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Kapitel 3

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Ich stand vor dem Wandkalender in meiner Wohnung und blickte auf die Tage, die im April noch blieben, bis sie uns abholten. Im Dritten Reich hatten sie einen abgeholt, wenn man Jude war. Jetzt holten sie dich ab, wenn du alt warst. Statt allerdings wie damals in schmutzigen Baracken zusammengepfercht auf den Tod zu warten, bekamst du in einem Luxushotel nach einem Fünf-Gang-Essen bei Kerzenlicht in einer Suite die Pille serviert, die dich aus dem Leben beförderte. Leise Musik berieselte dich, du durftest deine Lieblingsmusik wählen und Sterbewohl mit einem Glas Champagner schlucken.

Im ersten Jahr wollten sie geistlichen Beistand zulassen. Die Kirche hatte sich aber geweigert, ebenso die anderen Glaubensgemeinschaften. Öffentliche Stellungnahmen gab es hierzu aber nicht. Solange sie vom Staat geduldet wurden, hielten sie den Mund.

Ich ging langsam durch meine zwei Räume, Wohnzimmer und Schlafzimmer, musterte die Dinge, die ich noch aus meinem Elternhaus behalten hatte, Erinnerungsträger. Jede Vase, jedes Kristallglas hatte meine Familie erlebt, spiegelte meine Eltern wider. Ich war froh, dass sie schon über zehn Jahre tot waren und das hier nicht mehr miterleben mussten. Irgendwann würde alles auf dem Müll landen. Eines Tages verlor man alles. Aber jetzt schon? Jetzt war ich dazu noch nicht bereit.

Ich hatte mit nichts abgeschlossen. Mir schien sogar, ich hätte noch gar nicht richtig gelebt. Nach dem Studium hatte ich sofort die Stelle als Grundschullehrerin angetreten. Seither war ich nicht mehr aus der Tretmühle herausgekommen. Ein Tag glich dem anderen. Morgens Unterricht, nachmittags Hefte korrigieren. Abends Elternsprechstunde. Weiterbildungen, Tagungen, selten Einladungen zu Kollegen. Die Zeit dazwischen brauchte ich, um meine Arbeitstüchtigkeit aufrechtzuerhalten und meinen Haushalt zu bewältigen. Die einzige Abwechslung boten die Ferien. Da war ich regelmäßig verreist und konnte Luft schöpfen in einer anderen Welt ohne Schulmief. Ja, es war noch nicht Zeit für mich. Eben erst hatte ich den Entschluss gefasst, endlich zu leben.

Sterbewohl

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