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Verliebt in Klatschmohnrot
ОглавлениеTitmoning heißt der nächste Ort. An der Salzach gelegen, immerfort talwärts über Steine stolperndes Gebirgsflüsschen. Die Wiesen an seinem Ufer nicht grün, sondern rot gefärbt. Klatschmohnrot. Von hunderttausend Blumen mit seidenweichen Blütenblättern. Von weitem, bewegt wie ein rotes Meer. Neugierig sehe ich mir eine von nahem an. Ihre roten Blätter bewegen sich im Wind. Es kommt mir vor, als sprächen sie mit mir, wie Lippen einer Frau. Wieso denke ich jetzt an Frau? Keine Ahnung. Vielleicht hat unsere Schutzheilige Sara mohnrote Lippen und mich beim Betreten Österreichs willkommen geheißen. Auf ihrer Statue konnte ich sie nicht sehen, bis auf die Augen von Schals verdeckt.
Sehe mich um: Alles Blühende ist Farbe. Selbst die Häuser frisch gestrichen. Hellrosa, gelb, grün und himmelblau. Blank geputzt die Fenster. Ihre Fassaden anders als in Österreich. Nicht zugespitzt die Giebel. Dächer mit Dachhäuschen. Hier sind sie hoch gezogen zu einem Rechteck. Sehen aus wie Klötze aus dem Baukasten. Nur die Kirchen haben eine andere Form. Eine von ihnen mit barock geschweiftem Giebel. Wie das Stift Melk, weiß und gelb angestrichen.
Zuerst will ich zur Stadtverwaltung. Mich auf einem Formular anmelden. Ein Passfoto dabei, um als Roma die Genehmigung für den Aufenthalt in Bayern zu erhalten. Bevor ich die Staatsbürgerschaft beantrage. Ein anderes Land könnte mir eines Tages mehr bedeuten als Bayern. Ärger jedenfalls will ich keinen. Vor allem aber als anerkannter Bürger beim Mozarteum studieren können. Fast wäre ich über die Stufen der Dienststelle gestolpert. Kann gerade noch die Balance halten. Richte mich auf, vor mir ein Mädchen. Ein hübsches Mädchen. Ein so schönes Mädchen, dass ich fast auf die Knie gesunken wäre. Und ihr einen Heiratsantrag gemacht.
Zwei dunkle Augen strahlen mich an: „Zu wem wollen ʼs denn, der Herr?“ Als Herr hat mich noch niemand angesprochen. Spüre Kribbeln im Nacken, Worte wollen nicht kommen, die gepasst hätten. Ihren Namen kenne ich nicht. Aber ihre Augen strahlen immer noch. Mein Gott, was sag ich nur? Dann kommt heraus, was zufällig richtig ist:
„Den Herrn Vorsteher möchte ich gern sprechen. In einer wichtigen, sehr wichtigen Sache. Es geht um meine Zukunft. Ja, wirklich, mein Leben hängt davon ab, ob er mir genehmigt, hier in Bayern zu bleiben. Damit ich in Salzburg studieren kann. Ich will ein großer Künstler werden. Die Geige spielen auf Festspielen wie Jascha Heifetz, wenn ʼs recht ist.“
„Wer ist Jascha Heifetz? Nie gehört den Namen. Mir wär lieber, Sie spielten auf meiner Hochzeit im nächsten Jahr.
