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Wer bin ich? Wie sehen mich andere?

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Laut Melderegister in Österreich heiße ich Enis Badžo. So steht es tintenblau auf Weiß in den Akten. Und auf dem Papier, das wir immer bei uns haben müssen. Abgestempelt und bestätigt von einem gewissen Herrn Myrhff, wenn ich es richtig entziffert habe. Ja, diese Art Unterschriften sind wichtig in einem Beamtenstaat. Unleserlich, mit so viel Schnörkeln, als wollten sie einen Schreibkunstpreis gewinnen. Aber unleserliche Hieroglyphen. Woher ich dieses Wort habe? In Wien besuchte ich vor kurzem eine Ausstellung über Ägypten. An einem Tag der offenen Tür, der Eintritt gratis. Auf großen Tafeln stand, was eine Mumie ist und die Schrift darunter bedeutet. Diese für uns unlesbaren Schriftzeichen nennt man Hieroglyphen.

Meine Eltern sind Roma. Bin ihr einziges Kind. Einer von denen, die man hier Zigeuner nennt. Weil sie anders aussehen. Nicht in Häusern wohnen. Von Land zu Land ziehen, von Ort zu Ort, eine Heimat zu finden. Blicke ich in den Spiegel, erkenne ich den typischen Roma. Meine Haut nicht weiß, sondern dunkel. Nicht wie die von Afrikanern, die man Schwarze nennt. Heller wie gebrannte Siena auf der Künstlerpalette. Oder gegerbtes Leder von Tierhäuten. Meine Augen sind Dunkel. Von einem Schwarz, das leuchtet von innen her. Die Haare schwarz, mal lang wie sie wachsen. Mal kürzer geschnitten. Rasiert habe ich mich noch nicht wie mein Papa. Unsere Sprache ist anders. So anders, dass wir uns nur untereinander verständigen können. Deshalb lernen wir die Sprache des Landes, in dem wir ankommen auf unserer Pilgerfahrt.

Ja, unterwegs sein ist unser Leben. Nur vage ein Ziel vor Augen: Ankommen, wo auch immer es sei. Ankommen und bleiben dürfen. Pilgern jedes Jahr nach «Saintes-Maries-de-la-Mer» an der Rhone-Mündung. Ein symbolträchtiger Ort. Denn unsere Schutzheilige, die «Schwarze Sara», wie wir dunkelhäutig, liegt dort begraben. Floh aus Äthiopien, fand Arbeit in Jerusalem. Diente zwei Jüngerinnen Jesu als Magd. Begleitete sie nach dessen Himmelfahrt auf ihrer Reise bis in dieses Fischerdorf am Mittelmeer. Um von da aus die Franzosen zum Christentum zu bekehren.

Aus vielen Ländern Europas reisen Roma und Sinti einmal im Jahr dort hin. Versammeln sich am 24. Mai vor der Kirche. Beten in der Krypta und schmücken die Statue ihrer Sara mit neuen, selbst geschneiderten Kleidern. Tragen sie in einer langen Prozession* auf den Schultern. Singen «vive la Sara» und «vive les Saintes Maries.» Bis Meereswellen ihre Knie umspülen. Das Meer ist Weg und Ziel im Irgendwo.

Als ich Vierzehn war, begann ich das Schicksal der Roma, das auch meines ist, aufzuschreiben. Es war etwa Mitte Februar 1926, als sich Unerwartetes, Eindrucksvolles ereignete. Beim Herumstromern im Wald entdeckte ich eine Hütte aus Reisig. Kaum erkennbar im dichten Unterholz. Vorsichtig sah ich hinein und entdecke im Schein einer Kerze einen alten Mann. Älter noch als mein Großvater. Schlohweiß sein langes Haar, das bis auf die Schulter fiel. Erfahrung eines langen Lebens in den Falten seines Gesichts. Ein Buch vor sich, in dem er zu lesen schien. Blickte kurz auf und sagte:

„Setze Dich zu mir. Ich werde Dir aus diesem Buch vorlesen, was Du wissen musst. Wenn Du die Welt begreifen willst. Gott hat das Universum erschaffen, den Himmel und die Erde. Der Himmel aber ist weit weg. Wir Menschen können nur glauben, dass es ihn gibt – oder nicht. Die Erde aber müssen wir verstehen und gestalten nach unseren Vorstellungen. Damit wir auf ihr und von ihr leben können. Voraussetzung dafür ist, alles zu studieren, was auf der Erde, in der Luft und im Wasser lebt. Sich ständig verändert und doch immer dasselbe bleibt. Apfel ein Apfel. Meise eine Meise. Forelle eine Forelle. Mensch ein Mensch. Übrigens das einzige Lebewesen, das gut mit schlecht verwechselt. Und umgekehrt. Wenn es für ihn von Vorteil ist.

