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Kapitel 4

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In der Nacht konnte ich natürlich nicht einschlafen. Wir waren in zwei Tagen bei Fred verabredet. Er wollte bis dahin eine Journalistin kontaktiert haben, die er von früher kannte. Woher sollte Fred eine Journalistin kennen, überlegte ich erneut. Und was für eine Journalistin? Vielleicht eine alte Freelancerin, deren Artikel niemand wollte? Fred war ein netter Kerl, und deshalb sagte niemand von uns, er sei ein Hochstapler. Aber das war er. Ich hatte wenig Hoffnung, dass Fred irgendetwas Positives für uns bewirken konnte. Und selbst war ich noch gar nicht in der Lage, mir Gedanken zu machen, ob es für uns einen Ausweg gab. Die Gefühle waren einfach noch zu frisch und zu stark. Sie verhinderten, dass ich klar denken konnte.

Einstweilen zog mein Leben in Bildern an mir vorüber. Sie hatten allesamt etwas Wehmütiges. Ich sah Szenen aus meiner Kindheit vor mir, ging die Reisen durch, die meine Eltern mit mir gemacht hatten, die Weihnachtsfeste und Geburtstage, die wir gefeiert hatten, musste an meine erste Liebe im Gymnasium denken, einen Jungen, der leider nichts von mir wissen wollte, sah mein Kaninchen Tilda im Garten umherspringen, fühlte noch einmal, wie unbändig ich mich über Tilda gefreut hatte, dieses kuschlige, sanfte Wesen mit den roten Augen. Und selbst meine Zeit des Unterrichtens an der Augustus-Schule erschien mir jetzt nicht mehr so schlimm. In meinen Augen bissen Tränen, während ich im Geist durch die Granitflure wanderte, in mein Klassenzimmer, die Pulte mit den PCs vor mir sah, den Pausenhof. Selbst die Schüler konnte ich mir ohne negative Gefühle vorstellen, laut, lebhaft, mit Ausdrücken in allen Sprachen um sich werfend, sich im Pausenhof prügelnd. Sie waren auf einmal schön, denn sie waren lebendig. Sie waren am Leben und ich wäre es vielleicht bald nicht mehr.

Draußen rollten dumpf Autos vorbei. Kalte Luft zog durch das aufgeklappte Fenster in mein Schlafzimmer. Mir wurde bewusst, dass ich selbst an der lärmigen, vierspurigen Straße hing, die viel zu nah vor dem Haus vorbeiführte, und an der Benzinluft. Ich verabschiedete mich in Gedanken von den Menschen, die mein Leben für einige Zeit geteilt hatten, von Nachbarn, Kollegen, Freunden, Verwandten, selbst von den Angestellten im Supermarkt nebenan, die ich jeden zweiten Tag beim Einkaufen sah. Ich verabschiedete mich von jedem Spazierweg, jedem Platz in der Innenstadt, jedem Blättchen und Grashalm im hinteren Garten. Sogar vom Treppenhaus und meiner Waschmaschine im Keller, bis mir endlich die Augen so wehtaten, dass ich noch einmal aufstehen musste, um Kamillen-Kompressen aufzulegen.

Es war klar, ich musste möglichst schnell zum Hausarzt, um mir Schlaftabletten zu besorgen, vielleicht auch Beruhigungsmittel oder besser Tabletten, die die Stimmung hoben. Diese Mittel bekam man viel leichter als früher. Es hatte Vorteile für den Staat: Die Leute blieben bei Laune und funktionierten.

Sterbewohl

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