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Was erwartet uns im Mai?
ОглавлениеAlles blüht, die Sonne scheint. Lässt hoffen. Lese eine Überschrift in der Zeitung, die Interessantes verspricht: «Bayern hat seine Grenzen für Sinti und Roma geöffnet». Neues werde ich erfahren, vielleicht auch in Büchern lesen, was es hier nicht gibt. Eine neue Welt wird sich dort auftun. Papa ließ mich den ganzen Artikel laut vorlesen, nachdem er alle Nachbarn dazu gerufen hatte. Als ich fertig war, redeten alle durcheinander, lachten und riefen: „Wann fahren wir?“ „Alle zusammen oder nacheinander?“ „Nehmen wir die Tiere mit?“ „Den Rosenstrauch, den wir pflanzten?“ „Müssen wir uns abmelden bei der Polizei? Oder bei Nacht und Nebel verschwinden?“ „Ich bleibe hier“, beharrte mein Großvater und zündete sich eine Zigarre an. Die letzte aus seinem Etui. Als wollte er hier sterben. Je älter Menschen werden, umso mehr hängen sie an dem, was sie kennen und wertschätzen. An Orten zu sterben, die sie lieben.
Soviel hatte ich schon begriffen. Ein Haus haben wir Roma nicht, ein Auto schon gar nicht. Außer Pferd, Wagen, Hausrat und Musik-Instrumenten nur das, was wir am Leibe tragen. Und etwas, was klein ist, in den Beutel der Frau oder in die Hosentasche des Mannes passt. Ein Zigarrenetui zum Beispiel. Eine Mundharmonika.
Wir bleiben, bis wir Genaues wissen. Zeitungsmeldungen sind oft nur Enten. So sagt man doch, wenn nicht stimmt, was sie schreiben. Oder? Bald werde ich achtzehn. Bei uns Roma bin ich dann volljährig. Kann selbst bestimmen, was ich tun will. Wohin ich reise, wie ich meine Tage verbringe. Mit welchem Mädchen ich spazieren gehe. Oder lieber allein im Wald Hirsche beobachte, wenn sie gegeneinander kämpfen. Die Hirschkuh abseits im Wald, erwartet den Sieger. Oder Heidelbeeren pflücke und verdrücke, eine nach der anderen. Die Strahlen der untergehenden Sonne beobachte, wenn sie wie Langfinger Baumstämme abtasten. Als suchten sie mich.
Ich aber will studieren. Auf einer Musik-Akademie. Mein Geigenspiel verbessern. Bis ich so gut bin wie der Spanier Pablo de Sarasate war. Ich hatte einiges über ihn gelesen.
Jeden Groschen gespart, den ich nicht abgeben musste nach einem Spiel in der Stadt. Und billige Bücher gekauft, die es in sogenannten Antiquariaten massenweise gibt. Sie heißen so, weil ihre Bücher alt sind und unmodern. Verstaubt, die Seiten eingekniffen, mit Bleistift an den Rand gekritzelte Bemerkungen. Die Meinung des vorigen Lesers zum Thema verraten, konnte ich sie entziffern. Wissbegierig geworden, will ich lernen, was ich nicht weiß. Neues zu entdecken entspricht meiner Natur. Wie der Geige immer neue Töne zu entlocken. Töne, die wie Sehnsucht klingen. Nach allem, was dauert und nicht stirbt. Lebendig ist und unser Leben beeinflusst.
Lese Bücher über eine längst vergangene Zeit, die man Antike nennt. Daher der Name Antiquariat. Am liebsten solche über die Geschichte der Völker, ihre Kultur und Kunst. Das antike Griechenland. Gräber der Etrusker. Roms Weltmacht. Goethes Reise nach Italien. Lebensläufe von Johann Sebastian Bach, Händel, Mozart und Gustav Mahler. Musik-Lexika, in denen auch Violinkonzerte beschrieben sind. Mit Auszügen aus Partituren, sodass ich sie spielen konnte. Wenn ich berühmt bin, kann ich mir alle Notenbücher der Welt leisten. Und spielen in den Konzerthäusern von Wien, Berlin, London und New York.
Papa eines Morgens: „Mein lieber Enis, ab heute bist Du volljährig und heiratsfähig.“ Oh je, vergessen. Aber besser den eigenen Geburtstag als den von Mama oder Papa.
