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Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst?
ОглавлениеSonntagmorgen. Zum ersten Mal gehen wir in die Kirche von Kirchschlag. Klingt lustig, Kirche von Kirchschlag. Aber das Dorf heißt so, weil dort als erstes eine Filialkirche von Helmondsödt errichtet wurde. Praktisch für die Bauern der Umgebung. So wie der Schlag am Haus praktisch für Brennholz ist. Wir wollen mit anderen die Messe feiern. Gott danken und bitten, dass wir bleiben dürfen. Vielleicht akzeptieren sie uns, wenn sie feststellen, wir sind wie sie katholisch. Christen, die ihre Sonntagspflicht erfüllen. Haben in den hinteren Bänken der linken Seite Platz genommen. Auch unsere Männer, obwohl links für Frauen reserviert. Wir wollen zeigen, dass Mann und Frau zusammengehören. Bloß nicht so weit vorne, wo andere Frauen schon knien oder sitzen. In ihren Gebetbüchern hin und her blättern, als suchten sie, was sie nicht wissen.
Wir hatten nie Gebetbücher, nur eine Bibel. Lieder, «Vaterunser» und «Gegrüßt seist du Maria» kennen wir auswendig. Auch in Deutsch. Bleiben wir länger an einem Ort, lernen wir als erstes die Sprache der anderen. Irgendein Bettler findet sich immer, der sie uns beibringt. Wir bedanken uns bei ihnen und laden sie zum täglichen Essen ein. Bis wir die neue Sprache verstehen und uns verständigen können. So ist allen geholfen.
Die Pfarrer am Ort waren froh, wenn wir regelmäßig in die Sonntags-Messe kamen und kommunizierten. Erinnere mich, als eines Tages meine Mama zu mir sagte: „Du darfst hier nicht in die Schule gehen, also auch nichts lernen von Gott und seiner Kirche. Deshalb lese ich Dir aus der Bibel die Geschichte vom Abendmahl vor. Das wichtigste bei uns Katholiken. Es war Jesus letztes Essen mit seinen Jüngern, bevor er gekreuzigt wurde.“
Eine Geschichte, die mich anfangs faszinierte. Aber nicht lange danach rätselhaft vorkam. Brot der Leib Christi? Wein sein Blut? Gott ein Mensch, einer von uns? Und wir sollen diesen Jesus essen? Schon komisch. Mama las damals unbeirrt weiter: „Jesus gab beides seinen Jüngern und sagte: „Das ist mein Leib und mein Blut. Esset und trinket, damit ich in Euch bin“.
Ich weiß, in jeder Messe wird dieses Abendmahl wiederholt, uns zu erinnern, dass dieser Jesus gegenwärtig ist. Mama damals: „Du wirst es später richtig verstehen.“ Ließ mich taufen, als ich zehn war. Kurz danach zur ersten Heiligen Kommunion gehen. Glaubte damals an alles, was mit Orgel und Weihrauch gefeiert wurde.
Heute ist die Wandlung in der Messe für mich weder Wirklichkeit noch Zauberei, sondern Symbol für die Gemeinschaft aller, die es glauben. Ich bin zur Kommunion gegangen, sagen sie, schluckten sie in der Messe eine Hostie. Und fühlten Gott in sich. Las in einem Lexikon, Kommunion ist abgeleitet aus dem lateinischen «Communio». Bedeutet Gemeinschaft. Mit wem? Gott? Sind es nicht Menschen, die mit anderen Gemeinschaft haben? Oder sogar beide? Glauben ist eine komplizierte Sache.
Sehe mich um, erkenne Leute, denen ich schon im Dorf begegnete. Da, die Frau vom Obststand auf dem Wochenmarkt. In der zweiten Bank links außen sitzt sie, sieht sich um. Wie Frauen sich umdrehen, um festzustellen, wer hinter ihnen sitzt. Rasch, damit es nicht so auffällt. Erkennt mich, stößt ihre Nachbarin an. Auch die wirft einen raschen Blick zu uns herüber und flüstert irgendwas. Alle scheinen zu flüstern. Wie an einer Strippe gezogen schauen alle Frauen auf dieser Bank zu uns herüber. Freundlich sind ihre Blicke nicht.