Den Elisabethen-Walzer von Johann Strauß zum Beispiel. Egal, wie Sie heißen. Hauptsache, es reißt uns herum, herum und die Röcke fliegen. Doch da fällt mir ein: Soll ich Sie anmelden, brauch ich Ihren Namen. Wie heißen Sie eigentlich?“ „Enis Rôm.“
„Komischer Name, nie gehört. Wo kommen ʼs denn her?“
„Von Kirchschlag in Österreich.“ Sind Sie und Ihre Eltern dort geboren?“ Soll ich ʼs sagen oder nicht. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott: „Ich bin in Kroatien geboren. Meine Vorfahren kommen aus Indien. Brauche dringend eine Aufenthaltsgenehmigung.“
„Das ist ja sehr interessant. Sind sie vielleicht der Nachkomme eines Maharadschah? Sagen Sie, haben die noch ein weißes Schloss und viele Diener. Erzählen Sie mir mehr. Oder besser, wir treffen uns heute Abend im Café Zimbel. Dort im Hinterstübchen können wir ungestört plaudern. Ich gehe jetzt zum Chef. Werde ihm den Meldebogen mit Foto und Namen Enis Rôm vorlegen und bitten, ihn zu unterschreiben. Ihm sagen, es ist ein sehr, sehr dringender Fall.“
Geht und lässt einen zurück, der vor lauter Glück die Sprache verloren hat. Sprachlos sagt man doch, wenn ein Gefühl oder eine Tatsache uns überfällt, für die wir keine Worte finden. Sie wird heiraten, sagte sie. Aber vorher von mir wissen, was es mit den Maharadschahs auf sich hat. Ich werde ihr auf der Geige ein so süßes Lied vorspielen, dass sie ihre Hochzeit vergisst. Mich umarmt, küsst vielleicht.
Und ich endlich schmecke, wie Lippen von schönen Frauen schmecken.
Der Flur ist lang. Schwach die Beleuchtung. Andauernd öffnen sich Türen und schließen sich wieder. Mal lautlos, mal krachend. Leute gehen hinein und kommen wieder heraus nach einiger Zeit. Mal scheint der Fall innerhalb einer Minute erledigt. Zorn der Person ins Gesicht geschrieben. Wirft die Tür ins Schloss, dass es knallt. Andermal dauert es eine halbe Stunde. Die Person strahlt, schließt sorgsam die Tür hinter sich. Lächelt jeden an, der ihr auf dem Weg zum Ausgang begegnet. Warte jetzt bereits über eine Stunde. Warum dauert es so lange? Es schien doch, dass sich meine Sache rasch erledigte.
Da kommt sie. Lächelt nicht, ihr Rock verrutscht, die Frisur zerzaust. In der Hand ein Papier: „Hier haben ʼs Ihre Genehmigung. Und viel Glück in Salzburg. Auch als Bayer können ʼs dort studieren.“ Dreht sich, um zu gehen.
„Bleiben ʼs noch einen Augenblick, wertes Fräulein.“ Sie zögert einen winzigen Moment. „Sie wollten doch von mir hören, wie es in Indien ist. Außerdem müssen Sie mir noch die Adresse des Café Zimbel nennen. Wissen ʼs doch, fremd bin ich hier – und so allein.“ Versuche ein trauriges Gesicht zu machen.
„Fridolfinger Straße 120. Passt ʼs um 19 Uhr?“ Das Fräulein wartet meine Antwort nicht ab. Geht, dreht sich nicht um und winkt nicht. Sie geht und wird wieder da sein. 19 Uhr im Café Zimbel, Fridolfinger Straße 120. Die Kirchturmuhr wird mir helfen, pünktlich zu sein.
Habe jetzt allen Anlass, glücklich zu sein. Ich werde in Salzburg studieren. Die Zulassung schnell bekommen mit meinem Talent. Salzburg zwar auf österreichischem Gebiet, aber so nahe an Bayern, sodass ich bisher meinte, es läge auf bayrischem Gebiet. Die alte Karte zerfleddert, keine Grenze erkennbar. Die auch in der täglichen Praxis keine ist. Auf dem Weg hierher hörte ich den Leuten auf Marktplätzen zu, wenn sie redeten. Wollte wissen, wie sie denken und was sie für gut und was für schlecht halten. Heraushören, woher sie kommen, wohin sie wollen. Bauern und Bäuerinnen an den Ständen bat ich um einen Apfel, eine Möhre, ich sei ein fahrender Musikant.
Manchmal forderten sie mich auf, Geige zu spielen.
