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Kapitel 5

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Um weiterhin zu funktionieren, oder besser gesagt, um nicht durchzudrehen, suchte ich am nächsten Tag meinen Hausarzt Dr. Doppel auf.

Die Sprechstundenhilfe begrüßte mich freundlich mit meinem Namen.

Im Wartezimmer entspannte ich mich; alles schien normal, so wie immer. Es saßen dort fünf Personen. Die Sprechstundenhilfe hatte mir gleich am Empfang angekündigt, dass es etwas länger dauerte.

Dr. Doppel war immer hilfsbereit gewesen. Hatte ich wieder mal einen Erschöpfungszustand, gab er mir Beruhigungsdrops, und wenn die nicht mehr halfen, Antidepressiva. Im letzten Schuljahr war ich mühsam wieder von den Antidepressiva heruntergekommen. Über Monate hinweg verringerte ich die Dosis geringfügig, bis ich es schaffte, ohne die Tabletten auszukommen. Das Leben war ohne sie eindeutig schwieriger, aber ich fühlte mehr, ich konnte besser denken, ich war lebendiger. Mit den Tabletten litt ich zwar weniger, denn sie wirkten wie ein Filter; sie siebten das Besorgniserregende einfach aus, es berührte mich kaum mehr. Ich fühlte mich oft ohne Grund heiter. Aber gleichzeitig stumpfte ich immer mehr ab. Ich hatte die Tabletten gebraucht, während ich unterrichtete, ich hätte es sonst einfach nicht mehr ausgehalten. Mit den Tabletten funktionierte ich. Erst in meinem letzten Schuljahr hatte ich es mir leisten können, die Drogen zurückzufahren, mit der nahen Pensionierung vor Augen. Ich war bald so weit, dass ich nicht mehr wie ein Rädchen im Getriebe funktionieren musste, ich war endlich frei.

Doppel hatte mir über die schwersten Zeiten hinweggeholfen. Dafür war ich ihm immer dankbar gewesen. Jetzt, da ich mein Leben sozusagen von hinten, vom Ende aus betrachtete, kamen mir jedoch Zweifel, ob sein großzügiges Verschreiben in Ordnung gewesen war. Eigentlich hatte er mir nicht nur alles verschrieben, was ich wollte, er war es gewesen, der mich auf all die Beruhigungsmittel und Antidepressiva erst aufmerksam gemacht hatte. Er hatte sie mir verkauft wie Süßigkeiten. Mich dazu verführt, mein Leben mit ihnen leicht und reibungslos zu gestalten. Ungeachtet irgendwelcher Nebenwirkungen. Vielleicht hatte Doppel Anweisungen vom Gesundheitsamt, möglichst viele der Tabletten an die Patienten zu bringen? Sie brachten den Vorteil, dass man in aller Ruhe seine Arbeit erledigte, dabei nicht unzufrieden war und gegen nichts rebellierte.

Ich schrak hoch, als Doppel im Türrahmen erschien und mich in sein Behandlungszimmer bat.

Doppel nahm ein Papier von seinem Schreibtisch, blickte kurz darauf und sagte dann ernst: „Aha, Sie fahren zum Sterbeseminar.“ Er pausierte einen Moment. „Nach Fehmarn.“

Ich schluckte, konnte nichts erwidern.

Doppels Miene hellte sich auf. Er grinste mich freundlich an; automatisch entspannte ich mich. „Da haben Sie das große Los gezogen. Schöne Insel. Sie brauchen keine Angst zu haben. Dort geht es ganz locker zu. Nur Wellness. Sie können auch jederzeit wieder abreisen, wenn es Ihnen nicht gefällt. Alles ist freiwillig.“

Ich war sofort auf der Hut. Unter normalen Umständen hätte ich Doppel gefragt, ob er das wirklich glaubte, unterließ meine Frage aber und versuchte, ihn möglichst ausdruckslos anzublicken.

Er lachte künstlich auf. „Die meisten haben eine völlig unsinnige Angst davor. Dabei ist es überhaupt nicht schlimm, sondern schön.“ Das Wort schön sprach er mit einer seltsam tiefen, vibrierenden Stimme. Ich bekam spontan Gänsehaut. Dann wurde er geschäftsmäßig, vielleicht um mich zu beruhigen. „Viele sind ängstlich und nervös, wenn sie zum Sterbeseminar fahren.“ Er stand auf, griff in einen Glasschrank und holte ein Päckchen heraus. „Ich empfehle da Rilax. Ein ganz leichtes Beruhigungsmittel. Es beruhigt nicht nur, sondern muntert Sie auch gleichzeitig auf.“

Ich blickte ihn nur an und versuchte ungezwungen zu lächeln.

„Sie können die Packung mitnehmen.“

Wollte er sie mir schenken? Ich war verblüfft. Ich streckte meine Hand aus, nahm sie und verstaute sie in meiner Handtasche. Dann krächzte ich: „Danke.“

Ehe ich mich’s versah, war ich wieder draußen. Die Sprechstundenhilfe wünschte mir noch viel Spaß auf Fehmarn. Auch sie wusste also, dass ich eine Sterbekandidatin war. Ich lächelte sie verzerrt an und stolperte zur Tür hinaus.

Sterbewohl

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