Von allem gibt es Bücher, die weise Männer geschrieben. Ich lese gerade eines von Nostradamus, der im Frankreich des 16. Jahrhunderts lebte. Zahllose Gedichte schrieb, das Evangelium deutete, die Gleichnisse. Unwetter vorhergesagt und den Untergang der Welt im Jahre 1999. Das zweite Jahrtausend wird nicht zu Ende gehen, wenn dies geschieht. Ein Menschenleben noch bis dahin. Du kannst es glauben oder leugnen. Dich darauf vorbereiten oder nicht. Du wirst es vielleicht erleben. Ich nicht. Bis dahin habe ich längst das Zeitliche gesegnet.

Lehrreich auch Nostradamusʼ Erkenntnisse als Arzt und Apotheker. Kurzum, es gibt genug Möglichkeiten, sich klüger zu machen als die meisten Menschen. Obwohl sie, Gott sei ʼs geklagt, sich für die klügsten aller Lebewesen halten. Ohne je ein Buch gelesen zu haben.

Mein Rat an Dich: besorge Dir so viele Bücher wie Du kannst. Auch Du kannst nie genug wissen. Um am Ende zu begreifen: der Mensch ist das, was er weiß. Und aus diesem Wissen das Beste macht. Schreib auf den Sinn dessen, was Du gelesen hast. Erst mit deiner Hand geschrieben wird es zum Gesetz, dem du folgen musst. Willst Du Dich selbst nicht verraten. Vergiss nicht, Dir eigene Gedanken dazu zu machen. Ein jeder hat seine eigene Auffassung von der Welt. Vergleiche und überprüfe Deine jeden Tag, den Du lebst. «Erkenne Dich selbst» galt schon vor fast dreitausend Jahren im antiken Griechenland. Am Fries des Tempels von Delphi in Stein gemeißelt. Nur dann kannst Du anderen gerecht werden.“

Taumelte nachhause, verwirrt und glücklich. Ich werde in Buchhandlungen nach ausrangierten Büchern suchen, weil sie fast nichts kosten. Den Verkäufer nach den interessantesten fragen. Über das Weltall, die Gestirne, Menschen, Völker und ihre Geschichte, das Leben der Tiere. Und alles, was es über Musik gibt. Ich werde sparen wo ich kann. Taschengeld nur noch für Bücher ausgeben. Meine Eltern bitten, mir Geld zu schenken statt neue Stiefel. Nachbar Schabo kann die alten flicken und ich mir ein, zwei Bücher kaufen. Und tausend Blatt weißes Papier, Bleistifte jede Menge. Nie werde ich diesen Satz vergessen: kaufe Bücher so viel du kannst und schreibe auf, was du gelesen und daraus gemacht hast.

Jetzt ist mein Blick für Gedrucktes wach. Unbekanntes wird bekannt werden. Geträumtes wirklich. Die Chance, Neues kennenzulernen, fasziniert mich. Sie wird mich zu den verrücktesten Ideen inspirieren. Visionen, die mein Leben erst lebenswert machen. Ob sie jemals Wirklichkeit werden, weiß ich nicht. Aber träumen von Möglichkeiten ist schöner als alles, was wirklich ist. Mögen andere mich auch für einen Spinner halten, einen Tagträumer. Oder einen, der sich einbildet, etwas Besonderes zu sein. Nur weil ich die Geige perfekt spiele, seit ich sechs bin?

Ob sie Recht haben oder nicht: Ich ahne, alles ist möglich, wenn ich es mir wünsche: Eines Tages werde ich der beste Geiger der Welt sein.

