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Die Prüfung

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«Mozarteum» leuchtet golden auf einer Tafel. Blitzt in der Sonne auf. Als grüßte der Meister mich. „Guten Morgen Wolfgang Amadeus.“ Verbeuge mich und sehe mich um. Die Tafel hängt über dem Haupteingang eines großen Gebäudes, Teil einer weitläufigen Anlage. An allen Gebäuden auch so eine Tafel über dem Eingang. Welches ist das richtige? Wo muss ich mich anmelden? Schlicht weiß gestrichen sind sie alle. Die Fenster mal größer, mal kleiner. Mit Balkonen das erste, vor dem ich jetzt stehe. An den Gittern kleine Tafeln, auch vergoldet. Die Fassade gegliedert in Felder mit Stuckornamenten. Über dem Eingangsportal in der Mitte das vergoldete Schild: «Mozarteum». Eine Laterne rechts und links. Hier wird die Verwaltung sein.

Auf einem der zwei hölzernen Türflügel ein weißes Tableau mit dem was ich suche. Zulassungsstelle 1. Etage Raum Nr. 22. Wenn das nicht eine Fügung ist! Mein Mozart-Rondo steht im Köchelverzeichnis unter der Nr. 22, wenn ich nicht irre. Noch nie bin ich die ersten Stufen einer Treppe so stürmisch hinauf gesprungen wie jetzt. Zwei, drei auf einmal. Der Geigenkasten in meiner linken Hand wippt auf jeder Stufe heftiger. Mir ist, als hörte ich seinem Innern die Saiten schreien: „Langsam, langsam Rôm, wir fürchten zu reißen.“

Ein großer Raum mit Bänken ringsum. An der Längswand Türen mit goldig glänzenden Nummern. Alles Wichtige scheint golden zu sein. Die hier aus Messing, schätze ich. Glänzt wie Gold, ist aber viel billiger. Vielleicht um da zu sparen, wo es Mozart nicht schadet. Denn Gold ist Geld, das die Welt regiert. Wir freuten uns schon, wenn ein paar Groschen zusammenkamen. zehn, zwanzig Schillinge, um ein Paar neue Schuhe zu kaufen.

Viele junge Männer, im Alter etwa wie ich und zwei Mädchen sitzen und warten. Gehe auf die erstbeste Tür zu und klopfe an. „Da sind Sie falsch. Sie müssen die Tür mit der Nummer 22 nehmen, sich erst mal anmelden“. „Ach ja, total vergessen“. „Dann müssen ʼs warten, wie wir. Man ruft uns der Reihe nach auf, bevor wir dem Professor vorspielen können.“

Sehe das offene Gesicht des Sprechers, er ist einer wie ich, denke ich. Dunkle Haare, Teint leicht gebräunt, sicher gerade aus dem Urlaub zurück. Er lächelt, ich lächle und denke, das fängt gut an.

Wie konnte ich nur die Nummer 22 vergessen. Gesehen und gleich an Mozart gedacht. Die Frau hinter einem Pult blickt auf, als ich eintrete. „Guten Tag, gnädige Frau!“ „Grüß Gott der Herr, was wünschen ʼs?“ Wieso wünschen? Sie müsste doch wissen, dass studieren wollen, die in dieses Zimmer kommen. Oder hält sie mich für einen Vagabunden? Hallodri? Zigeuner vielleicht? Hebe meinen Geigenkasten hoch, dass sie ihn sieht. Hoch über meinen Kopf lasse ich ihn schweben. Schweben auf drei Fingern einer Hand.

Warte, beobachte ihr Gesicht. Drehe den Kasten langsam wie einen Windmühlenflügel bei schwachem Südost, warte. Plötzlich lacht sie hellauf:

„Nehmen ʼs die Geige wieder herunter, Herr Jongleur. Sie scheinen einer der Künstler zu sein, die ihre Geige nicht nur mit dem Bogen streicheln. Sondern sie lieben wie der Vater sein Kind. Mein Papa hielt mich auch so hoch über dem Kopf, noch als ich schon acht war. Von oben herunter fand ich die Welt schöner als unter dem Tisch hocken und nur Beine sehen. Strümpfe, Hosen und hölzerne ringsum. Hier das Formular, füllen Sie es aus. Gewissenhaft, bittschön. Dort auf dem Tisch sind Tinte und Federhalter. Bei uns geht alles noch altmodisch zu. Wir lieben die Tradition.“

Auf dem Tisch eine Holztafel, schräg gestellt, wie das Messbuch auf dem Altar. Darauf ein weißes Blatt, bedruckt mit goldenen Lettern:

«MOZARTEUM – WO AUS BEGABUNG EXZELLENZ WIRD -

MOZART IST UNSERE INSPIRATION – MUSIK UNSERE TRADITIONN – DIE KUNST UNSERE PASSION.»

