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Kapitel 10

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Die Zeit raste. Ich fühlte mich schwer unter Druck. Ich wollte noch alles tun, was mir wichtig war. Eine letzte Reise kam nicht mehr infrage. Dafür war die Zeit zu knapp. Aber ich ging an die Plätze in meiner Stadt, die wichtige Erinnerungen für mich bargen. Erinnerungen, die mich immer noch glücklich machten. Ich suchte den kleinen Schulpark auf. Die im Kreis angepflanzten Büsche standen noch an Ort und Stelle. Sie boten jetzt sogar ein noch besseres Versteck. Dort hatte ich zum ersten Mal einen Jungen geküsst. Oder besser, er hatte mich geküsst. Er war viel attraktiver gewesen als ich, und es kam für mich daher völlig unerwartet. Ich ließ mich ins Gebüsch ziehen, ließ ihn machen, stellte mich einigermaßen tollpatschig an. Der schönste Moment war, als ich danach noch eine Weile alleine dortblieb. Ich freute mich unbändig und ich triumphierte. Wenn man jung ist und man bekommt etwas so Schönes, Unerwartetes geschenkt, denkt man, man hätte es verdient und es ginge von nun an so weiter. Meistens korrigiert das Leben einen solchen Übermut sehr schnell. Ich vermute, jeder hat so einen frühen Moment des Triumphes erlebt. Und vielleicht hätten sich noch weitere Momente an den einen schönen Moment gereiht, wenn man nicht triumphiert hätte. Wenn man nichts weiter erwartet hätte. Wenn man einfach nur den Augenblick genossen hätte, ohne Rücksicht auf ein Morgen. Aber wie soll man in dem Alter wissen, dass das Leben kein Freifahrtschein ist?

Ich besuchte eine Menge Orte, an denen ich hing: das alte Hallenbad, in dem wir Schwimmunterricht gehabt hatten. Die Stimmen hallten in dem hohen Gewölbe merkwürdig nach. Das Plätschern des Wassers klang besonders. Alle Geräusche wurden verstärkt und gleichzeitig runder im Ton. Schwimmen war jedes Mal ein Fest gewesen in dem alten Gebäude. Ich setzte mich nochmal in die Bibliothek, in der ich oft Romane gelesen hatte, atmete den Geruch der alten Bücher ein, der mit Kaffeeduft vermischt war. Ich versuchte, meine liebsten Freundinnen und Freunde zu besuchen oder wenigstens anzurufen. Ich brachte es aber nicht fertig, mit ihnen über das Sterbehotel zu reden. Ich wollte sie unbeschwert treffen, so als sei alles in Ordnung. Wenn jemand schwer krank ist, erzählt er das auch nicht allen und genießt es, von denen, die es nicht wissen, für gesund gehalten zu werden.

Innerhalb einer Woche hatte ich das Wichtigste erledigt. Anna, Max, Fred und Marwa taten nichts dergleichen. Anna ging ganz normal ihren täglichen Beschäftigungen nach, als wäre nichts anders. Sie war ja auch davon überzeugt, wir kämen von Fehmarn wieder zurück. Mir war wirklich schleierhaft, weshalb sie unserem Staat vertraute. Fred und Marwa verbrachten ihre Zeit mit Planungen. Sie kundschafteten im Internet die Insel aus und Marwa stellte eine Ausrüstung zusammen. Ihnen fehlte schlicht die Zeit, ihrem vergangenen Leben nachzutrauern. Vielleicht wollten sie es auch gar nicht. Fred hatte endlich wieder ein Projekt, das war für ihn wichtiger als alles andere. Und Marwa schätzte ich als nüchtern und pragmatisch ein. Sie konnte völlig in einer Aufgabe aufgehen, wobei für sie rationale Lösungen an erster Stelle standen und Gefühle warten mussten. Max tat nur eine Sache, die meinem Tun ein bisschen ähnelte. Er besuchte das Grab seiner Frau, was er vordem nicht getan hatte. Es hatte ihn zu sehr deprimiert. Ich konnte mir vorstellen, dass er am Grab Zwiesprache mit seiner Irmgard hielt. Vielleicht teilte er ihr mit, er käme bald nach.

Sterbewohl

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