Bevor ich mit dem Aufschreiben beginne, erinnere ich mich an das, was ich als Kind erlebte. Lernte auf der Geige zu spielen. Spiele sie perfekt seit ich Sechs bin. Sehr gut sogar, wie mir sagen, die mich schon mal gehört. Könnte ein zweiter Niccolò Paganini werden, oder Pablo de Sarasate. Mein Vater konnte das Instrument auf einem Flohmarkt billig erwerben. Schenkte es mir zum meinem sechsten Geburtstag. „Nun übe mal fleißig“, sagte er und sah mich ernst an. „Wir müssen besser sein als die anderen“. Erinnere mich noch genau: Besser muss ich sein.

„Freund Djamel wird dich unterrichten. Er spielt die Geige wie Paganini. Habe ihn zwei Mal pro Woche für zwei Stunden engagiert. Eine Dose Tabak kriegt er dafür.“ Meistergeiger wie Paganini kannte ich nur vom Hörensagen, woher sonst? Bei uns wird nur musiziert und nicht nach Namen von Komponisten oder Solisten gefragt. Die meisten Stücke und Lieder spielen wir schon seit Jahrhunderten. Noten brauchen wir keine, kennen alle unsere Lieder und Tänze auswendig.

Beim ersten Unterricht brachte Djamel ein Notenheft mit. Übungen für Anfänger, sagte er mir. Schrift konnte ich erst ein Jahr später lesen. Meine Mama brachte es mir bei. Aber die Punkte auf dünnen, fünf parallelen Notenlinien fand ich sofort lustig, als ich sie sah. Wie Ostereier am Stiel. Weiße mit und ohne Stiel und schwarze. Tanzten mal rauf, mal runter. Immer im Takt zwischen zwei senkrechten Linien. Allein, zu zweit, zu dritt miteinander verbunden. Lustig fand ich es und lernte, die Finger meiner linken Hand zu bewegen. „Nur die Finger, nicht die Hand“, sagte Djamel. Er spielte es mir vor, bückte sich, damit ich seine Finger von oben sehen konnte. Die Stelle der Saite, auf die er drückte.

In rascher Folge auf eine der vier Saiten. So dass ich jedes Mal einen anderen Ton hörte, strich er mit dem Bogen darüber. Habe sofort herausgehört, dass die dickste G-Saite dunkel klingt, die dünnste E-Saite hell. Dazwischen abgestuft die D- und A-Saite. GDAE wird abgestimmt vor jedem Spiel. Lernte, der Abstand zwischen den Saiten muss exakt fünf Töne der Tonleiter betragen. Quinte sagt man dazu. Muss vor jedem Spiel gestimmt werden. Ohne ein gutes Gehör gelingt es nicht. In der dritten Woche schon konnte ich kurze Stücke in C-Dur und G-Dur sauber spielen. Nach der sechsten kam Djamel nicht wieder. Mein Vater sagte zu mir: „Jetzt gehen wir beide musizieren. Ich auf meinem Akkordeon und Du auf Deiner Geige.“

Mit der Zeit wurde ich besser. Meine Eltern lobten mich, die Freunde. Sogar der Oberlehrer, der ein- oder zweimal in der Woche nach Schulschluss kam. Uns Kinder in Deutsch und Mathematik zu unterrichten. Die deutsche Grammatik zu lehren und den Dreisatz. Zwischendurch ließ er mich ein Lied auf der Geige spielen. Es lockere den Geist, sagte er, macht Spaß zu lernen. Wir lebten damals schon in Österreich nahe Wien.

„I bin der Kränzler Josef“, stellte er sich meinen Eltern vor. „Komme zu Ihnen, alldieweil eure Kinder nicht in die öffentliche Schule dürfen. Gott würde es mir nicht verzeihen, ginge ich nicht zu den Kindern. Umkehrt wie ʼs in der Bibel steht“. Lachte „ha, ha“ und setzt sich auf den einzigen Sessel in unserem Wagen. Hob die rechte Hand wie Jesus im Tempel von Jerusalem, bevor er zu sprechen begann.

Wir hockten zu seinen Füßen, neugierig wie Kinder sind. Bei warmem Sommerwetter fand der Unterricht draußen statt. Saßen im Halbkreis um den Lehrer auf der gemähten Wiese. Er zog Stiefel und Socken aus. Warf sie in hohem Bogen hinter sich. Hielt den rechten Fuß hoch und bewegte seine Zehen, als tippten sie auf Tasten: „Wieviel Zehen hat der Fuß? Ein, zwei, drei, vier und?“ „Fünf!“ Schrien wir.