Darunter schwarz auf weiß: «Wer geübt, immer wieder geübt, geübt und nie zufrieden ist – der darf gerne bei uns studieren. Und der Beste werden in seinem Fach.»

„Nehmen ʼs Platz bitte, draußen auf der Bank, Herr Rôm. Der Herr Professor Dr. Dr. Kowaĉević wird Sie gleich rufen lassen.“

Jetzt sitze ich hier. Wer weiß wie lange. Immer noch dieselben auf den Bänken. Unterhalten sich, lachen nur vereinzelt. Es geht ja um Zukunft. Ihre und meine. Wer hier durchfällt, ist durchgefallen. Keine andere bedeutende Akademie nimmt ihn mehr auf.

Gescheiterte Mozartschüler können nur noch tingeln. So wie wir durch die Lande ziehen. Musizieren und Geld verdienen. Um von diesem Geld zu leben. Die aber das Examen hier bestehen, haben alle Chancen. Wer von ihnen hier könnte dazu gehören? Blicke in die Runde. Gedrückt die Stimmung, wie vor jeder Prüfung. Als ginge es um Leben oder Tod. Des Herrn Professors Dr. Dr. Kowaĉević Meinung entscheidet über Sein oder Nichtsein.

Es ist aber nur seine Meinung. Er mag gut sein in seinem Fach. Vieles gehört und gesehen in der Welt. Begabte und sehr begabte Schüler gehabt. Und immer nur entschieden über Ängstliche, die fürchteten durchzufallen. Ich fürchte mich nicht. Weiß schon lange, dass ich ein Künstler bin. Weil ich es sein wollte. Nachdem alle mich schon früh als hoch begabtes Geigenwunder gelobt hatten. Jetzt sitze ich hier und warte auf denselben Professor, der schon hunderte durch seine Mangel drehte. Sich Bach, Mozart, Beethoven und Schumann anhörte. Und am Ende das Urteil gefällt. Die hier sitzen, scheinen zu den Ängstlichen zu gehören. Keiner spricht laut oder lacht. Niemand singt vor Freude. Sie haben Geige spielen gelernt, beherrschen die Technik. Sonst wären sie nicht hier. Und trotzdem so ernst. Das will ich ändern. Stimmung muss aufkommen. Befreit von Prüfungsangst. Damit sie in bester Verfassung ihr Bestes geben können.

Öffne meinen Geigenkasten, streiche die Rosshaare des Bogens über ein Stück Kolophonium. Dieses veredelte Baumharz bindet sie fest aneinander. Damit sie bei jedem Strich durch Reibung die Saiten in Schwingung versetzen. Saubere Töne erzeugen, so wie ich es will. Das Instrument jetzt in meiner Hand. Stimme es, denn die Luft im Wartezimmer ist trocken. GDAE. Sie hören auf zu reden, alle gucken mich an, als ich loslege. Den Dunkelhäutigen mit schwarzen Haaren und flinken Fingern. Den Bogen locker in der Rechten, die Saiten zu streicheln:

„Sie hören jetzt das Rondo in Es – Dur von Wolfgang Amadeus Mozart. Ich werde es dem Herrn Professor vorspielen. Jeder von Ihnen spiele danach, was er am besten kann.“ Doch wem sage ich das. Meine Zuhörer sind Geigenspieler. Hören mich spielen, sehe wie die Finger ihrer linken Hand auf den Oberschenkeln tanzen, als wäre Schenkel ein Geigenhals. Hals mit vier Saiten.

