Читать книгу Weil wir anders sind - Otto W. Bringer - Страница 14
Jelena muss es wissen
ОглавлениеDie Prüfung bestanden. AlIes andere werde ich auch noch schaffen. Zuerst aber mit Jelena sprechen. Wie kann ich sie erreichen? Sie soll wissen, ich habe bestanden. Muss wissen, ob es sie freut. Damit ich mich freuen kann. Und richtig glücklich bin. Haben und Sein sind zweierlei, heißt es. Glück hat man unverhofft, ohne selbst etwas dazu getan zu haben. Glücklich sein heißt, wissen und spüren, was glücklich macht. Und sich anstrengt, diesen Zustand zu erreichen. Immer wieder, trotz aller Enttäuschungen. Denn Glück ist kein Dauerzustand. Uns bleibt nichts anderes, als so oft wie möglich denken und tun, was glücklich macht. Neu anzufangen im Sinne des Wortes. Ja, anfangen möchte ich, ein neues Leben beginnen. Mit Musik und der Liebe einer Frau, die mich mag aber nicht lieben darf. Sie könnte mich anstecken, meine Karriere beenden, bevor sie beginnt.
Es muss aber kein Sex sein. Wie bei anderen, die Kinder wollen. Wir können auch ohne Kinder leben und uns lieben. Umarmen, streicheln und küssen. Ich brauche das jetzt, wo es um alles geht. Hätte ich mich doch nicht so blöde davongemacht damals. Ohne ein Wort des Abschieds, das hoffen ließ. Nur mich und meine Karriere im Kopf.
Werde ihr einen Brief schreiben. Weiß aber nicht, wo sie wohnt. Kenne nur die Adresse des Bürgermeisteramtes in Titmoning. Und vom Café Zimbel, Fridolfinger Straße 120. Die nehme ich. Sonst könnte der Bürgermeister Verdacht schöpfen und Jelena schlecht behandeln. Wie das wohl ist, wenn er seinen Schwanz in ihren Mund steck? Wie fühlt man sich dann als Mann? Wie Jelena sich fühlt, hat sie mir erzählt. Es muss Männern Lust machen, sonst täten sie es nicht. Ist es die Lust, die meine Mama meinte? Setze mich an den Tisch, nehme ein leeres Blatt Papier, spitze den Bleistift an:
Herzallerliebste Jelena, Tausendmal bitte ich Dich um Verzeihung für meinen wortlosen Abschied. Du liebst mich noch, fühle es. Deshalb sollst Du als erste wissen, ich habe die Prüfung im Mozarteum bestanden. Das rasende Tempo in Mozarts Rondo in Es – Dur hat sie überzeugt, dass ich ein zweiter Paganini bin. Gut? Du sollst es als erste wissen und Dich ein bisschen, ein ganz klein bisschen freuen und glücklich sein. Ich liebe Dich und werde Dir treu sein, bis dass der Tod uns scheidet. Auch wenn wir keine Kinder bekommen, werden wir uns umarmen, streicheln und küssen. Und so eins sein. Sobald ich das Examen habe und auf Tournee gehe, wirst Du bei mir sein. Mich begleiten als meine Muse. Mit mir die Stücke aussuchen, die ich spielen werde. Kritisieren, wenn Dir etwas nicht gefällt, eine Phrase zu aufdringlich ist.
Auf ewig Dein Enis Salzburg, Dreifaltigkeitsstraße 2
Zeichne über das Wort ewig einen Halbkreis mit Punkt in der Mitte. Über einer Musiknote heißt es Fermate und bedeutet: halte den Ton an, so lange du willst. Variiere ihn mal lauter, mal leiser. Sodass Zuhörer das Gefühl haben, es nimmt kein Ende. Die Fermate über dem Wort «ewig» will nichts anderes ausdrücken als: meine Liebe zu Jelena wird kein Ende haben. Hoffe, sie kennt das Zeichen und versteht, was ich meine. Bald wird der Gesang meiner Geige ihr Herz und Gemüt bewegen. Ihre Stimme da zu hören sein, wo auch meine Töne sind. Und eins werden mit ihnen.
Denke unausgesetzt an sie. Ihren klatschmohnroten Mund, den ich küssen, küssen möchte. Nichts anderes im Kopf, als der Professor mich vor der ersten Stunde anspricht:
„Waren Sie es, der dieses musikalische Chaos vor den Prüfungen auslöste? Was dachten Sie sich dabei?“
Oh mein Gott, nicht schon wieder dieses Thema. Muss ihm wohl antworten: „Es hat sich zufällig ergeben. Ich begann mit dem Rondo und plötzlich spielte jeder das, was er einstudiert hatte. Zur gleichen Zeit statt nacheinander, wie ich ihnen vorschlug. Wollte sie lediglich mit Mozarts Rondo in bessere Stimmung versetzen. Saßen schon länger als drei Stunden und warteten. Schwiegen und sahen traurig aus. Prüfungsangst im Gesicht des ein und anderen. Da dachte ich mir, Musik macht doch fröhlich, lockert die Stimmung und legte los.“
„Lieber Rôm, Sie wissen wie ich, Musik kann auch sehr traurig machen. Als Roma haben Sie bestimmt auch dieses Gefühl vermittelt. Mit ihren Liedern von unbehaust und ausgestoßen sein. Musik hat eine unendliche Spannweite. Sie umfasst alles Menschliche. Lässt Göttliches ahnen. In Mozarts Rondo zum Beispiel. Rasant das Tempo bis zum Schluss. Es ist, als kämen die Töne zur Geige zurück. Verwandeln sich und springen wieder auf zu neuen Extravaganzen. Ein Kreislauf von Werden, Vergehen und Wiederauferstehen.“
Ein wenig erschöpft sieht er aus. Nach Worten, die mir nicht eingefallen wären. Werden, vergehen und wieder auferstehen. Überlege, wie sähe es bei mir aus: Zunächst will ich werden. Einer, den alle Welt als Meistergeiger bejubelt. Vergehen wird der Schmerz, wenn Jelena mir gesteht: ich will deine Frau werden. Dann fühle ich mich wie ein neuer Mensch. Wiederauferstanden als Liebender. Nach endlosen Wochen des Zweifelns.
