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Kapitel 6

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Vor unserer Abfahrt nach Fehmarn musste jeder von uns noch diesen Sachwalter bestimmen, der die letzten Angelegenheiten regeln sollte. Ich fand es äußerst verdächtig, dass man das jetzt schon tun musste. Das machte nur Sinn, wenn man tatsächlich nicht mehr zurückkehrte. Entschloss man sich, nach dem Seminar weiterzuleben, dann hatte man den Verwalter der letzten Dinge doch umsonst engagiert.

Fred ermahnte mich, nicht zu viel nachzudenken. Es würde mich nur schwächen. Wir müssten alle unsere Energie auf unser gemeinsames Projekt verwenden. Er hatte ja recht. Vielleicht fiel es ihm leichter, sich auf eine einzige Sache zu konzentrieren; er war eben ein Mann. Männer konnten besser eingleisig fahren.

Mir gingen leider eine Menge beunruhigender Dinge durch den Kopf. Alle wiesen darauf hin, dass in den Sterbehotels für uns Endstation sein würde. Da waren zum Beispiel unsere Nachbarn, ein Haus weiter, die alten Lehmanns. Sie waren beide über 80 gewesen, aber noch unglaublich gut in Form. Der alte Herr Lehmann fuhr sogar noch Fahrrad. Und sie hatten Kinder und Enkel, die sie jeden Monat besuchten. Die Enkel spielten dann im Garten, wo Herr Lehmann für sie einen Spielplatz mit Rutsche, Kletterstange und Sandkasten eingerichtet hatte. Frau Lehmann organisierte regelmäßig die Enkelgeburtstage und verwöhnte die Kleinen mit selbst gebackenem Kuchen. Herr Lehmann briet für alle Würstchen auf dem Grill. Ab und zu übernachteten die Enkel auch bei ihnen. Und die Enkel genossen es. Das war ihnen anzusehen. Die Großeltern verwöhnen einen oft mehr als die Eltern, mit ihnen ist alles unkomplizierter. Letztes Jahr erzählte mir Frau Lehmann von der Einladung ins Sterbehotel. Wir hatten uns im Supermarkt getroffen. Ich weiß noch, wie wir vor dem Kühlregal standen und uns unterhielten. Frau Lehmann schien mir unnatürlich bleich. Ich dachte damals, es sei vielleicht die LED-Beleuchtung des Kühlregals, die ihre Gesichtshaut so fahl erscheinen ließ. Als wir mit unseren Einkaufstaschen rausgingen, war sie aber im hellen Tageslicht immer noch so blass. Und ihr kamen dann auch Tränen. Ich redete auf Frau Lehmann ein, sie dürfe die Einladung zu dem Sterbeseminar nicht so ernst nehmen. Sie könne ja jederzeit mit ihrem Mann wieder nach Hause zurück. Die würden sie nicht dortbehalten. Ganz wohl war mir dabei allerdings nicht, und ich klang auch sicher nicht sehr überzeugend. Frau Lehmann beruhigte sich dennoch und erzählte daraufhin freudig von ihren Enkeln. Der Große hatte den Fahrtenschwimmer gemacht und die Kleine übersprang vielleicht eine Klasse. Frau Lehmann wurde immer fröhlicher und bestimmter. Sie würde gebraucht. Es käme nie und nimmer infrage, dass sie ihre Kinder oder ihre Enkel im Stich ließe. Sie und ihr Mann wären immer für sie da, bis zum letzten Atemzug. Zumindest noch die nächsten zehn Jahre. Das konnte sie mit Gewissheit sagen, so gut wie sie sich noch fühlten.

Die Lehmanns waren dann abgereist. Eine Zeit lang hatte ich nicht mehr an sie gedacht. Und dann kam ich an ihrem Haus vorbei und stellte fest, dass andere Leute dort wohnten. Leute, die ich noch nie gesehen hatte. Erst zwei Tage später war ich so mutig, dort zu klingeln. Auf dem Klingelschild stand jetzt Buttic. Ich fragte die Frau, die aufmachte, nach den Lehmanns. Hinter der Frau stapelten sich im Korridor Umzugskartons. Sie und ihr Mann hatten die Wohnung von den Kindern der Lehmanns gemietet; die Frau war freundlich und mitteilsam. Die Umstände seien sehr traurig gewesen und es hätte ihr leidgetan, unter solchen Bedingungen hier einzuziehen. Die alten Lehmanns hätten sich zum Sterben entschlossen. Die beiden Kinder mussten aus einem Abschiedsbrief erfahren, dass beide Eltern nicht mehr lange zu leben hatten; sie waren schwer erkrankt und wollten gehen, bevor sie zu schwach für so eine Entscheidung wären und nur noch Schmerzen hätten. Er hatte ein Bauchspeicheldrüsenkarzinom, sie eine aggressive Leukämie. Ich schluckte und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich glaube, ich habe noch gemurmelt, sie möge den Kindern der Lehmanns mein Beileid ausrichten. Dann bin ich auf die Straße gestolpert.

Konnte das sein? Waren die Lehmanns wirklich so krank? Wer hatte das festgestellt? Wieso hatte Frau Lehmann noch vor wenigen Wochen so heiter und gesund gewirkt? Und auch ihn hatte ich als gut gelaunt und robust in Erinnerung. Und nun waren sie auf einmal Todeskandidaten? Und dann noch beide? Hatten es ihre Kinder geglaubt? Ich blieb damals sehr verunsichert zurück. Und Annas Erklärung, es sei möglich, dass etwas so Gravierendes wie bei den Lehmanns diagnostiziert werde, solange es einem noch tadellos gehe, beruhigte mich kein bisschen.

Sterbewohl

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