Ehe ich mir einen Reim darauf mache, stolzieren drei Männer im Mittelgang an uns vorbei. Nebeneinander, Schulter an Schulter, sodass sie die Breite des Ganges einnehmen. Als wollten sie niemanden durchlassen. Wie die vereinten Truppen General Fochs im letzten Krieg. Den Blick starr geradeaus gerichtet. Würdigen uns keines Blickes, als wären wir Luft. Alle anderen grüßen sie, nicken mit dem Kopf, lächeln. Man kennt sich. Die erste Bank auf der rechten Seite reserviert für sie. Ihr Name auf Emaille-Schildern.
Die Frauen der zweiten Bank links blättern wieder in ihren Büchern, viele mit goldenem Schnitt. Drehen sich hin und wieder um zu uns. Scheinen es nicht fassen zu können, dass wir in ihrer Kirche sind. Was ist das bloß für ein Pfarrer, der Zigeunern die Türe zum Himmelreich öffnet?
Bing bing, einer der beiden Messdiener zieht am Seil neben der Tür. Das Glöckchen läutet. Messe beginnt. Der Pfarrer im grünen Messgewand schreitet. Seine Hände halten den Kelch, den ein Tuch verhüllt. Heute ist es grün, wie das Messgewand. In der Fastenzeit sind beide violett, Pfingsten und Karfreitag rot. Wie bei uns zuletzt noch in Wien. Schwarz bei Trauergottesdiensten. Es ist ein älterer Herr, der Pfarrer der Gemeinde Sankt Bonifatius. Scheint gut genährt zu sein. Sein Bauch bauscht das Gewand auf, als blies es einer von unten auf. Zögert, bevor er die erste Stufe zum Altar hinauf riskiert. Drei sind es, jede bestimmt zwanzig Zentimeter hoch. Hoffentlich stolpere ich nicht, scheint er zu denken.
Die beiden Knäblein in schwarzem Talar und weißem Spitzenrock sind an ihre Plätze gegangen. Rechts einer und links einer. Zu ebener Erde. Kein Risiko zu stolpern und zu stürzen. Wie in der Politik fällt mir ein: Die Oben können stürzen oder gestürzt werden. Die Unten allenfalls im Schlamm stecken bleiben.
Orgel ertönt. Das Größte im Gottesdienst. Musik, die klingt, als hätte der Himmel alles, was Töne von sich gibt, in aberhundert Pfeifen gesteckt. Um es wie ein Füllhorn über uns auszuschütten. Die Gemeinde zu bewegen, in das Lob Gottes einzustimmen. Der jeden Menschen liebt, ob seine Haut hell, dunkel, rot oder gelb ist. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, heißt es in den Evangelien. Duldeten sie uns nach dem Gottesdienst am Nebentisch im Café, wäre ein Anfang gemacht und Mama glücklich.
Doch hier kommt keine Freude auf. Einzelne Frauen beginnen mit ihren hohen Stimmen. „Großer Gott wir loben dich“ müsste anders klingen. Zögernd, als müssten sie sich erst einsingen. Nacheinander stimmen andere ein. Wir kennen die Texte nicht, nur die Melodie gehört, behalten und mitgesummt. Noch aber fehlen die kräftigen Stimmen der Männer. Gehen als letzte hinein und verlassen als erste das Haus Gottes. Lassen ihre Stimmen erst hören, als die Frauen bereits auf der Höhe ihrer Gesangskunst angelangt sind. Und es schon ganz schön geklungen hat.
Nicht anders am Schluss der Messe. Tenöre schmettern, Bässe brummen die letzte Strophe des Liedes vom Lob Gottes. Froh, alles hinter sich zu haben. Als gleichzeitig die Glocken über uns die Mauern zittern lassen: Schluss, aus, raus mit euch. Heute scheint etwas schief zu gehen. Noch nicht aus der Portalhalle heraus, geifern uns Frauen an:
„Was fällt euch Zigeunerpack ein, in unsere Kirche zu gehen? Und auch noch zur Kommunion. Verschwindet dahin, wo ihr hergekommen.“ Fuchteln mit den Händen, als wollten sie uns schlagen. Ihre Männer mischen sich ein, zwei, drei werden handgreiflich. Drücken alles, was dunkle Haut hat. Roma, Männer und Frauen, vor sich her. Sogar einen Jungen, der braun gebrannt aus den Ferien zurück. Keiner von uns. Packen meinen Vater an der Schulter. Schubsen ihn, dass er bald hingefallen wäre. Schieben meine Mutter hinterher und mich. Da packt mich der Zorn, regelrechte Wut. Noch nie hatte ich Roma verteidigen wollen, aber jetzt platzt mir der Kragen:
„Sie wollen Christen sein? Sehe es Ihren Gesichtern an, am liebsten verprügelten Sie uns, jagten uns aus dem Dorf auf der Stelle. Vom Kirchplatz direkt in die Hölle. Ja, in die Hölle wünschen Sie uns.“
„Was ist hier los?“ Der Pfarrer eilt herbei, vom Geschrei angelockt. Blickt die Männer an. Dann zu uns herüber. Verstehen huscht über sein Gesicht. Und ein Minimum vom Minimum eines Lächelns. So hatte ich ihn nicht gesehen an diesem Sonntagmorgen. Sein weites Gewand vom schnellen Gehen aufgewirbelt. Weiter noch als am Altar. Flügeln eines Erzengels gleich, als er die Hände hebt wie zu segnen. Sankt Michael persönlich. Was wird er jetzt sagen?