Hab ʼs gerne gemacht. Viele Leute blieben stehen, hörten mir zu. Warfen Geld in die Mütze. Soviel kam meist zusammen, dass ich nicht hungern musste. Brunnen in jedem Dorf, in jeder Stadt, mit frischem Quellwasser, den Durst zu stillen. Ein Heuschober, in den ich mich abends verkroch, um zu schlafen. Die in Häusern wohnen, in geheizten Zimmern schlafen, haben keine Ahnung. Wie Heu duftet. Zu Träumen anregt, die unter dicken Kissen nicht kommen, um wahr zu werden.
Hörte Leute miteinander reden: Österreicher und Bayern wechseln laufend die Seiten. Auch viele Titmoninger. Sah sie in Pferdekutschen. Einige sogar in einem Auto. Die meisten aufs Fahrrad steigen, den Korb auf dem Ständer. Fragte eine junge Frau: „Wohin die Reise?“ Sie guckte erstaunt, lächelte:
„Einkaufen in Salzburg, was sonst? Österreichische Schmankerln genießen. Ein Glas Schampus trinken. Mozartkugeln, mit Marzipan, Pistazien und Nougat gefüllte Schokolade nehme ich mit nachhause für meine Mama.“
Einmal im Monat bleiben wir bis zum Abend, erzählte mir der Mann im Zeitungskiosk. „Besuchen ein Theater oder ein Konzert, das es auf diesem Niveau selbst in München nicht geben soll.“ Das Flair der Stadt Salzburg muss einmalig sein. Menschen aus aller Welt kommen. Das Leben auf eine andere Art zu genießen.
Vertrödele die Zeit bis zum Abend. Endlich dann auf der Fridolfinger Straße. Auch die zieht sich hin, windet sich einmal und ist immer noch lang. So lang, dass ich kein Ende sehe. Immer weniger Häuser. Niedrigere. Dann nur noch Hütten in Schrebergärten. Ein großer Platz, eingezäunt und zwei Tore aus Balken mit Drahtgitter. Wie ich sie von Fußballplätzen kenne. Eine letzte Laterne und dann keine mehr. Bin ich hier richtig? Habe ich mich verhört? Ein Auto kommt mir entgegen, seine Scheinwerfer blenden mich. Hupt auch noch, will einer mich von der Straße verscheuchen? Jetzt verjagen uns sogar Autos, verdammte Blechkiste.
Da quietscht diese Kiste, Räder rutschen, Kies spritzt zur Seite. Tür öffnet, eine Frau steigt aus, winkt: „Hallo, kommen ʼs Herr Enis. Steigen ʼs ein. Hält eine Wagentür auf. Noch nie bat mich eine Frau, einzusteigen. Noch nie saß ich in einem Auto. Sehe sie an, lange an. Ist sie ʼs oder ist sie ʼs nicht? Dieselbe, die mir die Bescheinigung besorgte. Es dauerte, als holte sie am Brunnen einen Eimer Wasser für ʼs Federvieh. Aber glücklich, als sie mir das wichtige Papier übergab. Es ist dieselbe Frau jetzt neben mir am Steuer. Souverän wie ein Mann. Löst mit Rechts einen Griff, es ruckt. Die Linke reißt das Lenkrad rum. Der Wagen dreht sich um hundertachtzig Grad in die Richtung, aus der er kam. Schießt dann wie ein Pfeil so rasch, dass ich für einen Moment die Augen schließe und mir einbilde zu fliegen. Ja, abheben möchte ich und mit ihr ganz allein hinauf zu den Sternen. Und auf der Venus landen. Das wärʼ was.