„Eine Braut haben wir für Dich bereits ausgesucht. Jelena, die Tochter unserer Freunde hier am Platz. Sie ist etwas jünger als Du, kann aber gut kochen, stricken, nähen und Kleider flicken. Wie mir ihre Eltern versicherten. Außerdem hat sie noch sechs Geschwister. Beweis dafür, dass in ihrer Familie viele Kinder geboren werden. Du bist leider ein Einzelkind geblieben. Gott hat es so gewollt.“ Sieht meine Mama an, die nickt. Gottergeben wie es scheint. Überrascht von diesem Überfall weiß ich nicht, was ich darauf sagen soll. Dann platzt es aus mir heraus:
„Bin ich volljährig, wie Du sagtest, oder bin ich es nicht?“
Warte seine Antwort nicht ab. „Kann also selbst bestimmen, welche Frau ich heirate. Und ob überhaupt: Damit Ihr ʼs wisst, ich werde jetzt noch nicht heiraten. Zuerst Musik studieren im Geigenfach an einer Akademie oder Universität. In München, Nürnberg oder Augsburg. Sobald wir bayrischen Boden betreten haben. Jeder von uns die Genehmigung, im Lande zu bleiben. Habe ich sie in der Tasche, bin ich weg“.
In Österreich hatten wir vor Jahren relativ leicht Plätze gefunden, auf denen wir bleiben durften. Die Posten an der Grenze ließen alle durch, die sich nicht auffällig benahmen. Aus der Hosentasche ein postkartenkleines Papier herausziehen genügte. Grenzer glauben zu lassen, es sei eine amtliche Bescheinigung. Wir willkommen mit unseren Instrumenten. Menschen, die Geige, Gitarre, Kontrabass, Flöte oder Akkordeon spielen, können nicht böse sein. Es schien ein freiheitlicher Geist eingekehrt. Der Erzherzog ein kunstliebender Mann. Holte berühmte Musiker an seinen Hof. Aus allen Ländern Europas die besten. Sogar «Jascha Heifetz» aus New York angereist. Der derzeit weltbeste Geiger ist in Schönbrunn aufgetreten. Und alle, die es sich leisten konnten, sind dorthin geeilt. Sogar mit einem Stehplatz zufrieden gewesen. Denn ausverkauft waren die Konzerte bereits Wochen vorher. Wozu ein Bericht in der Zeitung alles gut ist. Bestärkt es mich in meinen Plänen. Heiraten jetzt? Nie und nimmer!
„Du kannst nicht einfach tun, was Dir passt.“ Mein Papa aufgebracht, wie ich ihn nicht kenne. „Volljährig hin, volljährig her. Auf Deine Eltern musst Du Rücksicht nehmen. Wünsche erfüllen, die ihnen Herzensanliegen sind. Wie diese Heirat. So wie wir Deine erfüllten, wenn sie Dir Freude bereiteten. Ein Notenheft mit Bach-Sonaten schenkten, als Du es Dir wünschtest. Liebst Du uns denn nicht mehr?“ „Aber doch liebe ich Euch, Dich meinen Vater und meine Mutter. Von ganzem Herzen liebe ich Euch.“
Denke im Stillen, ich liebe aber auch mich. Meine Wünsche will ich mir erfüllen. Darf ich es nicht, tut es weh, sehr weh. Mehr als es Eltern weh tut, geht ein Kind aus dem Haus. Es ist der Lauf der Dinge, seit Menschen Kinder kriegen. Sie selbst sind ja auch gegangen. Von Klagen ihrer Eltern haben sie mir nie etwas erzählt. Außerdem, was soll ich mit einer Jelena anfangen, die nicht mit mir redet? Schon länger nicht. Nicht mal mit mir Pingpong spielt, liebt sicher einen anderen. Meiner ganz sicher rutscht mir spontan heraus:
„Jelena ist doch bald volljährig, frag sie doch, ob sie mich heiraten will. Sagt sie Ja, heirate ich sie. Sagt sie Nein, ist Deine Liebesmüh ohnehin für die Katz“. Damit hatte mein Vater nicht gerechnet. Sehe Augen funkeln, zornig und beleidigt gleichermaßen. „Das werden wir gleich sehen.“ Stiefelt davon und war nach wenigen Minuten zurück: „Sie hat nein gesagt.“
Hurra ich habe gewonnen. Rau die Stimme meines Papas: „Aber ich habe ihren Eltern klar gemacht, wenn sie meinen Sohn nicht heiratet, werde ich dem Pfarrer melden, dass sie mit einem Freund geht, obwohl sie noch nicht volljährig und verheiratet ist.“ So hatte ich meinen Erzeuger noch nie erlebt. Schäme mich für ihn. Hätte es rückgängig gemacht, wäre es möglich. Jelena liegt den ganzen Tag auf der Matratze. Heult und will nichts essen. Sie tut mir leid, aber wie kann ich ihr helfen? Ihre Eltern müssten es besser wissen. Meine haben mich bisher immer beraten, gesagt, was gut ist für mich oder nicht. Bis jetzt war ich zufrieden. Nun ist alles anders, auch bei uns. Mein Papa ein Denunziant, meine Mama schweigt. Und ich?