„Und zwei Füße?“ „Zehn!!!!“

So führte er sich bei uns sechs- bis zwölfjährigen Jungen und Mädchen ein. Wir fanden es lustig und dachten, es ginge so weiter. Noch keine Ahnung, dass lernen arbeiten heißt. Formeln auswendig lernen, den Dreisatz. Korrekt wie nach Noten zu spielen. Gelernt, wann groß oder klein geschrieben. Wo Zeichen gesetzt, wann Zeiten geändert. In Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft. Deutsche Sprache schwere Sprache.

Buchstaben lesen, Wörter, Sätze und ganze Geschichten brachte mir meine Mama bei, als ich Fünf war. So, wie ihre Mutter es bei ihr getan. Sie kaufte ein Heft mit Geschichten von Wilhelm Busch, einen Schreibblock und einen Bleistift. Die Bilder hatte ich sofort verstanden und mich fast tot gelacht. Die Verse musste ich Buchstabe nach Buchstaben lesen. Meine Mama las mir immer zuerst das ganze Gedicht von Wilhelm Busch vor. „Damit Du weißt, um was es geht“.

Mietze eine schlaue Katze – Molly ein begabter Hund – wohnhaft an demselben Platze – hassten sich aus Herzensgrund.

Schon der Ausdruck ihrer Mienen – bei gesträubter Haarfrisur – zeigt es deutlich: zwischen ihnen – ist von Liebe keine Spur.

Wir hatten beide und kannten ihre Art sich zu mögen. „Jetzt lesen wir die Wörter, einen Buchstaben nach dem anderen“. Mama zeigte dann mit der Bleistiftspitze darauf: „Das ist ein em, das ein i, ein e, ein te, ein zet, ein e. Zusammen heißt ʼs Mietze. Dann ließ sie es mich wiederholen, indem ich mit dem Finger darauf zeigte. Zuerst die einzelnen Buchstaben, dann das ganze Wort. Anschließend sollte ich es auf meinen Block schreiben. So konnte ich dem Bleistift folgen und lesen, was ich schrieb. Und endlich wissen, wie die Geschichte in der achten Strophe zu Ende ging. War mächtig stolz, den Inhalt auswendig nachzuerzählen, als Mama meinte, ich solle es mal versuchen.

Viel, viel später dann folgten Balladen von Schiller und Goethe. Vorher bereits, etwa nach einem Vierteljahr, konnte ich schon die Wochenzeitung lesen, Wort für Wort. Auch wenn ich das meiste nicht verstand. Mein Vater kaufte sie für zwei Groschen jeden Samstag am Stadtrand-Kiosk. Auch wenn wir vom Leben der anderen ausgeschlossen waren. Er wollte wissen, was in der Welt geschieht. Vielleicht findet sich sogar ein Artikel über die Roma.

Zurück zum Anfang. Schon bei den ersten Notizen wurde mir klar: Alles ist viel komplizierter als es mir als Kind bewusst war. Nie gespürt, dass wir Fremde sind. Mama und Papa und andere Eltern schützten uns Kinder vor der Außenwelt. Geliebt, umsorgt, unterrichtet. Und schon früh angehalten, ein Instrument zu spielen. Gut zu spielen, um später Geld damit zu verdienen. Erinnere, ich fand es spannend, im Wagen gefahren zu werden. Durch ständig sich ändernde Landschaften. Blieben wir an einem Ort, lief ich über blühende Wiesen. Barfuß, um den Kitzel zu spüren, die Nachtfeuchte am Morgen. Kletterte auf Bäume, um die Welt von oben zu betrachten. Schlösser durften wir nicht betreten. Aber ich bewunderte ihre interessante Architektur. Mit Türmen und Wehrgängen. Wüsste gerne, warum sie rundum Wassergräben angelegt. Sich vor Überfällen zu schützen? Oder züchten sie Fische und Frösche, um den Speisezettel zu bereichern? Den Mann im Häuschen neben dem Tor hielt ich für eine Puppe.

Jetzt erinnere ich auch, dass wir nirgends lange bleiben durften. Einheimische sahen uns scheel an, fuhren wir auf die Märkte in Dörfern, Städten. Um zu musizieren und ein paar Groschen zu verdienen. Sie hörten uns zu, aber niemand wechselte ein Wort mit uns. Warfen uns ein paar Groschen hin, als wären wir Bettler. Fühlten uns praktisch ausgestoßen aus der menschlichen Gesellschaft. Von denen, die ein Herz und eine Seele haben wie wir. Spüren müssten, wie wir uns fühlen.

