen sah. Auch Joost. Dessen Finger erschlafften, sein Kinn sackte herab; aus aufgerissenen Augen starrte er Jacobina an, einen Augenblick lang unschlüssig, ob er lieber losheulen oder schreiend davonlaufen sollte. Dann perlte ein Kichern aus seiner Kehle herauf, kollerte schließlich in einem unbändigen Lachen aus seinem Mund, bis er sich auf seinem Stuhl krümmte und wand und nach Luft schnappte.

»… wir müssen auf jeden Fall – herrje, was ist denn nun schon wieder?!« Mit zusammengezogenen Brauen sah Frau Verbrugge zu ihrem Sohn und seufzte. »Entschuldigen Sie mich kurz, ich muss die Kinder zu Bett bringen. Sonst schlafen sie um diese Zeit schon längst.« Sie stand auf, nahm die in ihrem Stuhl eingeschlummerte Tressje auf den Arm und Joost bei der Hand. Nur widerwillig ließ sich der Junge von seiner Mutter fortführen, während er Jacobina weiterhin mit einem hingerissenen Lächeln bedachte, die sich ihrerseits mit gesenkten Lidern wieder ihrer Mandarine widmete, ein fremdes, vergnügtes Zucken irgendwo in der Magengegend.

Floortje starrte in das nächtliche Dunkel der Kabine. Weder das sanfte Schaukeln des Schiffs noch das monotone Brummen der emsig stampfenden Maschinen vermochte sie in den Schlaf zu wiegen. Auch nicht die schweren Atemzüge aus der Koje gegenüber, die in kehlige Schnarchlaute ausliefen; zu ungestüm sprang ihr das Herz in der Brust umher, und immer wieder zuckte ein Lächeln über ihr Gesicht. Noch während der Überfahrt die ersten Einladungen von respektablen Familien einzuheimsen war mehr, als Floortje sich in ihren kühnen Träumen von einem neuen Leben ausgemalt hatte. Mit den Beziehungen zu den Ter Steeges und den Rosendaals würde sie in Batavia schon bei ihrer Ankunft einen Fuß in der Tür haben und darüber schnell weitere Bekanntschaften schließen. Vielleicht auch über Jacobina und die gut situierte Offiziersfamilie, zu der diese unterwegs war …

Das Lächeln weitete sich zu einem Strahlen aus, als Floortje an Jacobina dachte. Der Grund für deren plötzliche Flucht heute Nachmittag an Deck war leicht zu erraten gewesen; Floortje hatte den Hunger in ihren Augen gesehen. Diesen gewaltigen, unstillbaren Hunger nach Hinwendung und Zuneigung, den sie selbst nur allzu gut kannte. Und den Kummer, der daraus erwächst, wenn jemand anders bevorzugt wird, und der so schwer von gewöhnlicher Missgunst zu unterscheiden ist. Jacobinas Miene war in Ablehnung erstarrt geblieben, als sie ihr die Blumen entgegengestreckt hatte, aber das Leuchten in ihren Augen hatte sie verraten und Floortje ein beinahe kindliches Glücksgefühl beschert.

In ihrem Bauch kribbelte es; eine euphorische Unrast, die bis in die Zehen hinunterreichte. Die Lust, ihrer Freude freien Lauf zu lassen, durch die Kabine zu tanzen und aus voller Kehle zu singen, war übermächtig und ruhig liegenzubleiben eine Qual. Fräulein Lambrechts, die jüngere Schwester von Frau Rosendaal, hatte jedoch einen leichten Schlaf und machte ohnehin keinen Hehl daraus, wie störend sie Floortjes Anwesenheit in der Kabine empfand, die sie sich während der Überfahrt teilen mussten. Floortje war zu schlau, als dass sie die wie beiläufig fallengelassenen Sticheleien mit gleicher Münze heimzahlte; sie wollte es sich mit den Rosendaals nicht verderben, dafür stand zu viel auf dem Spiel. Achselzuckend ließ sie die scharfen Bemerkungen, wie ungebührlich viel Zeit sie doch vor dem Spiegel und am Waschtisch verbrachte und welch unschicklichen Aufwand sie mit ihrem Äußeren betrieb, an sich abperlen und genoss insgeheim die bohrenden Blicke, mit denen Fräulein Lambrechts Floortjes zarte, mit Rüschen und Spitzen besetzte Leibwäsche und ihre leichten Kleider in frischen Farben musterte. Und da Fräulein Lambrechts bei Lampenschein nicht schlafen konnte und nur allzu bereit war, eine Klage über Fräulein Dreessens Rücksichtslosigkeit anzustimmen, trödelte Floortje abends vor dem Schlafengehen nur so lange herum, wie es ihr gerade noch angeraten schien, bevor sie unter das Leintuch ihrer Koje schlüpfte, das Licht löschte und mit offenen Augen davon träumte, niemals mehr eine Schiffskabine mit jemandem teilen zu müssen, weil es billiger war.

