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Kapitel 2

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Ich sah noch einmal auf den Brief auf meinem Küchentisch. Schlagartig wurde mir klar, ich hatte höchstens noch vier Wochen zu leben. In zwei Wochen musste ich auf Fehmarn sein und der Sterbeaufenthalt dauerte ebenfalls zwei Wochen. Erst jetzt erschrak ich bis ins Mark. Dass ich verzögert reagierte, geschah vielleicht zu meinem eigenen Schutz. Ein wenig hatte ich mich schon an die Hiobsbotschaft gewöhnen können, bis sie mich vollumfänglich traf.

Noch vier Wochen zu leben … und ich war noch gar nicht alt, wollte sogar gerade ein neues Leben anfangen, ein angenehmeres Leben ohne den ständigen Ärger in der Schule.

Eine Zeit lang war ich so unglücklich, dass ich einfach nur weinte. Mein Todesurteil schien mir unabänderlich. Dann kam mir der Gedanke, zu Anna rüberzugehen.

Ich klingelte nebenan, den Brief in der Hand. Anna öffnete. Ich war so erleichtert, dass sie da war, dass ich erneut in Tränen ausbrach.

Obwohl ich kaum mehr aus den Augen gucken konnte, bemerkte ich, dass mit Anna etwas nicht stimmte. Sie wirkte irgendwie hart, abweisend. Was war nur mit ihr los?

Sie bat mich stumm herein.

Auf dem Couchtisch lagen ein Blatt Papier und ein Couvert; ich erkannte von Weitem den Briefkopf des Gesundheitsministeriums.

„Du auch?“, brachte ich heraus.

Als sie begriff, dass ich denselben Brief bekommen hatte, entspannte sie sich ein wenig. „Ich habe gedacht, ich wäre die Einzige … Schon seit Stunden überlege ich, warum sie mich umbringen wollen. Ich bin doch erst siebenundsechzig. Halten die mich für eine Gegnerin? Meinen sie, ich wäre gegen den Staat? Gegen die Partei?“ All ihre Kräfte versagten, sie ließ sich auf die Couch fallen, die unter ihrem Gewicht wüst quietschte.

Ich fühlte mich ein klein wenig besser, weil ich mir sagte, ich muss jetzt Haltung bewahren, um sie zu trösten: „Der Staat ist womöglich wieder bankrott. Gelddrucken hat seine Grenzen. Ungestraft geht das nicht lange. Ich habe denselben Brief bekommen, obwohl ich immer vorsichtig war: Ich habe in der Öffentlichkeit nie was gegen den Staat gesagt. Meine Eltern haben mir schon in meiner Jugend eingebläut, wohin das führen kann. Die mussten noch das Dritte Reich miterleben.“

Anna sperrte die Augen weit auf, bog ihren Oberkörper langsam nach vorne: „Wir sollten Fred und Max fragen. Wenn die auch Briefe bekommen haben, dann könnte ein Bankrott wirklich der Grund sein.“ Sie sank wieder zurück in die Polster: „Oder alle von uns haben einen Brief bekommen, weil sie unser Haus als konspiratives Nest ansehen ...“

Ich kochte Anna zuerst einen Kamillentee, damit sie sich beruhigte. Dann gingen wir mit unseren Briefen ins Treppenhaus und klingelten bei den anderen.

Max hatte den Brief ebenfalls bekommen. Auch ihn schickten sie nach Fehmarn.

Fred öffnete in Tränen aufgelöst. Ich hatte ihn noch nie weinen sehen. „Sie schicken mich ins Hotel Tod. Und ich weiß ganz genau, warum“, eröffnete er uns noch auf der Türschwelle.

Fred wusste genau, warum? Er war achtundsechzig, sah aber aus wie achtundfünfzig. Wahrscheinlich, weil er nie gearbeitet hat.

„Weil ich nie gearbeitet habe“, echote er meinen Gedanken mit einem tiefen Schluchzer. „Jetzt zahlen sie es mir heim. Sie halten mich für wertlos. Ich bin für sie ein Parasit, den sie vernichten wollen …“

Tatsächlich wurden Bürger, die keiner geregelten Arbeit nachgingen, zunehmend ausgegrenzt. Und der Staat förderte das. In den Filmen im staatlichen Fernsehen wurden Bürger, die nicht arbeiteten, als faule Blutsauger bezeichnet, als gesellschaftsschädliche Vampire. So erschien es Fred nur als konsequent, dass sie solche wie ihn einfach aus dem Weg schafften.

Als er realisierte, dass wir alle den Brief erhalten hatten, beruhigte er sich sofort. Es war merkwürdig, dass er sich so schnell fasste. Er schien sich sogar zu freuen ... Vielleicht war es für ihn der größte Albtraum, ausgegrenzt zu sterben, als Einzelner von der Gesellschaft verschmäht und ausgespuckt zu werden. Der kleinere Albtraum war, mit anderen zusammen zu sterben, als Teil einer Gemeinschaft.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte er fast schon unternehmungslustig. Er alleine schien ein Quäntchen Mut gefasst zu haben, er wollte etwas tun.