Dunkle Regenwolken über uns, dem ganzen Clan hier in Kirchschlag. Dämmrig wird ʼs früher als sonst, kommt mir vor. Zünde das Feuer an fürs Abendessen. Mama hat ein Huhn geschlachtet, ohne ein Wort zu verlieren. Gerupft und ausgenommen, gewürzt mit Thymian, wie ich es kenne und liebe. Aber freuen kann ich mich nicht. Bisher hatten wir beim Essen am stärksten das Gefühl, wir gehören zusammen. Niemand kann uns trennen. Was immer passiert von außen. Jetzt geht ein Riss durch unsere Familie. Riss, der tief geht. Papa auf der einen, ich auf der anderen Seite. Und Mama irgendwie dazwischen. Ich werde nach dem Essen mit ihr reden, wenn Papa hinunter an den Bach gegangen, seine Pfeife zu rauchen.
Mama schweigt, sieht mich an mit traurigen Augen. Weiß nicht recht, wie ich anfangen soll: „Liebe Mama, ich kann mir gut vorstellen, dass Du jedem von uns Recht geben möchtest, Papa und mir. Du respektierst ihn als Oberhaupt der Familie und liebst mich, Dein einziges Kind. Er will mich unbedingt mit Jelena verheiraten. Und ich will nicht. Jetzt hat sie nein gesagt und das Dilemma ist groß. Papa kriegt sie nicht und ich auch nicht. Selbst wenn ich sie hätte heiraten müssen, weil ich es versprochen. Sie will nicht. Liebt ihren Freund und will ihn heiraten, wenn ihre Eltern es erlauben.“
Weiß im Moment nicht, was ich noch sagen soll. Keine Idee, was ich wirklich hören will. Da spricht Mama schon.
Mit leiser Stimme, als dürfte es niemand hören außer mir:
„Du hast Recht, ich will allen immer zu Gefallen sein. Jeden wissen lassen, seine Meinung ist auch meine. Ihm das Gefühl geben, ich liebe ihn und vertraue ihm. Bloß keinen Streit provozieren. Haben genug Ärger mit anderen. Als ich mit Dir schwanger war, hat Dein Vater mich regelrecht verwöhnt. Als liebte er mich. Vielleicht war es auch sein schlechtes Gewissen, das ihn trieb. Egal, ich fühlte mich umsorgt. Und es war gut so.
Er kochte mir leckeres Essen. Wusch die Wäsche. Bat die Nachbarin, einzukaufen, damit er bei mir sein konnte.
Spielte nur für mich auf seinem Akkordeon. Brachte mir jeden Tag eine frisch gepflückte Wiesenblume. Durfte nichts Schweres tragen. Er nahm es mir ab, sobald er mich sah. Sagte: Ich möchte, dass wir noch viele Kinder bekommen. Und Du nicht einen Tag, nicht eine Stunde darunter leiden musst. Und dann kamst Du.“
Mama schweigt und scheint nachzudenken. Ihre Augen werden feucht: „Ein Jahr später wurde ich wieder schwanger. Hatte aber schon bald Beschwerden. Mir war, als bewegte sich etwas in meinem Leib. Dann wieder fühlte es sich an, als wäre es ein Stein. Schwer wie ein Kilogewicht. Alles zog nach unten. Einen richtigen Arzt konnten wir uns damals nicht leisten. Zu einem Quacksalber wollte ich nicht. Wer weiß, was mir dann passiert wäre. Wenn der mit einer Zange oder sonst was in meinem Leib herumgestochert. So quälte ich mich sieben Monate mit etwas herum, das ein Kind werden sollte. Bis eines Tages Dein Papa nicht mehr mitansehen konnte, wie ich litt. Holte die Hebamme aus dem Dorf, die Mitleid mit mir hatte. Mich untersuchte, ohne Geld dafür zu verlangen. Holte einen kleinen Körper aus mir heraus. Es war ein Mädchen, tot“.
Mama seufzt, die Augen geschlossen. Als wollte sie nicht sehen, was sie damals sehen musste. Wischt mit der Hand die Tränen weg. Versuche mir vorzustellen, wie ein Baby wohl aussieht, wenn ʼs noch nicht fertig ist?
