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Unterwegs nach Bayern
ОглавлениеJelenas Eltern besprechen mit uns die Reiseroute. Auf der zerfledderten Landkarte finden wir eine Straße in Richtung Burghausen. Ab da gabelt sie sich. Eine führt nach München. Die andere über Salzburg nach Innsbruck. Wohin wollen wir? Wo sind unsere Chancen am größten? Die Leute liebenswürdige Gastgeber? Die Polizei ein Freund der Roma? Wissen es nicht, hoffen aber, dass Bayern anders sind als die bisher und uns willkommen heißen.
Jelena interessiert das alles nicht. Weint nicht mehr.
Schaut aus, als könnte sie nicht anders als traurig sein. Ihr Gesicht zur Maske erstarrt. Nichts schien sie zu interessieren. Anwesend und abwesend zugleich. Steigt mit ihren Eltern in den Wagen und sagt kein Wort. In den Pausen alle zwei, drei Stunden versuche ich, mit ihr zu reden. Frage sie, was sie am liebsten isst, am liebsten tut. Nach ihren schönsten Erlebnissen. Es wird sie ablenken, seelischen Kummer vergessen lassen, hoffe ich. Doch sie wendet sich von mir ab, beschäftigt mit lächerlichen Dingen. Reißt morsche Zweige von den Ästen und wirft sie weg. Hebt sie wieder auf und zerbricht sie in kleinste Stücke. Auch mit ihren Eltern spricht sie kein Wort. Seitdem sie sie verheiraten wollten. Ausgerechnet mit mir, der sie nicht liebt. Und den sie nicht liebt. Zwangsheirat das Schlimmste, was jungen Menschen passieren kann.
Las in einem Artikel der kostenlosen Wochenzeitung: Beim Adel ist Zwangsheirat seit langem üblich und in der Regel auch kein Grund, zu verzweifeln. Beide Seiten haben ihre Vorteile. Der Prinz bekommt eine schöne Grafentochter zur Frau. Sie wird Prinzessin und ihrem Mann Nachkommen schenken. Ihr Vater im Ansehen eine Stufe höher. Bekommt einen hohen Posten am königlichen Hof.
Bei reichen Leuten ist es ähnlich. Verheiratet ein Bürgerlicher seine Tochter mit einem Bankbesitzer, dann profitiert auch seine Familie davon. Mit zinsgünstigen Krediten, Spenden für Kindergarten oder Reitschule. Beim Adel spielen meist Ländereien der Schwiegerkinder die größere Rolle. Besonders, wenn Söhne, also männliche Erben und Namensträger, verkuppelt werden. Weil Heirat das Besitztum der Familie durch die Mitgift der Schwiegertochter vergrößert. Schlösser und Jagdgebiete dazu kommen. Fabriken und Menschen, die für sie arbeiten oder als Soldaten für sie kämpfen.
Auch bei vielen unseres Volkes ist es noch Tradition, dass Väter ihre Töchter verheiraten. In der Regel nicht, um sich zu bereichern. Sie fühlen sich für sie verantwortlich. Wollen den Zukünftigen erst kennenlernen. Ihn beobachten, einen Eindruck gewinnen. Reden mit ihm beim Essen. Verlängern den Abend bei Wein und Brot. Sooft und solange, bis sie überzeugt sind, er kann sie ernähren und mag Kinder sehr. Liebt sie wirklich und will ihr treu bleiben, bis der Tod sie scheidet.
Mütter wollen ihre Tochter schön sehen. Schöner als sie bei ihrer eigenen Hochzeit waren. Sparen lange, um ihr ein wunderschönes Hochzeitskleid zu schenken. Damit sie die schönste Braut von allen ist.
Da, wo Roma sesshaft sind, findet einmal im Jahr ein Heiratsmarkt statt. Jungen und Mädchen kleiden sich attraktiv, um zu gefallen. Treffen und beschnuppern sich. Nicht bei allen wird daraus Liebe und Hochzeit. Wenn, kann es vorkommen, dass Eltern wie früher für die Tochter eine Ablösesumme verlangen. Meist dann, wenn sie bis dahin geldwerte Arbeit geleistet hatte. Ihrer Mama bei der Hausarbeit geholfen. Oder selber Geld bei anderen verdient und zum Unterhalt beigesteuert.