Max biss sich auf die Lippen. Ich war mir sicher, er wollte sagen: Können wir überhaupt etwas tun, verkniff es sich aber.

Max hatte seit zehn Jahren resigniert. Ich hatte den Verdacht, er fühlte sich verantwortlich für den Tod seiner Frau. Er war so sehr mit Geldverdienen beschäftigt gewesen, dass er sich kaum noch um sie gekümmert hatte. Sie war einfach da, richtete sein Heim, funktionierte. Als sie wegstarb, wurde ihm mit einem Mal bewusst, wie unsinnig sein ganzes Leben war. Er schien zu glauben, er habe kein Recht mehr, sein Leben zu genießen, und tat nur noch das Nötigste, um die Maschine seines Körpers und seines Haushalts am Laufen zu halten. Er wurde immer dicker und wirkte auch leicht ungepflegt mit seinen fettigen grauen Haarwischen, die er quer über die Glatze kämmte. Er vertrat nirgendwo eine Meinung, nahm alles, was andere sagten, klaglos hin, hielt sich zurück. Als hätte er es verwirkt, eine selbstständige Person mit einem bestimmten Charakter und bestimmten Bedürfnissen zu sein.

Fred sah in die Runde. Er war der Einzige, der nicht den Mut sinken ließ. „Wir haben noch zwei Wochen“, rief er. „Eins muss klar sein: Sterben werden wir auf keinen Fall!“

„Wie willst du dich dem entziehen? Die holen uns ab, wenn wir nicht fahren“, wimmerte Anna.

„Wer sagt, dass wir nicht fahren? Wir fahren! Nur lassen wir uns nicht zum Sterben überreden“, frohlockte Fred.

Ich habe mich immer gewundert, dass keiner unserer europäischen Nachbarn je etwas gegen unsere Praxis des geförderten Sterbetourismus verlauten ließ. Wahrscheinlich waren alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Oder sie hielten es für ein gutes Modell und wollten es selbst in ihren eigenen Ländern einführen, um die Finanznöte zu lindern, in denen sie nach wie vor steckten.

Anna hatte offensichtlich andere Überlegungen: „Und wenn wir einfach abhauen? Ins Ausland?“

„Unsere Nachbarn nehmen doch niemanden mehr auf, seit es die EU nicht mehr gibt. Die weisen uns aus“, erwiderte Fred. „Und es ist noch schlimmer“, ergänzte er. „Selbst wenn du ein Land findest, das dich aufnimmt, bist du am A…, weil sie dir deine Rente nicht ins Ausland überweisen.“

„Für dich wär das doch unerheblich, du lebst vom Vermögen“, bemerkte Max.

„Stimmt. Ich habe jetzt nur mal allgemein gesprochen. Ich für meinen Teil könnte alles abheben und verschwinden. Wenn sie mich aber an der Grenze erwischen, dann nehmen sie mir das ganze Geld ab, seit es die scharfen Kapitalverkehrskontrollen gibt. Dann wäre ich mittellos. Apropos mittellos. Ich kann natürlich jederzeit ins Ausland, wenn ich mich darauf einlasse, dort mittellos auf der Straße zu leben. Dafür bin ich aber zu alt. Das halt ich nicht mehr aus. Da bist du nach einem Jahr spätestens tot.“

Wir sahen Fred betreten an. Unsere Chancen standen schlecht. Ins Ausland konnten höchstens die Reichen. Denen erlaubte man sogar, ihr Geld zu transferieren. Sie mussten aber eine sehr große Ablösesumme zahlen. Viele waren dennoch geblieben, wie man aus den Medien erfuhr. Ich hatte den Verdacht, weil für sie andere Regeln galten. Oder sie wollten hier gar nicht weg. Sie waren hier aufgewachsen, kannten hier alles, das war trotz allem noch ihr Land. Und wer wollte insbesondere im Alter noch ganz woanders hin? Man gewöhnte sich da doch gar nicht mehr ein. Man lief Gefahr, an Heimweh zu krepieren.

„Wir fahren also nach Fehmarn und machen den Zirkus mit“, fuhr Fred fort. „Und wir versuchen, jemanden von der Presse mitzunehmen. Eine Person, die den Mut hat aufzudecken, was in den Sterbehotels im Geheimen geschieht. Wenn das rauskommt, können sie damit nicht mehr weitermachen. Dann haben sie die gesamte Bevölkerung gegen sich. Und auch das Ausland wird reagieren.“

Das war eine gute Idee. Ob Fred aber wirklich jemanden von der Presse kannte und diese Person dann auch noch überzeugen konnte, mit uns zu fahren? Da war ich nicht ganz sicher. Fred war ein netter Kerl, er hatte aber ein Geschäft nach dem anderen verdorben. Er hatte ständig neue Projekte begonnen, seinen Geschäftspartnern große Hoffnungen gemacht, doch wenn es an die Realisierung und die mühsame Kleinarbeit ging, hatte er versagt und jedes Projekt war am Ende gescheitert. Um es kurz zu fassen: Fred verkaufte liebenswürdig leere Hoffnungen.

Sterbewohl

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