Читать книгу Weil wir anders sind - Otto W. Bringer - Страница 10
Zum ersten Mal allein
ОглавлениеNun steh ich hier, allein. Die letzten Häuser Burghausens hinter mir. Auf meinem Rücken lastet ein schwerer Rucksack. Hängt und zieht nach unten, als wollte er mich daran hindern zu gehen. Zu entfernen von allem, was war. Gewohnt mit Eltern und Freunden zu leben. Jetzt bin ich auf mich allein angewiesen. Der Rucksack drückt mit fünf, sechs Kilo Sonntagshemd und -Hose, Wäsche, ein Paar Ersatzschuhe und jede Menge Bücher. Die Geige im hölzernen Kasten an meiner linken Hand schweigt. Die Rechte beginnt mit dem Stock die Zahl der Schritte zu zählen. Zu wandern wie Handwerksgesellen, die Beinmuskeln zu stärken. In anderen Ländern lernen, wie man Gelerntes noch besser machen kann. Muss auf Schusters Rappen – so heißt es – unterwegs sein. Zu Fuß gehen und nicht gefahren werden wie bisher auf langen Strecken.
Wieviel Kilometer es sind, weiß ich nicht. Eine Tagesreise oder zwei, drei, eine ganze Woche? Oder mehr? Keine Ahnung. Wir hatten uns lange umarmt beim Abschied. Fest an seine Brust drückte mich Papa. Mama streichelte meine Wange, als ich ihr in die Augen sah. Ihr aufmunterndes Lächeln zu sehen wie früher. Bevor ich zu spielen ging. Ernst sah sie mich an. Wischte die Tränen mit dem Handrücken weg. „Bež dureste“, pass auf Dich auf. Wir trennten uns zum ersten Mal für lange Zeit. Keiner wusste, ob und wann wir uns wiedersehen werden. Die Zukunft ungewiss, trotz besserer Aussichten als je zuvor.
Doch das Schicksal ist unberechenbar. Schlägt zu, habe ich erfahren. Verachtet, verjagt, weil wir Roma sind. Es kann doch kein Gott sein, der uns straft. Er wäre nicht gleichzeitig ein gütiger. Der Teufel nicht, denn Teufel versprechen viel und halten nichts. Warum bloß mag uns kein Mensch?
Wir haben einen Kopf wie sie, mit einem Hirn zu denken.
Augen zu sehen. Nase zu riechen, einen Mund im Gesicht, zu reden, zu essen, zu trinken. Alles wie sie. Ohren, um zu hören. Arme mit Händen, die arbeiten und streicheln können. Zehn Finger, die alle brauchen, um sich das Maul zu stopfen oder ein Instrument zu spielen. Beine mit Füßen, die gehen und springen können. Auch über Grenzzäune, ließen sie uns. Warum also um Gottes Willen sind es die Roma nur, die anders sind? Ausgestoßen aus der Welt der Menschen? Es können doch nicht ein paar kriminelle Roma der Grund sein, ein ganzes Volk zu verachten. So wenig wie ein Lügner alle Christen zu Lügnern macht.
Ich weiß nicht, warum ich so melancholisch bin. Glaubte doch bisher, mir macht es nichts aus, von anderen verachtet zu werden. Und deshalb gezwungen, ständig unterwegs zu sein. Habe meine eigene Welt. Eine Welt der schönen Häuser, schönen Parks, Sonnenaufgang jeden Morgen und die Welt der Musik. In mich regelrecht aufgesogen, zu meinem Zuhause gemacht. Warum kommen mir jetzt solche Gedanken? War der Abschied von den Eltern ein Abschied für immer?
Mit meinen achtzehn Jahren musste ich erfahren, dass Roma ständig Abschied nehmen. Von Orten, in denen sie so etwas wie Heimat fühlten. Weniges nur, das sie ins Herz geschlossen, mitnehmen konnten. Die versteinerte Schnecke, entdeckt unter Wurzelwerk im Waldboden. Eine silberne Kugel vom Weihnachtsmarkt. Ein vor der Kirche liegengebliebenes Heiligenbildchen aufgehoben, mitgenommen wie einen Talisman.