Die Unruhe in Floortjes Gliedern wurde zu einem quälenden Brennen, und die Dunkelheit, die sie umfing, bekam etwas Beklemmendes. Ihr Herzschlag galoppierte an und stolperte schließlich in einen hastigen, verkrampften Takt hinein, der ihr in der Brust wehtat und das Atmen erschwerte. Die Nacht ängstigte sie. Nicht auf dieselbe Art, wie sie sich als kleines Mädchen gefürchtet hatte, vor Ungeheuern und Schauergestalten, die des Nachts ihr Unwesen trieben. Es war die stille Schwärze, die sie mehr als alles andere fürchtete. Die Finsternis mit ihren Schatten, die man nicht sah, nur spürte. Die Dunkelheit, die Bilder heraufbeschwor, Stimmen und Gerüche. Die an alten Wunden rührte und kein Vergessen erlaubte.

Floortje rollte sich zusammen und umschlang ihr Kopfkissen, presste es vor die Brust und vergrub ihr Gesicht darin. Sie würde vergessen können, irgendwann. Irgendwann würde die Vergangenheit keine Macht mehr über sie haben, irgendwann vielleicht sogar die Nacht ihre Schrecken verlieren.

Das Lämpchen über der Koje verbreitete nur einen schwachen Lichtschein und ließ den größten Teil der Kabine, die Jacobina für sich allein hatte, im Dunkeln. In ihrem weiten, langärmeligen Nachthemd, das Haar zu einem strammen Zopf geflochten und den Kopf in eine Hand gestützt, hatte sie sich der Wand zugedreht. Eine kleine Nische in der Holzverschalung barg das Glas mit dem Blumensträußchen, und die schmale Leiste auf halber Höhe sicherte es dagegen ab umzukippen, sollte der Seegang stärker werden als das gemütliche Schaukeln, das den Wasserspiegel im Glas träge hin und her schwappen ließ. Das schummrige Licht saugte alle Farbe aus den Blütenblättern und ließ sie wächsern aussehen; für Jacobina schienen sie dennoch aus sich heraus zu leuchten, und hin und wieder konnte sie einen zarten Duft erschnuppern.

Schon lange hatte sie nichts mehr geschenkt bekommen, das ihr so viel bedeutet hatte. Es war nicht dasselbe wie Blumen von einem Kavalier verehrt zu bekommen, aber dass Floortje ihr Sehnen danach erspürt und diese Aufmerksamkeit von Herrn Aarens mit ihr geteilt hatte, machte das mehr als wett. Von klein auf zu Selbstlosigkeit angehalten, aber im Gefühl verhaftet, stets zu kurz zu kommen, bezweifelte Jacobina, dass sie an Floortjes Stelle ebenso gehandelt hätte. Jedes Mal, wenn sie daran dachte, schämte sie sich ein klein wenig. Vor allem aber wurde ihr immer aufs Neue warm ums Herz.

Jacobina atmete schwer aus und drehte sich auf den Rücken. Sie wünschte nur, sie könnte sicher sein, dass Floortjes Freundlichkeit aufrichtig war und kein Mitleid oder gar Arglist dahintersteckte. Wie bei Tine damals. Den Unterarm über die Stirn gelegt, als müsste sie sich vor einem Schlag schützen, blickte sie starr an die Decke hinauf.

Nur widerwillig hatte sie an jenem Nachmittag ihre Mutter zum Kaffeekränzchen bei den de Haans begleitet. Seitdem sich Betje, Johanna, Jette und Henny von ihr, der alten Jungfer, die nicht mitreden konnte, wenn es um Ehe und Kinder ging, abgewandt hatten, war Jacobina noch weniger danach zumute gewesen als zuvor. Es war Tines Verdienst gewesen, dass jene Stunden im Salon an der Prinsengracht für Jacobina unerwartet kurzweilig gerieten, Tine Westerveldt mit ihrem blonden Seidenhaar und einem Teint und einer Statur wie eine Meißener Figurine. Mit ihren Augen, so blau wie das Dekor des Delfter Porzellans im Hause van der Beek, die mit funkelnder Neugierde auf Jacobina gerichtet waren, während Tine lächelte und plauderte und Jacobina nach und nach ein bisschen etwas über sich zu entlocken verstand. Sie lasen die gleichen Bücher, mochten beide Schubert und Beethoven und konnten über dieselben Dinge lachen. Wie ein frischer Lufthauch war Tine zwischen den Samtportieren und den dicken Teppichen gewesen, in denen der Geruch nach behäbigem Reichtum hing, als wäre der Duft von Kaffee und Kakao, mit denen die de Haans handelten, nach und nach hineingesickert und mit der Zeit erst ranzig, dann staubig geworden. Bertha van der Beek, erleichtert, dass ihre einsiedlerisch gewordene Tochter sich wieder ein wenig aus ihrem Schneckenhaus hervorwagte, hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt, dass die beiden zum Abschied Adressen austauschten und sich schrieben und Tine schließlich des Öfteren in der Nieuwe Herengracht zu Gast war. Jacobina blühte auf in jenem Sommer, glücklich, in Tine eine solch gleichgesinnte Freundin gefunden zu haben, die sich nicht nur mit ihren Eltern, sondern auch mit Henrik und Martin bestens verstand. Und sie hatte es ihrem älteren Bruder und Tine von Herzen gegönnt, als sich über den Sommer ein zartes Band zwischen ihnen entspann und sie sich im Herbst mit dem Segen ihrer Eltern verlobten.

