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Sekundäre Kriminalisierung

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Die Umsetzung strafrechtlicher Normen in die gesellschaftliche Praxis bezeichnet man als »sekundäre Kriminalisierung«. Ergibt sich die primäre Kriminalisierung (Normsetzung) aus den Entscheidungen der Gesetzgeber, so resultiert die sekundäre aus den Tätigkeiten der Behörden (Normanwendung). Dieser Umstand ist aus zwei Gründen besonders wichtig. Einerseits für die kriminell Handelnden: Betreffen ihre Handlungen einen Bereich, der für die Strafverfolgungsbehörden schwer zugänglich ist oder an dem sie kein aktives Interesse haben, so bleiben die Strafbestimmungen totes Recht, ihre Handlungen bleiben unentdeckt oder werden nicht verfolgt. Damit bleiben auch jene Folgen aus, die mit der Strafverfolgung verbunden sind: Ermittlungen, Gerichtsverfahren, Strafen etc. Zweitens beeinflusst die sekundäre Kriminalisierung das gesellschaftliche Bild von Kriminalität. Die Öffentlichkeit kennt nicht den durch strafrechtliche Bestimmungen abstrakt abgesteckten Raum; sie nimmt vorwiegend zur Kenntnis, was als »Kriminalität« entdeckt und von den zuständigen Behörden entsprechend behandelt wird. Auch die sekundäre Kriminalisierung ist kein stabiler Vorgang, denn sie wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Die wichtigsten sind die Folgenden.

• Art des Delikts: Zentral ist hier die Gruppe sog. opferloser Delikte. Es handelt sich um Straftaten, bei denen es keine persönlich Geschädigten gibt – und mithin niemanden, der/die die Tat zur Anzeige bringen könnte. »Opferlose Delikte« kommen in zwei Konstellationen vor. Eine Gruppe besteht aus verbotenen Handlungen, bei denen alle Beteiligten die Handlung wollen, die Unterscheidung zwischen TäterIn und Opfer also hinfällig ist; illegales Glücksspiel oder Drogenhandel sind prominente Beispiele. Bei der anderen Gruppe kommt keine Person unmittelbar zu Schaden, z.B. Steuerhinterziehung oder illegales Müllvergraben. Bei Delikten mit persönlichen Opfern ist die Anzeigewahrscheinlichkeit sehr hoch. Gibt es keine Opfer, sinkt die Anzeigewahrscheinlichkeit erheblich. Diese Delikte werden nur dann bekannt, wenn gezielt Anstrengungen unternommen werden, ihnen nachzuspüren. Weil die Aufdeckung dieser Delikte von den Anstrengungen der Behörden abhängig ist, werden sie als »Kontroll-« oder »Holdelikte« bezeichnet.

• Tradition der Ermittlungen: Bestimmte Straftatenbereiche stehen schon immer im Fokus der Strafverfolgung. Dazu zählen zwei quantitativ geringe Deliktsfelder wie die Straftaten gegen das Leben (Mord, Totschlag) oder gegen die staatliche Ordnung (Hochverrat, Landesverrat) auf der einen und die vielen Alltagsdelikte (vor allem Eigentumsdelikte) auf der anderen Seite. Jenseits dieses traditionellen Kerns entwickelt das Strafverfolgungssystem Verfolgungsschwerpunkte, die sich aus der inneren Dynamik der Institutionen entwickeln und zugleich in Beziehung mit den kriminalpolitischen Debatten stehen. Der Kampf gegen den internationalen Drogenhandel, gegen organisierte Kriminalität, gegen Terrorismus oder gegen Cyber-Kriminalität sind Beispiele, in denen polizeiliche Erkenntnisse/Ermittlungen und politische Forderungen sich gegenseitig verstärken, so dass Ursache und Wirkung nicht mehr unterscheidbar sind: Ermittelt die Polizei gegen organisierte Kriminalität, weil die Gesellschaft sich über deren Gefahren deutlicher bewusst wird, oder werden die Gefahren deutlicher bewusst, weil die Polizei in diesem Bereich intensiver ermittelt?