Wir Roma haben keine Reichtümer, die wir vererben oder vermehren wollen. Karren, Pferd und ein bisschen Hausrat. Ein paar Hühner, Enten. Ihr Instrument ein Heiligtum, das sie nie verkaufen oder eintauschen würden. Nichts also, was eine Heirat lohnen würde. Schon gar nicht rechtfertigt, Tochter oder Sohn unglücklich zu machen. Frau oder Mann, Mama und Papa sind gleichberechtigt. Auch wenn es nicht immer so aussieht. Mama hat das Sagen. Papa hat das Sagen. Jeder auf seinem Gebiet. Immer aber einig, wenn es um das Wohl der Familie, des ganzen Clans geht.
Gäbe es Mama und Papa nicht, wäre ich nicht auf die Welt gekommen. Sind also die wichtigsten Menschen für mich.
Fragte mich einer, ob ich meine Mama liebe, sagte ich spontan ja. Frage mich jetzt selbst: liebe ich auch meinen Papa? Ist er für mich noch das Vorbild, das er war? Vor der Auseinandersetzung um Jelena kürzlich?
Muss nicht lange nachdenken. Ja, er ist es immer noch! Er hat mir mehr gute Ratschläge gegeben als schlechte. Täglich vorgelebt, dass Selbstvertrauen im Leben das Wichtigste ist. Mich die Musik lieben gelehrt, die Geige zu spielen. Bestärkt, meine Ziele konsequent zu verfolgen. Sehe ich ihn durch Menschenmengen gehen, stolz den Kopf erhoben. Egal, ob einer abfällige Bemerkungen macht oder böse Blicke ihn treffen. Er glaubt unerschütterlich, dass Musik Menschen zu besseren Menschen macht. Liebt Mama, mich und die Lieder der Roma. Fantastisch, wie er das Akkordeon traktiert. Tasten rechts und Knöpfe links rauf und runter. In einer Geschwindigkeit, dass schwindlig wird dem, der zuschaut. Und trotzdem klingt es wunderbar. Weich und leise und dann mächtig wie eine Kirchenorgel.
Letzten Sonntag nach der Messe in Kirchschlag stellte er sich auf einen der sechs Basaltpfosten vor der Kirche.
Spielte zum Abschied die Toccata in D-Moll von Johann Sebastian Bach. In Kirchen immer mal wieder gehört und behalten. Und alle, die früher auf uns herab gesehen, blickten zu ihm auf. Als sähen sie hinauf zur Empore, den Organisten spielen. Hörten die Engel singen.
Musik, ja Musik ist das, was auch ich machen werde.
Musik verbindet alle Menschen, löst Streitigkeiten auf. Wir müssten noch mehr Musik machen als bisher. Nicht nur die der Roma spielen. Nicht nur klassische von Bach, Mozart und Beethoven, Reger und Mahler. Auch moderne von Bartok, Schönberg und Martinu. Leichte Musik zur Unterhaltung bei fröhlichen Anlässen. Tanzmusik von Johann Strauß. Operetten von Franz Lehar oder Carl Millöcker. Jazz soll es geben, von Afrika über Amerika zu uns gekommen. Messinggongs ermahnen zu meditieren bei den Buddhisten. Alles hat seinen Sinn und seine Liebhaber. Vielleicht klappt es dann und sie erkennen uns an als ihresgleichen. Ich jedenfalls will mein Leben der Geige widmen. Und dann soviel Geld verdienen, dass ich mir das beste Instrument in Mittenwald kaufen kann. Der Stadt der Geigenbauer, nahe der Grenze zu Österreich. Danke Papa. Das mit Jelena vergesse ich.
Gut gelaunt wieder. Die Zukunft hell, so hell wie nie. Bald werde ich mein Geigenspiel an einer Uni vervollkommnen und der Beste werden von allen. Die Straße führt entlang der Donau. Nach jeder Kurve überrascht uns eine andere Landschaft. Mal dunkler Wald, von den Höhen herunter bis ans kiesige, mal felsige Ufer des Stromes. Mal sind es Dörfer mit Kirchen, deren Türme tief hängende Wolken zu durchstechen scheinen. So spitz sind sie. Sogar einem Ort den Namen geben. «Spitz» lese ich auf der Ufermauer, schwarz auf weißem Rechteck gepinselt. Hinter Häusern Rebstöcke in Reihen hinauf bis an den Wald. Guter Wein soll hier wachsen. Von Fachleuten, die sich Winzer nennen, in Fässern vergoren und ausgebaut. «Grüner Veltliner» begehrt in der ganzen Welt. Las ich in einem Bericht des «Kurier».