Mehr aber sind es Erinnerungen, die wir mitnehmen. Wie die an den bunt gefiederten Gockel. Der jedes Mal auf den Misthaufen sprang und uns mit einem fröhlichen Kikeriki begrüßte, kamen wir näher. Erinnert die Bank an der Donau, auf der wir saßen. Die Sonne untergehen sahen und träumten, irgendwann doch anzukommen. Wie das Fließende vor uns. Das im unendlichen Ozean sich verliert. Verdunstet, um Wolke zu werden, Regen, Quelle und Fluss. Und wieder im Ozean versinkt. Das Leben der Roma ist ein ständiges Kommen und Gehen. Ob sie es wollen oder nicht.
Schicksale fallen mir ein, bewegen meine Gefühle, meine Gedanken. Von Menschen, die ich kannte. Großvater blieb in Kirchschlag allein zurück. Ließ niemanden mehr an sich heran. Starb, wie ich viel später hörte, nach einem Schlaganfall. Zwei Wochen nach unserem Weggang. Jelena tötete sich selbst. Eine Frau, die ich nicht liebte, jetzt aber seltsame Gedanken kommen. Das Bild der sich hinab stürzenden Jelena vor Augen. Konnte es nicht verhindern, zu Tode erschrocken.
Was mag in ihrem Kopf vorgegangen sein während des Sturzes? Gleich erlöst mich der Tod. Oder: Was habe ich bloß getan? Angst vor dem endgültigen Aus überfiel sie. Wollte es rückgängig machen. Breitete die Arme aus, damit das Blätterdach eines Baumes sie auffängt. Wie die Arme eines liebenden Vaters.
Ich weiß es nicht und werde es nie wissen. Tote können nicht mehr sprechen. Ihre Eltern begruben sie neben einem Baum an dem Hang, den sie herabstürzte. Oberhalb der Felsplatte. Ihren Namen und das Todesjahr schnitten sie in seine Rinde: JELENA 1929. Ob ich es sehen will? In diesem Augenblick will ich es. Auf der Stelle. Um zu wissen, ich habe keine Schuld an ihrem Tod. Oder doch? Auch wenn ich es nicht sein wollte, ich war der Anlass zu ihrem Selbstmord. Fühle mich schuldig. Auch indirekt können wir sündigen. Indem wir die Sünde zulassen. Wegsehen oder weggehen und über anderes reden.
Nun bin ich vierzehn Tagereisen entfernt von dieser Stelle. Nähere mich der Stadt, die Mozart feiert. Freue mich jetzt, dort zu studieren. Trauer um Vergangenes wird blasser. Zukunft leuchtet auf: Ich werde die Geige besser spielen als ich sie derzeit spiele. Um eines Tages der Beste zu werden von allen. Nach dem Examen werde ich es beweisen. Mit dem Stück eines Komponisten, den ich noch nicht kenne. Einem Russen vielleicht. Tschaikowskis Musik soll alle Register haben. Seufzt wie Föhnwind, dröhnt wie ein Orkan. Heißt es. Verliebt, enttäuscht, entschlossen zu leben nach langer Depression. Tschaikowski schrieb das Violinkonzert in D – Dur, um sich zu befreien. Sein einziges für Orchester und Violine.
Jetzt aber will ich spielen was ich kenne. Öffne den Geigenkasten, nehme das Instrument heraus und stimme die Saiten. Es ist nötig, denn Wochen ist es her, seit ich es zuletzt getan. Vor dem Spiel auf dem Wochenmarkt mit Papa in Kirchschlag. Ich weiß, Geige aus lebendem Holz ist temperaturempfindlich. Dehnt sich bei feuchter Luft. Zieht sich zusammen bei trockener. So minimal, dass man es nicht sieht. Aber die Saiten aus dem Darm von Tieren spüren es. Werden gelängt oder verkürzt, wenn der hölzerne Geigenkörper sich ausdehnt oder schrumpft. Und so den Ton verändert. Mal ist die Luft noch feucht vom Regen in der Nacht. Heiß und trocken um die Mittagszeit. Besonders im Sommer. Im Herbst wechseln Temperaturen und Feuchte ständig. Vor jedem Stück muss ich die Saiten neu aufeinander abstimmen. GDAE. Heute ist es ein wenig nebelig. Doch heller wird ʼs. Die ersten Häuser tauchen auf. Ich bin auf dem richtigen Weg. Bestgestimmt wie die Saiten meiner Geige.