Frage mich jetzt warum man uns nicht mag? Es muss daran liegen, dass Menschen grundsätzlich fürchten, was ihnen fremd erscheint. Menschen, die über die Grenze zu ihnen kommen, besonders. Könnten ihnen Schaden zufügen. Wegnehmen, was ihnen gehört. Anstecken mit unbekannten Krankheiten oder fremder Weltanschauung. Deshalb verachtet man sie, verjagt sie. Sodass sie gezwungen sind, ständig weiterzuziehen wie Roma, die sie Zigeuner nennen. Einer von ihnen bin ich.

Frage mich jetzt: Wer bin ich eigentlich? Ein Niemand, den keiner akzeptiert, so wie er ist? Weil er anders aussieht. Wie meine Eltern und alle, die mit uns von Land zu Land, von Ort zu Ort ziehen. Eine Heimat zu finden. Wir gehören zum Volk der Roma. Meine Haut nicht weiß, sondern dunkel. Dunkler die Augen. Von einem Schwarz, das leuchtet von innen her. Die Haare schwarz, mal lang wie sie wachsen. Mal kürzer geschnitten. Rasiert habe ich mich noch nicht wie mein Papa. Unsere Sprache ist anders. So anders, dass wir uns nur untereinander verständigen können. Deshalb lernen wir die Sprache des Landes, in dem wir ankommen auf unserer Pilgerfahrt. Ja, unterwegs sein ist unser Leben. Nur vage ein Ziel vor Augen: Ankommen. Wo auch immer es sein wird. Ankommen und bleiben dürfen.

Roma sind musisch begabt. Tanzen und singen, spielen schon früh ein Instrument. Mit Musik zu sagen, was keine Worte braucht. Sich selbst zur Freude und um Geld zu verdienen für den Lebensunterhalt. Ich spielte die Geige auch für mich, in jeder freien Minute. Wusste schon bald, Musik ist mein Leben. Träumte schon als Kind, ein berühmter Geiger zu werden. In aller Welt bekannt und geliebt. Überall da, wo wir waren und noch sein werden. Andere handwerklich begabt, versiert im Schmieden und Reparieren von Kupfergeschirr. Frauen im Nähen neuer und Flicken zerrissener Kleider. Aus Karten und Handlinien die Zukunft zu lesen. Versiert im Fach alle und trotzdem verachtet.

In katholischen Ländern besuchen wir die Messe jeden Sonntag. Seit ich denken kann, ist meine Familie katholisch. Und trotzdem mögen uns Katholiken nicht. Weil wir anders sind. Fremde, die man meiden muss. Sie könnten Krankheiten übertragen, Babys stehlen. Den Teufel beschwören und Unglück bringen. So wie wir aussehen mit unserer dunklen Haut, den schwarzen Augen.

Roma existieren praktisch nur in Melderegistern. Mit blauer Tinte eingetragene Namen. Die wir buchstabieren müssen, damit sie sie schreiben können. Beamte sind vom Staat bezahlte Maschinen, kommt mir vor. Eingestellt, zu fragen nach Namen und Daten aller Bürger, die sich melden. In einer Liste registriert, im Stahlschrank sicher verschlossen. Denn Ordnung muss sein im Staat. Wir aber sind und bleiben lediglich Buchstaben in diesen Registern.

In der Gesellschaft als Menschen aus Fleisch und Blut mit Geist und Charakter nicht anerkannt. Weil wir anders sind. Anders aussehen und nicht in Häusern wohnen. Insgeheim aber wünschen, als Menschen wahrgenommen und behandelt zu werden. Jeder einzelne von uns akzeptiert, als Bürger einer Dorf- oder Stadtgemeinschaft. Da es nicht so ist, sind wir gezwungen, von Land zu Land, von Ort zu Ort zu wandern oder in Wagen zu fahren. In der stillen Hoffnung, irgendwo auf der Welt ein Mensch unter Menschen zu sein.