Jacobina drückte sich tiefer in das Kissen und zog das Leintuch bis über die Nasenspitze, als sie an jenen einen Tag im Oktober dachte.

Müssen wir sie denn überallhin mitnehmen? Im Türrahmen des Salons stehend hatte Tine nur geflüstert, aber der hohe, weite Raum der Diele hatte ihre Stimme dennoch die Stufen heraufgetragen. Oben war Jacobina auf dem Treppenabsatz stehen geblieben, die Finger um ihren Hut und die Handschuhe verkrampft. Nur zu gern war sie auf Henriks Bitte eingegangen, mit ihm und Tine das Haus zu besichtigen, das er als ihr künftiges Heim ins Auge gefasst hatte. Bevor ihre Mutter sie weiterhin damit beschäftigt hielt, die Listen für die Hochzeit im Frühling zu ändern, zu erweitern und schließlich neu aufzusetzen. Henriks Antwort hatte mit einem Brummen begonnen, in dem die ersten Worte untergingen. … hat doch sonst niemanden. Jacobina hatte geschluckt, und das Blut war ihr heiß ins Gesicht geschossen. … immerhin deine Freundin! Von Tine war daraufhin ein Murmeln gekommen, das ungehalten klang; als ob sie dann den Kopf hob, um zu Henrik aufzublicken, war das, was sie unter zärtlichem Gurren hinzufügte, deutlicher zu verstehen gewesen. … muss te mir doch etwas einfallen lassen, um dich auf mich aufmerksam zu machen! Henrik van der Beek kennt nur die Arbeit und kein Vergnügen, das haben alle gesagt, die ich nach dir gefragt habe. Hätte ich mich nicht an deine Schwester gehängt, hättest du mich niemals bemerkt! Henrik hatte nur gelacht, nicht gehässig, höchstens geschmeichelt, und entgegen seiner sonstigen Förmlichkeit hatte er seiner Verlobten einen hörbaren Kuss aufgedrückt.

Übelkeit stieg in Jacobina auf. Einen Abgrund hatte sie sich damals herbeigesehnt, der sich vor ihr auf der Treppe auftun und sie verschlingen möge; taub vor Elend und Scham war sie in ihr Zimmer zurückgeschlichen und hatte dem Dienstmädchen geläutet, damit es sie mit plötzlichen Kopfschmerzen entschuldigte. Nie hatte Tine ein Wort darüber verloren, dass Jacobina sich danach von ihr zurückgezogen hatte. Vielmehr schien sie wie befreit von der Last, die Fassade einer Freundschaft aufrechterhalten zu müssen, die nie eine gewesen war. Sondern nur Mittel zum Zweck.

Jacobina drehte den Kopf zur Seite und blinzelte zu den Blumen in der Nische hinauf. Sie war nicht so naiv zu glauben, dass sich von heute auf morgen alles ändern würde, nur weil sie ihre Koffer packte und ihrem alten Leben den Rücken kehrte. Und dennoch schien ihr das Sträußchen wie ein Hoffnungsschimmer, dass es dort draußen in der großen weiten Welt jenseits der feinen Gesellschaft von Amsterdam, vielleicht ein, zwei Menschen gab, die etwas mit ihr anfangen konnten. Für die sie nicht wie eine Kanne wässriger Milch war, die bereits sauer zu werden begann.

Als fühlte sie sich bei einem Wunsch ertappt, der ihr nicht zustand, setzte sie sich schnell auf und löschte das Licht, bevor sie sich tief unter dem Leintuch verkroch, mit klopfendem Herzen und einem nagenden Gefühl im Bauch.

Das Herz der Feuerinsel

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