Schön sieht sie aus. Schöner als im Amt. Das blonde Haar wieder eine Frisur. Ihr Gesicht leicht gerötet, duftet nach Veilchen oder sowas Ähnlichem. Ihre Lippen rot geschminkt wie Klatschmohn. Lächelt: „Ich bin Ihnen entgegengefahren, dachte, er findet das Café nicht. Die Trifoldinger Straße ist ja auch sehr lang. Das Café Zimbel ganz am Ende das letzte Haus. Hinter der Mauer mit der Nummer 120.“
Lieb von ihr, denke ich, möchte am liebsten ihre rechte Wange küssen. So wie mich Mama küsste. Wenn ich eilte, ihr beim Aufhängen der Wäsche zu helfen. Soll ich, soll ich nicht? Wie wird sie reagieren? Mich ohrfeigen? Überlege und weiß nicht weiter. Atme tief ein, allen Mut zusammen, drehe mich nach links, da ruckt ʼs und der Wagen hält.
„Endstation, aussteigen bitte“.
Steigt aus, kommt zu mir und legt ihren Arm über meine Schulter. Fühle mich von tausend duftenden Veilchen umarmt. Das Weiß ihres weichen Wollmantels streift meine Hüfte. Ihre wiegenden Schritte nehmen mich mit. Schwebe die Stufen zum Altar hinauf. Das Ja zu hören von der Frau an meiner Seite. „Vorsicht Stufen!“
Traum geplatzt, vier Stufen realer Anlass, um in den ersten Raum zu stolpern. „Dies ist das Café mit Tischen und Stühlen“, sagt eine Stimme, die ich kenne. Aber wie sie heißt, weiß ich nicht. Ich möchte Sie gerne mit Namen anreden nicht immer nur Fräulein, sehr verehrtes, gnädiges, hoch geschätztes Fräulein, wie es Österreicher lieben.
„Ich bin der Enis, das wissen Sie ja. Jetzt möchte ich gerne auch Ihren Namen kennen. Wie heißen Sie.“
Gespannt schau ich auf ihre Lippen. Werden sie sich bewegen? Öffnen, um einen Namen herauszulassen? Einen so wunderschönen, den ich nie mehr vergessen werde. Aus klatschmohnroten Lippen kann nur „Jelena.“
In meinen Ohren knallt Jelena wie ein Peitschenhieb. Wie kann das sein? Jelena nahm sich das Leben. Jelena sieht anders aus. Oder ist sie wieder auferstanden? Eine andere geworden, um mich zu necken? In meinem Kopf wirbeln die Gedanken und kommen zu dem Schluss: Sie kann nur eine Rômni sein. Und zufällig Jelena heißen. Das ist ʼs. Es wird noch viele Jelenas geben. Bloß wie reagiere ich jetzt?
Muss ziemlich ein dummes Gesicht gemacht haben. Versuche zu lächeln. Da fasst eine feste Hand meinen Arm:
„Komm mit, ich erkläre Dir alles“. Schleift mich mehr als ich gehe in einen kleinen Raum, schließt die Tür. Drückt mich auf ein breites Sofa, setzt sich neben mich.
Vor uns ein niedriger Tisch mit einem glänzend schwarz lackierten Tablett. Vergoldet Rand und dekoratives Blattwerk. Darauf zwei Kelchgläser auf langem Stiel. Im silbernen Eimer eine dicke Flasche, die sich zum Hals hin verjüngt. Umgeben von Eisbrocken. Es ist doch Sommer jetzt. Wie kommen sie an Eis? Fragen über Fragen. Die Wände aus rotem Stoff? Warum nicht weiß gestrichen wie im Café? Die riesigen Kissen auf dem Sofa? Alles ist weich, fühlt sich weich an. Schmecke weich auf der Zunge. Im diffusen Lampenlicht werden meine Knie weich. Es kommt mir vor, als träumte ich und alles ist nicht wahr. Hätte ich meine Geige nicht im Heuschober gelassen, würde ich jetzt ein sehr ausgelassenes Lied spielen. Um wieder aufzuwachen.