Bunt sind unsere Kleider, aus verschiedenen Stoffen genäht, fantasievoll bestickt, nicht nur aus Not. Denn wir lieben die Improvisation, das Fantastische. Wenn uns andere schon nicht mögen, lieben wir uns selber umso farbenprächtiger. In einigen Ländern Europas nennt man uns deshalb Zigeuner, obwohl wir Roma sind. Zigeuner mag niemand leiden, vielleicht, weil sie sich fürchten. Wie vor allen, die umherziehen. Nicht wie sie in Häusern wohnen. Mit Mauern, Zäunen oder Hecken ringsum abgegrenzte Festungen. Wir Roma hoffen, eines Tages anzukommen, wo man uns bleiben lässt. Häuser bauen, die sich nicht abkapseln. Kein Zaun, keine Hecke. Offen für Jedermann. Österreich scheint uns willkommen zu heißen.

Bei den Habsburgern wird alles geregelt und schriftlich bestätigt. Unterschrieben und gestempelt. In deutschen Landen sollt es noch genauer gewesen sein vor dem Krieg. Bis auf das Tüpfelchen auf dem i. Preußisch korrekt heißt es im anderen Europa und rümpft die Nase. «Leben und leben lassen» die Devise südlich der Alpen.

Immer noch hängen Kaiserfotos an den Wänden der Amtsstuben. Wie vor 1918 hinter jedem Schreibtisch in Büros öffentlicher Verwaltung und Privatunternehmen. Zuhause bei Beamten und Militärs. Sogar in einer Backstube hatte ich eines entdeckt. Als ich mich für eine Lehrstelle bewarb. Aber rausgeworfen wurde vom Gesellen. Preußen waren viel gründlicher als Österreicher. Revoltierten schon vor Kriegsende, sodass ihr Kaiser Hals über Kopf nach Holland floh. Die Bilder seiner Majestät auf der Müllkippe landeten. Bald nach Friedensschluss gründeten sie eine Demokratie nach westlichem Vorbild. Mit Parteien, die verschiedene Interessen vertraten. Für eine Roma-Partei fanden sich nicht genug Mitglieder. Hätten sich genug zusammengetan, wäre sie nicht zugelassen worden. Man hätte uns vorher Wohnung und Pass geben müssen.

Das österreichische Kaiserreich endete ähnlich. Obwohl Kaiser Karl I. sich weigerte, abzudanken. Führte den Titel «Kaiser von Österreich» bis zu seinem Tod 1922. Die neue Republik verwies ihn Ende November 1918 des Landes auf Lebenszeit. Auf den Straßen Österreichs abertausend Menschen. Protestierten gegen Maßnahmen der neuen Regierung. Unzureichend sei die Versorgung von Kriegerwitwen. Aber auch solche, die ihren Kaiser nicht vergessen konnten. In ihren alten Uniformen marschierten. Auf der Brust alle Orden der letzten Kriege. Mein Großvater befürchtete Schlimmes für uns. Militaristen kennten nur befehlen und gehorchen. Ihr Argument: Persönliche Freiheit provoziere nur Ungehorsam.

Vor dem Weltkrieg ging es uns sogar gut. Man ließ uns in Ruhe ziehen, wohin wir wollten. Hauptsache, wir waren friedlich und machten Musik, reparierten Geschirr und anderes. Mag sein, es lag am Erbherzog, der liebte Kultur und Kunst. Veranstaltete Konzerte mit Künstlern aus aller Welt in einem seiner berühmten Palais. Ganz Österreich schien Musik zu sein. Johann Straussʼ Operette «Der Zigeunerbaron» 1885 im Theater an der Wien uraufgeführt. Immer noch ein Kassenschlager. Es schien, als wollten alle Männer eine Zigeunerin zur Frau. Jeder Vorstadtsänger schmetterte die Arie «Mein idealer Lebenszweck ist Borstenvieh und Schweinespeck». Aber auch klassische Musik aktuell. Als ich lesen konnte, erfuhr ich aus der «Kronen-Zeitung» zum ersten Mal von «Jascha Heifetz», dem weltberühmten Geiger aus Amerika. Er kam nach Wien, um Mozart und Alban Berg zu spielen. Klassiker und Neutöner also. Kind jüdischer Eltern, in Russland geboren. Begabter noch als ich. Schon mit sechs Jahren spielte er das Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartoldy. 1917 wanderte er mit den Eltern nach Amerika aus. Bei ihm möchte ich gerne studieren.

Weil wir anders sind

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