• Kontexte und Sensibilität: Die Strafverfolgung hängt ganz wesentlich vom Anzeigeaufkommen ab. Das Anzeigeverhalten – ob Opfer oder ZeugInnen eine Straftat den Behörden melden – variiert von Delikt zu Delikt und es verändert sich im Zeitverlauf. Es wird durch vier Faktoren beeinflusst:

− Es gibt Delikte, in denen die zivilrechtlichen Kontexte das Anzeigeverhalten verändern. Bei Diebstahl, Einbruch, Sachbeschädigung verlangen die Versicherungen in der Regel die Anzeige bei der Polizei als Nachweis für den eingetretenen Schaden. In dem Ausmaß, in dem Versicherungen abgeschlossen werden, nehmen die faktischen Pflichten zur Anzeigeerstattung zu. Sofern Institutionen die Geschädigten sind, hängt die Anzeigeentwicklung von deren Strategien ab. Verfolgen LadeninhaberInnen die Warnung »Jeder Ladendiebstahl wird zur Anzeige gebracht!« mit einer entsprechenden Kontrollpraxis (Videoüberwachung, LadendetektivInnen …), dann steigt die Zahl der angezeigten Ladendiebstähle. Dasselbe gilt für die »Beförderungserschleichung« (›Schwarzfahren‹), wenn die Unternehmen die Kontrolle der Fahrscheine intensivieren.

− Die Bereitschaft, eine Straftat anzuzeigen, steht in Relation zum Vertrauen in das Strafverfolgungssystem. Die Anzeigebereitschaft sinkt, wenn Opfer oder ZeugInnen den Eindruck haben, dass die Polizei nichts ausrichten kann oder ausrichten wird. Es gibt auch Personen, die den Kontakt zur Polizei scheuen, weil sie selbst schlechte Erfahrungen mit ihr gemacht haben oder solche befürchten. Das gilt insbesondere für Angehörige von Gruppen, die sich im traditionellen Fokus polizeilicher Aufmerksamkeit befinden, etwa Prostituierte, obdachlose Menschen oder MigrantInnen ( Teil B).

− Die Sensibilität, bestimmte Handlungen oder Sachverhalte als Kriminalität wahrzunehmen und dies den zuständigen Behörden zu melden, unterliegt starken Schwankungen, die Folge gewandelter Einstellungen in der Gesellschaft sind: Die körperliche Züchtigung der eigenen Kinder wird weitgehend nicht mehr als »natürliches Recht« der Eltern akzeptiert und deshalb häufiger von ZeugInnen zur Anzeige gebracht. Umgekehrt wird der Kleinhandel mit Cannabis von großen Teilen der Bevölkerung mittlerweile toleriert und deshalb nicht angezeigt.

− Einen Sachverhalt bei der Polizei anzuzeigen, kann als ein Vorgang wahrgenommen werden, durch den Konflikte an eine staatliche Instanz übertragen werden. Je anonymer, individualisierter, diverser und mobiler Gesellschaften werden, desto wahrscheinlicher ist, dass nicht länger auf die persönliche Problemlösungskompetenz vertraut wird. Wer die NachbarInnen nicht kennt, klingelt nicht bei nächtlicher Lärmbelästigung, sondern sucht Hilfe beim Amt; wer die Sprache der Eltern nicht spricht, sucht nicht das klärende Gespräch, wenn die Kinder in den Schulpausen handfest ihre Konflikte austragen, sondern ›zeigt an‹ … Die ›Nachfrage‹ nach Polizei kann deshalb auch als ein Indiz für die schwindenden Fähigkeiten zu ›zivilgesellschaftlicher‹ Konfliktlösung verstanden werden.

Insgesamt zeigt diese Übersicht, dass zwischen primärer und sekundärer Kriminalisierung erhebliche Unterschiede bestehen, die selbst wieder deliktischen und historischen Veränderungen unterworfen sind.

Soziale Arbeit und Polizei

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