„Mein lieber Enis“ – lieber sagt sie, was hat sie vor? „Du ahnst sicher, auch ich bin eine von Euch. Eine Rômni, wie man bei Euch ja sagt. Schon früh verlor ich meine Eltern. Sie hatten versehentlich den Kaiserling mit Fliegenpilz verwechselt, dessen Gift sie lähmte. Das Dorf mit einem Arzt zu weit weg, sodass sie am nächsten Tag starben. Ich war zwölf und eigensinnig, hatte Champignons gegessen und überlebt. Wollte früh schon alles anders machen als Erwachsene. Essen, was ich lieber mochte. An einem Ort bleiben wie andere Kinder. Mit ihnen spielen und nicht immer wieder weiter müssen. Von Erwachsenen vorgeschrieben bekommen, wie ich tun darf oder nicht. Ich wollte so leben, dass ich mich gut fühlte. Auch wenn ich nicht wusste, was es war oder sein könnte.
Kroch in Gänse- oder Hühnerställe und aß ihre Eier roh. Auf Heuböden oder in moosigen Höhlen geschlafen, die es in allen Wäldern gibt. Fand Beeren aller Art und Pilze, die essbar sind. Ein Sammler hatte mir Unterschiede erklärt und die essbaren gezeigt. So schlug ich mich durch, irgendwo und überall. Gebettelt oder einem Bauern bei der Ernte geholfen. Roma-Lieder gesungen für ein paar Groschen. Als Sekretärin ausgeholfen. Wie hier zuletzt, Dass ich in Bayern bin, erfuhr ich erst dann.“
Ich bin beeindruckt, das schöne Mädchen eine Frau, die weiß, was sie will. Sehe sie an und bin verliebt. Spontan küsse ich ihre linke Wange. Glücklich, dass sie sich nicht wehrt. Im Gegenteil. Jelena legte ihren Arm um mich. Und wieder spüre ich das Weiche kommen. Nahe und näher und immer näher. Und dann ist das Weiche rot. Klatschmohnrot. Ihre Lippen küssen meine Lippen. Schmecke, wie Lippen schmecken. Nach immer mehr, mehr, mehr. Ich bin verliebt, denke ich. Verliebt, verliebt. Hätte ich doch meine Geige bei mir, dann spielte ich himmelhochjauchzend das Lied einer Liebe, die niemals endet.
Möchte es doch nie aufhören, dieses neue, berauschende Gefühl. Kein Traum, sondern wirklich wie das Leben. Sehe sie an und kann den Blick nicht lassen: „Ich liebe Dich Jelena.“ Da nimmt sie ihren Arm von meiner Schulter. Ganz langsam. So langsam, als wollte sie es nicht und müsste es doch. Rückt von mir ab, sodass wir uns nicht mehr berühren. Ihre Stimme klingt wie die einer anderen Frau:
„Ich bin keine Frau für Dich. Auch keine Freundin oder Begleiterin auf Deinen Reisen. Nicht Muse für den Künstler, der Du sein wirst. Ich bin eine schlechte Frau. Verachtet von denen, die mich ausnutzen. Mich selber achte ich nicht. Seitdem ich mich Männern hergebe. Verzeih, dass ich Dich küsste, es kam so über mich. Zweiundzwanzig Jahre alt bin ich. Ja, Du hast richtig gehört: alt und nicht jung.“
Steht auf und legt eine schwarze Scheibe aufs Grammophon, füllt die Gläser: „Prost Enis!“ Setzt sich wieder, ohne mir näher zu kommen. Musik erst leise, dann laut und getragen, als spielte sie auf einer Prozession. Ein Blas-Instrument reißt meine Ohren auf. Tönt heller, strahlender als unser Horn: „Was ist das für ein Instrument und wer spielt es?“
„Im Begleitheft der Schallplatte steht: Louis Armstrong, ein Schwarzer, zurzeit einer der besten Trompetenspieler. Blues nennt man diese Musik. Traurig klingt sie, wenn sie am «Mardi Gras», dem letzten Faschingsdienstag, durch die Straßen New Orleans marschieren. Sehnsucht nach Heimat in Rhythmus und Melodie. So wie ich mich jetzt fühle, verachtet und heimatlos. Wie Louis und viele andere, die aus Afrika in die USA verschleppt wurden. Von Sklavenhändlern gekauft und wieder verkauft an reiche Amerikaner. Die sie für einen Hungerlohn beschäftigten. Immerhin gab man ihnen Unterkunft. Auf die Roma seit Jahrhunderten warten.“
Sieht mich an, beginnt zu singen: „Well now, baby meet me in the bottom“. Welchʼ eine Stimme. Nur drei Töne, die alles ausdrücken. Melancholie und Lebensfreude zugleich. Wunderbar. Erst aber will ich wissen, warum sie sich für eine schlechte Frau hält. Und was es heißt, sich anderen Männern herzugeben:
„Jelena, ich mag Dich sehr. Du heißt wie eine frühere Bekannte von mir, die sich selbst umbrachte. Verwirrt war ich einen Moment, als Du Deinen Namen nanntest. Doch nun zu Dir: Du bist doch Sekretärin des Bürgermeisters.“
Schon sehe ich sie wieder vor mir: Der Rock verrutscht, ihre Frisur zerzaust, nervös war sie und schnell weg.