Wir Roma kennen Weine, seit wir einige Jahre in Ungarn lebten. Ihre Roten lieben meine Eltern besonders. Man erzählte ihnen, Weinbauern seien wie wir als Fremde eingewandert. Vor zweihundert Jahren. Wurzelstöcke ihres roten Weins mitgebracht und eingepflanzt. Da sieht man ʼs doch: Weist man Fremde nicht aus, sondern lässt sie im Land, bereichern sie es mit Köstlichkeiten. Typisch für Ungarn wurden Wein, Paprika, Schweinespeck und Musik. Mittlerweile weltbekannt. Werde mir ein Buch über Ungarns Geschichte besorgen, will wissen, woher die Ungarn stammen. Wer ihre einflussreichste Volksgruppe ist. Hinter dem Begriff Magyaren könnten sich doch Roma verstecken.
Die Berge seitlich des Stromes bis oben hinauf bewachsen mit Mischwald. Von weitem dunkles Grün mit hellgrünen Flecken. Das klare Blau des Himmels über uns spiegelt sich unten in der Donau. Blaugrün Schillerndes, das sich in Richtung Schwarzmeerküste schlängelt. An der Uferseite, auf der wir fahren, hoch oben ein Schloss. Zwischen Baumkronen entdecke ich zwei Türme und eine Kuppel. Etliche gelb und weiß gestrichene Gebäude herum gebaut. Das will ich sehen. Vielleicht können wir dort oben bei den Adligen musizieren und Geld für den Rest der Reise verdienen. Wie aber kann ich die anderen veranlassen, mit uns hinaufzufahren? Mama einverstanden. Papa sowieso. Er hat etwas gut zu machen.
Es wäre besser, wenn alle Instrumente dabei sind, um musikalisch einen stärkeren Eindruck zu hinterlassen. Nicht nur Papas Akkordeon und meine Geige. Sind Gitarren, Flöten und Kontrabass dabei, wird das Honorar entsprechend höher ausfallen. Wie bewege ich sie, mit uns hinaufzufahren? Statt auf der Uferstraße nach Bayern zu bleiben. Da fällt mir ein, in der Schlosskapelle könnte doch ein Marienaltar sein. Maria ist auch in Österreich die meistverehrte Frau. Rufe unseren Leuten zu:
„Wir werden dort oben Maria sehen. Vielleicht sogar eine der beiden Marien, die unsere Sara auf ihrer Missionsreise übers Mittelmeer begleitete.“
Es hat geklappt. Jubel bricht aus und die meinigen wenden ihre Pferde, die Wagen. Keine Minute vergeht und alle traben los, bergan geht ʼs. Singen und freuen sich, Maria zu sehen. In Serpentinen schlängelt sich die Straße hinauf. Rechts herum, links herum. Mir kommt es vor, als führen wir durch einen dämmrigen Tunnel. Auf beiden Seiten eng stehende Baumstämme im dunklen Dickicht. Über uns ihre ausladenden Kronen. Dicht miteinander verflochten das Blätterwerk beider Seiten, Sodass Sonne keine Chancen hat, das dichte Tunneldach zu durchdringen. Kühl die Luft im Dämmergrün.
Mag ja Fußgängern bei ihrem Aufstieg an heißen Tagen angenehm sein. Mir aber legt sich das Dunkel wie eine Last aufs Gemüt. Habe versprochen, Maria zu sehen. Und weiß nicht einmal, ob es eine Maria gibt. Ein Bild von ihr dort oben in einer Kapelle, auf einem Altar? Was dann, wenn sie keine Kapelle haben?
Rede mir ein, alle Schlösser haben eine Kapelle und einen Altar mit dem Bild Marias, der Mutter Jesu. Maria Maienkönigin oder einen mit unseren beiden Marien am leeren Grab, wie in der Bibel beschrieben. Gesehen hatte ich noch kein Schloss von innen. Nur darüber gelesen. Hoffentlich ist es überhaupt ein Schloss und keine Festung mit Soldaten, die uns verjagen.
„Heilige Sara, lass es ein Schloss sein mit Kapelle und einem Marienaltar. Oder eine Statue, Hauptsache Maria“. Schon sprechen meine Lippen das Gebet zu Maria, der Mutter Jesu. Das einzige, das mir geläufig ist seit Kindertagen.