„Diese Männer und Frauen sind Christen, römisch- katholisch wie Ihr. Eure Schwestern und Brüder, auch wenn sie Roma sind. Eine dunklere Haut haben als wir, unsere Sprache nicht perfekt sprechen. Liebet einander, sagt der Herr. Und spottet nicht, weil sie anders aussehen. Wollt sie um Gottes Willen nicht verjagen, wie Ihr Füchse verjagt, die eure Hühner stehlen. Denn sie glauben an Jesus Christus, Gottes Sohn, wie Ihr.“ Nach einer winzigen Pause: „hoffe ich jedenfalls.“
Kommt auf uns zu, das Gewand wieder ordentlich von der Schulter heruntergefallen. Umarmt meine Mama. meinen Papa, mich, die Freunde. Lauter, dass alle es hören: „Ich lade Euch ein zu einem Glas Wein in meinen Garten. Jetzt auf der Stelle.“ Kirchschlager und Kirchschlagerinnen betroffen, schweigen, verdrücken sich. Männer, wie ich sehe, ins Wirtshaus nebenan, ihren Ärger hinunter zu spülen. Frauen, wie es ihre Art ist, tuscheln noch miteinander allerlei über Fremde und Nächstenliebe. Ob ʼs positive Folgen hat für uns? Keine Ahnung.
Am folgenden Sonntag scheint alles ruhig zu bleiben. Alle Frauen setzen sich auf ihren angestammten Platz. Die Männer bleiben diesmal hinter uns stehen, direkt neben dem Eingang. Die Beinmuskeln zu stählen für den Sprung ins Wirtshaus. Die Messe soll kurz sein, die Predigt ausfallen. Wir wie immer in den hinteren drei Bänken. Eine Frau sieht ständig zu uns herüber. Den Hals verdreht, dass es weh tun muss. Zornig blitzen ihre Augen. Die kenne ich doch. Vor wenigen Tagen noch war sie bei meiner Mama. Ließ sich die Handlinien deuten. Irgendwas muss sie vorhaben.
Heiraten? Verloben? Oder eine Erbschaft erwarten? Wie es ausging, weiß ich natürlich nicht. Mama schweigt wie ein katholischer Beichtvater. Oder ein Arzt. Würde sie es anderen erzählen, verstieße es gegen eine Regel. Auch wenn sie in keinem Gesetzbuch steht. Es spräche sich rasch herum. Nie mehr könnte sie an diesem Ort, in der ganzen Gegend Geld verdienen mit Wahrsagerei. Vertreiben würde man uns, die Familie und alle unsere Freunde.
Diese Frau aber, die zu uns herüberblickt, muss es ihrem Mann erzählt haben. Der, wütend wohl über entgangene Erbschaft. Kaum aus der Kirche, zischt er meine Mama an: „Du Zigeunerhure, verschwinde von hier! Und lasst euch nicht mehr blicken.“ Und alle gleicher Meinung, rotten sich zusammen, uns vom Platz vor der Kirche zu verjagen. Als wären wir des Teufels. Einer der Männer verteidigte uns. Da verprügeln sie auch ihn, als wäre er ein Roma. Sie streiten um Sachen, die keinen Streit wert sind. Nur weil wir Roma sind? Die Mahnung des Pfarrers missachtet, verdrängt.
Gleiches am letzten Samstag auf dem Wochenmarkt. Als wir das letzte Stück beendet hatten, klatschte einer lange und ausdauernd Beifall. Ein anderer protestierte. Gerieten in Streit. Der eine fand unser Spiel großartig, der andere miserabel und keinen Heller wert. Schreien sich an und schlagen zu. Rasch bilden sich Parteien. Die bald schimpfen und handgreiflich werden wie die beiden, die den Streit begannen. Als gäbe es keine Worte, Streit zu schlichten. Sie bräuchten einen Friedensrichter, um miteinander auszukommen.