Ob sie sich ihm hergegeben hat, um mir die Genehmigung zu verschaffen? Dann muss sie mich mögen.
„Du hast mir, schneller als ich dachte, die Aufenthaltsgenehmigung beschafft. Nur eine Stunde habe ich warten müssen. Was ist eine Stunde, gemessen am Leben eines Roma, der bleiben darf in Bayern?“
„Ich habe mit ihm Liebe gemacht, damit er das Formular unterschreibt. Ich mag Dich. Vom ersten Augenblick an.
Ehrlich. Als ich Dich sah, Deine Stimme hörte, die so optimistisch klang. Aber es geht nicht mit uns beiden.“
Das Licht in der Lampe an der Wand flackert. Geht aus und wieder an. So wie mein Herz, das buppert und innehält. Dann wieder buppert und mich treibt. Rauszulassen, was ich loswerden muss:
„Ich liebe Dich Jelena und alles wird gut. Du warst eine für andere Männer. Jetzt wirst Du meine Frau. Wir werden heiraten, eine kleine Wohnung finden. Ich studiere tagsüber und samstags treten wir beide auf dem Markt in Salzburg als Duo auf. Ich spiele die Geige und Du singst dazu. Lieder der Roma. Deine schöne Altstimme wird bei Zuhörern Liebe und Sehnsucht wecken. Sie berühren und großzügig spenden lassen. So werden wir Geld verdienen, sodass wir davon leben können. Und Du keine fremden Männer mehr brauchst.
Eines muss ich Dir noch sagen, damit zwischen uns alles klar ist: Ich sollte eine Jelena heiraten und wollte es nicht. Weil ich sie nicht liebte. Noch nie liebte ich ein Mädchen.
Ich liebte meine Geige. Musizieren wollte ich, um glücklich zu sein. Jetzt aber liebe ich Dich und bin so glücklich wie noch nie in meinem Leben. Dich will ich zur Frau. Rôm und Jelena. Das passt doch zusammen wie …“
Es fällt mir kein Beispiel ein. Was könnte es sein? Hut auf dem Kopf? Zu banal. Faust auf Auge? Zu brutal. Herz auf dem richtigen Fleck? Wort zur rechten Zeit? Stimmt alles, nur klingt es nicht. Geigen und singen?