Zu Saras beiden Marien haben wir nie gebetet. Nur zur unserer Schutzpatronin. Was soll ʼs? Maria wird mir helfen. Wie sie mir immer half. Auch wenn es lange dauerte, bis ich dahinter kam, dass sie es war, die mir geholfen. Oder war ich es selbst, der Mut gefasst? Die richtige Entscheidung traf? Wie jetzt, erst zu studieren und nicht zu heiraten. Besser aber ich bete, bevor meine Gesellschaft enttäuscht wird, zurückfahren will und ich der Blamierte bin:
„Gegrüßt seist du Maria – voll der Gnade – der Herr ist mit dir – du bist gebenedeit unter den Weibern – und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus – Heilige Maria – Mutter Gottes – bitte für uns Sünder – jetzt und in der Stunde unseres Todes – Amen.“
Immer noch nicht oben. Das unausgesetzte Linksherum, Rechtsherum zieht Zeit in die Länge. Drei-, vier- oder fünfmal gewendet, höher und höher. Und keinen Himmel gesehen. Ich zählte es nicht. Nutze die Zeit, das Gebet zu wiederholen. An jeder der Kehren. Hätte Lust, es laut hinauszuschreien. Die anderen würden mich für verrückt halten. Murmele es also vor mich hin. So oft, bis endlich die Sonne wieder scheint. Und hoffe, Maria erhört mein Flehen.
Obwohl es eher ein allgemeiner Lob- und Bittgesang ist. Ans Ende meines Lebens will ich jetzt nicht denken. Bin sicher, Maria weiß, was ich auf dem Herzen habe. Wie jeder glaubt, der es betet. Mein Wunsch sich erfüllt und Maria geworden ist. Endlich oben.
Offen im hellen Licht der Mittagssonne liegt der Platz vor uns. Stellen die Wagen ab mit den Pferden und sehen uns um. Wiese gemäht, an den Rändern der Wege niedrige Buchsbaumhecken. Kies auf ihnen knirscht bei jedem Schritt. Als sollten wir uns hören und daran denken: wir betreten hoheitliches Gebiet. Vor uns aufstrebendes Gemäuer mit Fenstern. Weiß und gelb angestrichen die Türme, die Kuppel darüber. Eine Holztafel an Pfosten, ganz nah vor Augen:
«Benediktinerabtei Stift Melk seit 1089. Betreten des Kloster-
Geländes in Badekleidung verboten!»
Ein Kloster also, das vor uns liegt. Es muss ein reiches sein, groß und mächtig, so wie es aussieht. Umso besser, dann hat es bestimmt eine große Kirche mit vielen Altären.
Einer wird einer der beiden Marien gewidmet sein. Langsam nähern wir uns dem kleinen Seitenportal, das weit offen steht. Uns willkommen heißt. Wie schön, willkommen zu sein. Nicht alle Pfarrer haben uns die Türe geöffnet, freundlich behandelt. Offiziell in ihre Gemeinde aufgenommen keiner. Hier scheint alles anders zu sein.
Nehme den Prospekt aus dem Fach, um zu wissen, was uns drinnen erwartet.
Drinnen ist Helligkeit. Anders kann ich es nicht beschreiben. Nur die rote Ampel neben dem Altar flackert, als ginge sie gleich aus. Auch wenn wir zweifeln, Gott ist hier. Ob ʼs stimmt, weiß nur Gott selber. Kerzen nach dem Gottesdienst gelöscht. Dick noch die Luft, vom Wachs geschwängert. Kein farbiges Fenster taucht den Raum in Dämmerlicht. Wie in den meisten Kirchen. Farblose Gläser lassen die Sonne hindurch. Hier in Melk scheint sie im Zenit.
Kaum den Steinplattenboden betreten, mich umgesehen, blendet mich alles. Weiß und Gold. Gold auf weißen Wänden, Decken, Pfeilern, Balkonen, der Orgeltribüne. Alles scheint vergoldet zu sein. Glänzt und spiegelt sich in den Augen aller, die hineingehen. Gold ist ewig wie Gott. Rostet nicht, verfärbt sich nicht, bleibt was es ist. Gegenwärtig hier. Gold ein Symbol, wie ich es in dieser Vielfalt nirgendwo sah bisher.