„Ich habe mit Deinem Vater danach lange Zeit nicht geschlafen. Du bist jetzt volljährig und sollst es wissen.“ Hebt den Kopf, ihre dunklen Augen begegnen meinen: „Mann und Frau müssen sich ganz nahe sein, sich sehr lieben. Miteinander schlafen, so sagt man. Weil es meist im Bett geschieht. Siehst Du Deine Frau nackt, bevor sie das Nachthemd anzieht, erregt es Dich. Auch, wenn ihre Hand Deinen nackten Körper berührt. Dein Glied wird kräftig und steif und Du hast Lust, es in den Leib der Frau hineinzustoßen. Weißt noch nicht wie. Gelingt es Dir, steigert sich Deine Lust und Dein Glied stößt Samen aus. Damit er ein Ei im Leib der Frau befruchtet. Gott hat uns so erschaffen, damit daraus ein neuer Mensch entsteht. Schwanger ist die Frau dann. Während neun Monaten entsteht aus Same und Ei in ihrem Bauch ein Baby. Sicher hast Du schon schwangere Frauen gesehen. In ihren letzten Schwangerschaftswochen wird ihr Bauch zusehends dicker. Niemand kann es übersehen. Die meisten freuen sich. Andere sagen: oh je, schon wieder.
Gott hat nicht gewollt, dass wir noch mehr Kinder bekamen. Aber Du, mein lieber Enis, wirst uns mit vielen Kindern glücklich machen. Denn sie sind die Zukunft unseres Volkes. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen, dass Du die richtige Frau findest. Die Dir beibringt, zu lieben. Wie Mann eine Frau lieben muss. Damit sie bereit und in der Lage ist, öfter als einmal neun Monate Schwangerschaft auszuhalten. Seid beide glücklich, wer auch immer Deine Frau ist.
Noch eines: Es gibt auch Roma Frauen, die eine Frau lieben und Männer einen anderen Mann. Fasziniert vom Körper des anderen. Natur hat es in ihnen so angelegt. Lass Dich nicht dazu herab, sie als Lesbe oder Schwule zu beschimpfen. Sie sind Roma wie Du und ich. Schlimm genug, was andere ihnen antun.“
„Danke für Dein Vertrauen Mama, mir zu sagen, was auch mich als Mann erwartet. Aber ich werde erst studieren, als Geigenspieler mehr Geld verdienen als alle Roma-Väter zusammen. Bevor ich eine Frau suche. Mit ihr schlafe, um Kinder zu zeugen. Hoffe, Du wenigstens verstehst mich. Papa ist ja geradezu besessen, mich zu verheiraten. Ich liebe Euch beide, aber ich liebe auch mich. Es wird etwas Großes aus mir werden, spüre es und bin ganz sicher, dass es auch Euch gefällt.
Eines Tages wird die rastlose Wanderschaft ein Ende haben. Ihr werdet wie ich ein Haus besitzen. Papa einen Beruf ausüben, der ihn befriedigt. Könnte mir vorstellen, Ihr eröffnet einen Laden mit Zigeunerartikeln. Die Leute sind ja regelrecht verrückt auf solche Sachen. Jetzt nach dem Krieg begehrt wie Schmuck aus Silber und Gold. Die Zeit der Uniformen ist vorbei. Jede Vorstellung in der Oper ausverkauft, in denen Zigeuner eine wichtige Rolle spielen: «Carmen», Trovatore», die Operette «Zigeunerbaron». Bunte Kleider, Jacken, Schals in Mode. Für Roma typische Instrumente, Geigen, Harmonikas und Gitarren finden reißenden Absatz.“
Draußen vor der Polizeistation von Kirchschlag sehe ich ein Plakat, das freien Grenzübergang nach Bayern anzeigt. Wahrscheinlich haben sie es ausgehängt, weil sie uns loswerden wollen. Egal, wir packen. Alle packen, rufen sich Mut zu. Auf geht ʼs ins gelobte Land. Wie Juden in die Heimat ihrer Vorväter, kommt mir vor. Papa noch mürrisch, schweigt. Packt den Hausrat, die Wäsche und sagt kein einziges Wort. Spannt die Pferde vor, schweigt immer noch. Ein zweites musste sein, denn unser Wagen ist schwer mit dem Anhänger. Voll gepackt mit Töpfen, Pfannen und Geschirr in Kisten. Hühner und Enten.
Eine Gans kam zuletzt noch dazu. Abschieds-Geschenk eines Kroaten, der vor dem Krieg schon einwanderte. Und schon bald als Bürger akzeptiert. Der Geflügelzüchter versorgte die Metzgereien mit den beliebten Hühnern. Auch uns brachte er jede Woche ein Huhn. Später Küken, die wir fütterten, bis sie schlachtreif waren. Sahen wir uns, redeten wir mit ihm Kroatisch. Über das Wetter, die politischen Verhältnisse. Ein ehemaliger Frontsoldat aus Braunau am Inn soll in Bayern auftreten und schwören, Deutschland wieder zu bewaffnen. Rache zu nehmen an den ehemaligen Kriegsgegnern. Wütend auf alles und jedes, wenn er redet und mit den Fäusten droht. Wahrscheinlich, weil sich die Kunstakademie in Wien weigerte, ihn zum Kunstmaler auszubilden. Er sei nicht begabt genug.