Was soll ich jetzt spielen? Ein trauriges oder ein lustiges Lied? Ach was, ich fantasiere. Einfach so drauf los. Beginne langsam, ganz langsam, die G – D- und A – Saiten rauf und runter kräftig zu streichen. Zu streicheln wie ein Verliebter, Melodie werden lassen. Saiten aus dem Darm vom Schwein die süßesten Töne zu entlocken. Von feinstem Silberdraht umsponnenen dunklen Ton, den Darm erzeugt, versilbern gewissermaßen. Taste sie an der höchst erreichbaren Stelle des Griffbretts und der hohe Ton hört sich schärfer an. Ohne scharf zu klingen wie auf der E – Saite aus Stahl. Eher wie der letzte Schrei eines Schweins auf der Schlachtbank. Schwinge die Hand hin und her, den Finger auf die Saite gedrückt. Und der Ton vibriert. Vibrato nennt man das. Schwingungen, die den Ton bewegen, obwohl er derselbe bleibt. Nur voluminöser, facettenreicher, bohrt sich regelrecht ins Gehör. Springe auf die stählerne e -Saite und jage die Töne hinauf. Bis an die Grenze des Hörbaren. Lasse sie tanzen auf jeder der vier Saiten. Spiele das Lied der Roma.
Unterwegs Tag um Tag. Pizzicato gezupft, an Türen geklopft immer wieder. Türen, die sich nicht öffnen. Geige weint wie ein Kind: aufmachen, bitte! Streichle die Saiten, verstockte Gemüter zu erweichen. Breche ab, weil nichts sich rührt hinter den Fenstervorhängen. Noch einmal über alle vier Saiten den Bogen, dass es schrillt: Gehirne bewegt euch, denkt um! Töne gejagt, rauf und runter, vor und zurück tanzt der Geigenbogen. Auf dass sie endlich erkennen: wir Roma können Geige spielen. So gut wie ihr Brote backt, Wein keltert, das Eisen schmiedet, Häuser baut und Kirchen.
Wir sind wie ihr. Mal gut aufgelegt, mal weniger. Mal sind wir großzügig, mal egoistisch. Mal fleißig, mal faul.
Lieben unsere Frau, die Kinder wie ihr. Warum bloß werft ihr uns hinaus? Eure Dörfer, eure Städte würden aufblühen, ließet ihr uns sein, die wir sind. Musikalisch von Natur und handwerklich begabt. Menschen kämen, bei uns zu kaufen.
Uns zuzuhören, bei euch zu Abend essen und übernachten. Und dafür bezahlen. Wie wir Steuergeld da lassen. Ist das nichts?
Noch aber bin ich ein Roma, der Geige spielt, um mir selbst zu beweisen, ich kann ʼs. Leute auf Straßen und Märkten unterhalte, um Geld zu verdienen. Die Saiten regelmäßig stimme, damit ʼs in meinen Ohren klingt so schön wie gestern und vorgestern. Spiele ich sie nicht, ist meine Geige im Kasten gut aufgehoben. Bis vor die Tore des Mozarteums in Salzburg werde ich sie bei mir haben. Hüten wie einen Schatz. Mit dem ich die Prüfer beeindrucken will. Sodass sie nicht anders können, als mich zum Besten des Semesters zu erklären.
Dann aber will ich die Geige, meine Geige spielen, um berühmt zu werden. Mehr Geld zu verdienen als alle Roma der Welt zusammen. Werde beweisen, dass Musik die Welt verändert. Und alle Menschen glücklich macht, die ihr zuhören. Vielleicht, ja vielleicht hört mich ein hübsches Mädchen und lächelt mir zu.