Über drei marmornen Säulen links und rechts vom Hauptaltar schweben vergoldete Engel. So zahlreich, das man lange braucht, sie zu zählen. Unter der riesigen, goldenen Krone des Martyriums verabschieden sich Petrus und Paulus voneinander. Bevor sie hingerichtet werden. Petrus, der Fels, auf dem Christus seine Kirche gründete. Paulus, der erste Missionar des Christentums. Neben ihnen Propheten des Alten Testamentes. Über allen Gottvater unter dem Zeichen des Kreuzes. Putten überall, wo Maurer und Stuckateure ein Fleckchen frei gelassen haben. Sechs Altäre in Nischen. Einer mit dem Ordensgründer Benedikt von Nursia. Wo aber ist ein Marien-Altar? Hat alles Beten nichts genutzt?
Was sage ich denen jetzt? Schaue mich um in der riesigen Halle. Die Wände entlang, in die Seitenschiffe, hoch ins Gewölbe, Maria zu entdecken. Wenn schon kein Altar, dann wenigstens ein Bild. Ein großes Bild, das Eindruck macht. Oder so hoch, dass man meint sie ist im Himmel. Maria wo bist du? Nichts sehe ich. Nichts, das wie eine Frau aussieht. Mit Baby auf dem Arm oder ohne. Mir wär ʼs egal, Hauptsache Maria. Oder habe ich vor lauter Figuren die einzelne nicht sehen können? Vor lauter Sonnenlicht nicht das irdisch Dunkle einer Frau? Wie bei Ungewissheiten gewohnt, blicke ich hinauf zum Himmel, Antwort zu hören:
„Wo bist du Maria?“
Mein Auge entdeckt hoch oben die Laterne. Ein Türmchen, oben auf die Kuppel gesetzt. Man nennt es Laterne, weil es ringsum verglast ist und alles Licht des Himmels hereinlässt. Um es in der Vierung des Kirchengebäudes zu verschwenden. Da, wo Langhaus und Querschiff sich kreuzen. Entdecke in diesem Licht auf einem Fresko der Kuppel hoch oben eine gekrönte Frau, die Maria sein könnte. Rasch in den Prospekt geguckt.
Es ist Maria, die Mutter Jesu. Maria im Zentrum des himmlischen Jerusalem. Keine der beiden, die Sara begleitete. Was sag ich denen jetzt? Sie wissen nicht, was ich jetzt weiß. Tue so als ob, rufe ihnen zu: „Hallo, kommt schnell, Maria zu sehen, die Freundin unserer Sara. Seht Maria, dort oben in der Kuppel.“ Hoffe, die Sonne blendet sie.
Vor Eifer vergaß ich, dass man in Kirchen nicht laut ruft, schon gar nicht schreit. Ein Mann im schwarzen Talar eilt auf mich zu: „Junger Mann, sind Sie bitte leise hier. Auch wenn keine Messe ist, Gott ist immer gegenwärtig, das Ewige Licht neben dem Altar erinnert daran.“ Beugt sein rechtes Knie in Richtung Rotlicht. Das just erlischt im selben Moment. Er muss ein neues einsetzen, weil es sonst nicht ewig brennt. Für die, die es glauben sollen. Nicht mitkriegen, wenn ʼs spät am Abend ersetzt wird. Jetzt müsste der Mann ein Zauberer sein: «Simsalabim» und das Licht leuchtet. Damit wir glauben, rotes Licht ist ewig. Der im schwarzen Talar aber ist nicht Goethes Zauberlehrling. Starre noch auf das rote Glas mit der erloschenen Kerze, als mich eine Frauenstimme aufschreckt: „Maria!!!“
Mariaaa, Mariaaa hallt es zurück von den Gewölben. Der Mann erschrickt, dreht sich herum, stolpert über eine Stufe direkt in die Arme der hereinstürmenden Jelena:
„Was fällt Ihnen ein, mich anzurempeln? Wer sind Sie überhaupt, uns Vorschriften zu machen? Sind Sie der Küster dieser Kirche? Oder ein Putzmann, der darauf wartet, bis alle Gäste gegangen sind. Damit Sie den Staubwedel schwingen können? Wie weit langt er überhaupt? Bis in die Kuppel hoch oben, um dieser Maria eins auszuwischen? Sparen Sie sich die Antwort.“ Zu uns:
„Was soll das Theater mit Maria? Keine der beiden hat mir geholfen. Auch euch nicht, wenn ihr ehrlich seid. Gebt es zu. Nur Sara könnte uns helfen, doch die ist lange tot. Wir müssen uns alles selbst erkämpfen. Jeder das Bisschen, was sein Leben lebenswert macht. Würde uns nicht die Liebe retten, wären wir verloren. Ich liebe Romano, den Ihr nicht mögt. Und er liebt mich. Ihr wolltet mich zwingen, den Enis zu heiraten. Doch der will mich nicht zur Frau. Weil er seine Geige liebt, wie er sagt. Soll er doch, mir aber lasst Romano. Sonst bringe ich mich um. So wahr Sara unsere Heilige ist.“
Sie scheint verwirrt, ihr Vater zischt: „Ich entmündige Dich, wenn Du den nicht heiratest“. Zeigt auf mich. Ihre Mutter versucht zu schlichten, sie zu beruhigen, nimmt sie beiseite. Sie jedoch reißt sich los uns stürmt durchs Portal ins Freie. Ich ihr nach. Erreiche sie an der Balustrade. Aus rotem Sandstein gemauertes Geländer. Hinter dem es senkrecht abstürzt. Ihr rechter Fuß schon obenauf. Oh mein Gott, sie will sich hinunterstürzen.