Monate vergehen, kein Brief von Jelena, kein irgendwie geartetes Lebenszeichen. Wohne jetzt schon im vierten Monat bei dieser Frau. Miete brauche ich ihr nicht zu zahlen. Muss ihr stattdessen jeden Abend das Wiegenlied von Johannes Brahms spielen. Sie summt die Melodie oder singt den Text, bis ihr die Augen zufallen:
«Guten Abend – gut Nacht – mit Rosen bedacht – mit Näglein besteckt – morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.»
Am Morgen des zweiten Tages im Mozarteum soll ich im Sekretariat den Antrag auf ein Stipendium stellen. Hoch begabte Studierende brauchen kein Studiengeld zu bezahlen. Erhalten monatlich einen Betrag von fünfhundert Schilling als Zuschuss zum Lebensunterhalt. Salzburg will die Besten haben und fördern. Damit sie den Rang als die Musikstadt der Welt behält. Jelena kann kommen.
Beim Mittagessen in der Mensa setzt sich der Professor immer mal wieder neben mich. Als suchte er Gelegenheiten, mehr von mir zu erfahren. „Mir scheint, ich kenne Sie. Der dunkle Teint, die schwarzen Haare, Ihr Temperament. Als hätte ich Sie früher schon einmal gesehen. Oder war es Ihr Vater, dem Sie jetzt ähnlich sehen? Haben Sie vor Jahren in Kroatien gelebt, in Zagreb zum Beispiel?“
Bevor ich antworten kann, spricht er weiter. „Dort lebte ich mit meinem Bruder zusammen. Die Eltern gestorben. Mussten uns als Juden durchschlagen. Leicht war es nicht. Immer noch warf man uns vor, wir hätten Christus ans Kreuz schlagen lassen. Benjamin, mein Bruder, war katholisch geworden und bald schon Küster in der Marienkirche. Ich aber wollte Jahwe die Treue halten. Der Pfarrer, ein weltoffener Mann, ließ mich an Festgottesdiensten den Geigenpart spielen, wenn der Solist verhindert war. Auch schon mal die Orgel. Habe beides in Wien studiert, konzertiert und dann hier in Salzburg diese Stelle bekommen.“
Sehe ihn mir genauer an. Bis jetzt war er nur Professor, ein Titel. Eine Kathedergröße. Jetzt nähert er sich mir als Mensch. Wie soll ich reagieren? Hat er böse Absichten?
Oder freundliche? Durchgehen lässt, wenn ich einen Ton verpatze? Ein sechzehntel zu schnell spiele? Verwechsle, was ich üben soll? Da redet er schon weiter.
„Roma lebten damals draußen vor der Stadt in einem Wagen. Musizierten an Markttagen und in Tanzsälen. Eines Tages war ein Kind bei dem Mann, mit einer Geige. Sechs Jahre könnte es gewesen sein. Waren Sie der kleine Junge mit der Geige?“
„Ja, das war ich.“ Stimmt also, was ich erinnerte. Mehr will ich nicht sagen. Soll er fragen, was er wissen will. Fragt nicht, als hätte er für heute genug erfahren. Gelegentlich blickt er zu mir hin und nickt. Dann wieder konzentriert auf den Teller vor ihm. Isst weiter Gulasch von Schwein und Rind mit Knödeln. Halbiert, viertelt, achtelt und sechzehntelt sie, als hätten Knödel Noten zu sein. Spießt dieses Minimum mit der Gabel auf. Schiebt mit dem Messer ein Stück Fleisch dazu und dann in den Mund. Ohne dass was herunter fällt. Bloß keine Noten schlabbern. Trinkt zwei Glas Veltliner.
Krüge mit Wasser und leichtem Wein auf allen Tischen und Brot. Meist ist es Eintopf, Gemüse mit Fleisch von Schwein oder Huhn. Einmal pro Woche eine Suppe. Genug, um fit zu sein fürs Üben. Sechs Stunden täglich, Auch Musik-Theorie eine Stunde jeden Tag. Mir aber ist es nicht genug. Den abendlichen Brahms betrachte ich als Gelegenheit, die Beweglichkeit meiner Finger zu trainieren.
Nutze die Viertelstunde am Bett der Frau, die sanfte Melodie des Brahmsliedes aufzupeppen. Kapriolen zu schlagen, obwohl sie das Gegenteil bewirken: munter und wach halten statt einzuschläfern. So verrückt es in ihren Ohren auch geklungen haben mag, bisher hat sie sich nicht beschwert. Vielleicht ist sie glücklich, wenn einer bei ihr ist. Abends noch spät. Allein sein können nicht viele. Geige seufzt und weint und ich weiß warum.