„Ja, geigen und singen, das passt zusammen. Musik wird unser Leben bestimmen. Zwei, die alte Roma-Lieder singen und neue erfinden. Ich auf den vier Saiten meiner Geige. Du mit Deiner schönen Stimme. Klingt wie Geigenton, wenn Du sprichst. Heißt es doch, Geigenton singt, als sänge eine Frau. Nichts klingt schöner als beide zusammen. Wie das Duo, das Niccolò Paganini für zwei Geigen komponierte. Verzeih, Du kannst es nicht kennen.“
Während ich redete, unentwegt redete, hatte Jelena nur vor sich hin gesehen. Ein Lächeln ab und zu, das mich hoffen lässt. Jetzt wischt sie mit einer Hand meine Träume weg, wie Seifenschaum von der Schürze: „Ich will es nicht. Punkt. Basta!“
Als hätte mir einer seine Faust vor den Kopf geknallt. Die Sprache verschlug ʼs mir vor Schreck. Sehe sie an, ist es noch Jelena? Dieselbe Jelena, die mich eben noch geküsst? In mir die Liebe geweckt? Liebe, wie ich sie noch nie empfand. Mein ganzes Denken und Fühlen beherrscht. Punkt! Basta sagte sie und ihr Gesicht sah aus wie das einer Richterin, die das Todesurteil verkündet. Ich niedergeschlagen, den Tränen nahe. Alles ist aus. Aus, aus. Kein Maharadscha kann mich retten.
„Ich habe eine Krankheit und will Dich nicht anstecken. Wir könnten, selbst wenn wir es wollten, nicht miteinander schlafen. Mann und Frau sein, Kinder bekommen. So sehr ich mir Kinder wünsche. Aber es geht nicht, bedaure.“ Hebt ihr Glas: „Nun stoßen wir an auf zwei, die sich vornehmen, einander zu lieben und gleichzeitig nicht zu lieben. Prost Enis.“
Das Glas auf dem Tablett vor Augen. Ein Glas, das ich jetzt nehmen müsste, um ihr zuzuprosten. Auf das Ende eines Traums zu trinken. Am liebsten möchte ich es an die Wand schleudern. Sodass es zersplittert in abertausend gläserne Geschosse. Jelena und mich tötet. Und alles, was hier herumsteht, liegt in diesem Zimmer unter einem Haufen gläserner Splitter begraben.
Dann wie gelähmt. Enttäuscht, verraten. Rausgeworfen aus dem Paradies. Das ich mir vorstellte und jetzt keines mehr ist. Hier lachen vier Wände mich aus, rot, brennend rot ihre Farbe. Rot wie Klatschmohnrot. Die Lippen der Frau, die mich küsste und dann nichts mehr von mir wissen will. Dasselbe Mädchen, das den Bürgermeister verführte, meinen Antrag zu unterschreiben. Macht sie es so bei allen Männern? Mal nimmt sie Geld, mal keines. Stattdessen darf sie Sekretärin sein. Es will mir nicht in den Kopf, Jelena eine Hure? Nein. Nein. Ich muss mich irren. Auch wenn sie selber sagte, sie gebe sich Männern hin. Einer hat sie angesteckt. Bestimmt ist sie das Opfer einer Gewalttat.
Mich liebt sie sicher, sonst hätte sie mir nicht so schnell die Genehmigung besorgt. Mich nicht geküsst. Ganz freiwillig, ohne dass ich sie dazu zwang. Schreie sie an: „Wer bist Du Jelena wirklich? Ich muss es wissen.“ Sitzt noch neben mir.
Schluchzt und weint und weint.
„Ich tue, was sie sagen. Zwingen mich, ihren Schwanz in den Mund zu nehmen. Machen es solange, bis es spritzt. Mein Mund voll von ihrem Schleim. Schlucke, um es nicht zu schmecken. Schrecklich scheußlich, aber ich lass sie ihren Drang loswerden, um Geld zu verdienen. Damit ich überhaupt leben kann. Ein Zimmer mieten und zu essen habe. Anschließend dusche ich mich eine Stunde. Um mich besser zu fühlen. Aber es hilft nicht. Schäme mich, als hätte mich einer ertappt. Obwohl es niemand sieht oder weiß. Außer Dir jetzt. Du bist mein Beichtvater. Verzeih.“
In ihren Augen glimmt die Andeutung eines Lächelns. Aufleuchtet zwischen zwei Tränen und dann nicht mehr. Nach Maharadschas hat sie mich nicht mehr gefragt.