Streit gibt es auch bei uns. Auch verjagte einer schon mal im Zorn einen Nachbarn von seinem Platz, aus seinem Wagen. Aber der Tag noch nicht zu Ende, vertragen sie sich wieder. Neid und Ausschluss kennen wir nicht. Ein gewisses Urvertrauen schweißt uns zusammen. Vielleicht hat uns das Schicksal zusammen geschmiedet. Wie Glied an Glied einer Kette. Und niemand kann sich losreißen, um andere Wege zu gehen. An die Kette gelegt nichts anderes als miteinander auszukommen. Und sich zu lieben im Falle des Falles: Glied ist ein Mann, das andere eine Frau. Unterwegs im Land kennen und lieben gelernt. Oder auf der gemeinsamen Wallfahrt nach «Saintes Maries-de-la-Mer». Kirchlich verbunden, bis der Tod sie scheidet.
Mit den Jahren wurde mir immer mehr bewusst, dass unterwegs sein unser Schicksal ist. Aber viele Roma, die ich kenne, leiden nicht unausgesetzt darunter. Wie Außenstehende vermuten könnten. Sie haben sich arrangiert. Die Sehnsucht nach Bleibe in der hintersten Herzkammer vergraben wie einen Schatz. Aufbewahrt für den Tag, der kommen wird. In unserem Leben oder dem einer künftigen Generation.
Bis dahin aber ziehen sie weiter. Führen ein ganz normales Familienleben. Temperamentvoll, wie sie sind, lieben, streiten und versöhnen sie sich. Lagern unterwegs auf Wiesen, in Waldlichtungen. Oder auf freien oder günstig gepachteten Plätzen nahe einer Stadt. Die sie verachten, sind für sie Fremde mit schlechten Manieren. Nicht wert, sich aufzuregen. Das eigene Glück zu gefährden. Es reicht, sie bezahlen uns, wenn wir musizieren. Kessel flicken oder Kleider. Prophezeien, was sie wissen wollen.
Ich versuche, genauer zu denken. Ist es nicht auch so, dass wir doch eine Beziehung zu ihnen haben? In einem gewissen Sinne abhängig sind? Wir werden vertrieben von Menschen. Abhängig also von deren Moral und ihren Gesetzen. Fliehen vor ihnen aus Furcht vor Ächtung und Schlimmerem. Abhängig von unseren Gefühlen. Glauben aber, wir sind frei, zu bleiben oder zu gehen. Reden es uns vielleicht nur ein, um einen Rest von Selbstachtung zu bewahren.
Oder ist es in Wahrheit doch die jahrhundertealte Sehnsucht, anerkannt zu werden? Egal wo wir leben. Gleich wertvoll als Mensch, wie jeder andere auf dem Globus. Im Mittelalter hat man uns pauschal wie Diebe und Räuber behandelt, wenn einzelne gegen das Gesetz verstießen. Sodass wir flohen, bevor sie uns vor Gericht zerren konnten. Noch 1726 hat man Zigeunerbanden, so nannten sie uns, in Gießen öffentlich hingerichtet. Von Bürgern der Stadt bejubeltes Spektakel. Wer sind die besseren Menschen? Die oder wir?
Die mit weißer Haut oder die mit einer dunkleren? Die einen gelernten Beruf ausüben, Geld verdienen und eine vielköpfige Familie unterhalten können? Ein eigenes Haus ihr Eigen nennen, aus Steinen gebaute Sicherheit? Mit einem Dach aus roten Ziegeln und einen Garten, in dem Rosen blühen und Bäume Früchte tragen, die einen.
Oder die musizieren, Kupfergeschirr reparieren müssen, um zu überleben, Kleider flicken, wahrsagen oder gar betteln? Mit einem umgebauten Bauernkarren unterwegs, von einem alten Gaul gezogen, der bald sterben könnte, die anderen. Nichts anderes haben als sich selbst. Nichts anderes dürfen als weiterziehen.
Andere Mitglied in einem Verein, in dem sie sich profilieren können. Ratsherr werden oder gar Bürgermeister. Sind all diese Leute die besseren Menschen, weil sie eine Mehrheit darstellen? Und wir eine Minderheit? Dazu noch dunkelhäutig und ohne festen Wohnsitz. Ohne jede Chance dazu zu gehören. Auf sich selbst angewiesen und die Hilfe Gottes. Und unserer Schutzpatronin, der schwarzen Sara.