„Neiiin!!!“ schreie ich, so laut ich kann. Springe hinzu, packe ihren Arm, sie zurückzuhalten: „Ich werde mit Deinen Eltern reden, sie überzeugen, dass ich sowieso nicht der Richtige für Dich bin. Weil, weil, weil, weil ich schwul bin.“
Heraus ist, was ich nicht sagen wollte und doch sagte. Fühlte, es könnte sie retten. Die Eltern davon abbringen, sie mit mir zu verkuppeln.
Meine Hand an ihrem Arm schien sich gelockert zu haben, als ich das Unaussprechliche aussprach. Sie spürte es, reißt sich los und springt hinunter in die Tiefe. Schau ihr nach und erschrecke. Kein Strauch bremst ihren Sturz, kein Ast hält sie auf. Sie fällt auf eine Felsplatte, ich weiß nicht wieviel Meter tief. Liegt dort wie tot. Ein zufällig vorbeikommender Arzt stellt fest: Genick gebrochen. Ob es den Eltern das Herz gebrochen, bezweifele ich. Jelena war immer schon sehr eigenwillig. Sechs Geschwister werden sie über den Tod der Schwester hinweg trösten. Vielleicht auch nicht. Mir lässt es keine Ruhe. Fühle mich schuldig an ihrem Tod. Und wieder nicht. Oder doch? Sündigt nicht jeder, der nur an sich selber denkt?
Meine Eltern wollten ursprünglich in Wien bleiben. In der Hauptstadt des Landes sollen viele Kulturen ein Zuhause haben. Tun und lassen können, was ihrer Art entspricht. Immer schon spielten Zigeunerkapellen in Restaurants. Seit Johann Straußʼ «Zigeunerbaron» sogar auf Straßen und Plätzen. Im Opernhaus «Carmen» mit Maria Olszewska als faszinierende Zigeunerin dreißigmal aufgeführt. Arabische Glasbläser, Kupferschmiede, afrikanische Trommler. Chinesen mit Garküchen, buddhistische Mönche lehren zu meditieren. Weiß Gott eine durchmischte Gesellschaft. Der Krieg vorbei, getanzt wurde und nicht geschossen.
Dann aber verlockte es sie, doch weiter nach Bayern zu fahren. Weil dort Roma und andere Einwanderer problemlos eine Aufenthaltsgenehmigung bekämen. Unsere Wege trennen sich in Burghausen. Meine Eltern fahren weiter nach München. Ich will nach Salzburg. Nicht wie zuerst gedacht nach München, Nürnberg oder Augsburg. Dort werde ich am «Mozarteum» studieren. Hatte in einem Studienhelfer gelesen, es sei die berühmteste Musik- und Theaterschule der Welt.
Da, wo Mozart, Beethoven, Brahms und Richard Strauss ihre Stücke uraufgeführt, selber gespielt oder dirigiert. Seit 1920 finden hier internationale Festspiele statt. Mit berühmten Orchestern und Dirigenten, Schauspielern und Sängern aus aller Welt. So nah kann ich meiner Kunst nirgends sein. Die Chance haben, einer der besten zu werden. Gleich am ersten Tag werde ich das «Mozarteum» aufsuchen und mich vorstellen.