Da geschieht, was ich nicht wollte. Die erste, eine Frau, öffnet ihren Geigenkasten, nimmt das Instrument. Der zweite, dritte, vierte, dann plötzlich haben alle bis auf einen ihre Geigen angesetzt und spielen. Jeder sein Lieblingsstück. Gleichzeitig das, was er am besten kann, nehme ich an. Und es schrillt, schreit und schrammt aufgeregt, als wollten tausend Geigenbögen den Untergang der Welt herbeistreichen. Das chaotische Durcheinander stattdessen die Tür zum Zimmer mit der Nummer 1 aufgestoßen.

Ein älterer Herr kommt heraus, zögert. Nachdenklich einen Moment. Erblickt ein Notenblatt auf der Bank neben einem Geigenkasten. Ergreift, rollt es zusammen und schlägt den Takt damit. Die Augen geschlossen, als hätte er die Stücke aller hier gleichzeitig im Kopf. Auch wenn man sie hier nicht heraushört. Wäre er sonst Professor am Mozarteum?

Wir sehen uns an, ein letzter gemeinsamer Strich beendet das Chaos. Und alle atmen auf. Lachen plötzlich und reden, als hätte Musik ihre Stimmung gelockert: „Ich fühlte mich wie im Himmel“. „Tu a raison, mois aussi“. Du hast Recht, ich auch. „Molto amabile, Io sono felice“. Wunderbar, bin glücklich. Andante moderato könnte kommen und der Himmel wäre hier.

„Das habt ʼs Ihr raffiniert ausgedacht, mich zu überraschen. So abscheulich, dass es schon genial war. So muss sich Dantes Inferno anhören. Erst aber geht ʼs in die Vorhölle. In der ihr beweisen müsst, dass ihr ohne Fehl seid. Der erste, Herr Bast, bitte zu mir.“ Bast folgt ihm, verstaut rasch seine Geige im Etui. Die Tür fällt zu. Und der Rest? Eine der beiden jungen Frauen kommt auf mich zu:

„Sie konnten doch bestimmt nicht ahnen, dass wir Ihnen auf der Stelle folgten statt nacheinander zu spielen. Gleichzeitig unser eingeübtes Stück. Jeder das, was er am besten kann. Obwohl es überhaupt nicht dazu passen konnte. Auch ich spielte Mozart. Das Allegro aus dem ersten Satz seiner Sonate in A-Dur. Hatte es lange geprobt und Mozart verinnerlicht. So sehr, dass ich loslegte, als Sie sein Rondo spielten. Mozart, nichts als Mozart im Ohr und im Gefühl. Nicht nachgedacht und Ihnen blind gefolgt. Ihr rasantes Tempo drückte mir die Geige, den Bogen in die Hände und legte los. Ihr Rondo mit meinem Allegro zu vereinen, als wären wir Mann und Frau.“

Sieht mich an, als wäre sie verliebt. In mich vielleicht. In Mozart ganz gewiss. Schon redet sie weiter: „Den anderen erging es sicher ähnlich wie mir. Niemand wollte beiseite stehen, alle mitmachen. In Stimmung kommen endlich. Die Prüfungsangst vergessen. Spielten ihren Schubert, Grieg, Schumann, Brahms, Couperin und Beethoven. Wäre dieses außergewöhnliche Durcheinander sonst zustande gekommen? Ein großes Unisono glücklicher Menschen. Wie heißen Sie überhaupt?“

Schon wieder fragt mich ein Mädchen, das wie eine Frau aussieht, nach meinem Namen. Musikerin ist sie auch. Gut zusammengeklungen hat es, so chaotisch es auch war. Und alle begeistert. Für eine Sekunde sieht sie aus wie Jelena. Sie ist es nicht. Leider. Soll ich sie zu einem Kaffee einladen. Ein paar Schillinge sind noch übrig. Nein besser nicht? Ich könnte sie mögen mit ihren roten Haaren, der schlanken Figur. Sitze ich ihr gegenüber im Café. Bis in die Fingerspitzen musikalisch, wie ich bemerkte. Wir könnten zusammenspielen. Neue Stücke ausprobieren. Nein! nein! Ich mach es nicht, Jelena im Kopf:

„Man nennt mich Rôm, einfach Rôm, nichts weiter als Rôm“. Jetzt habe ich schon dreimal Rôm gesagt. Als wäre sie schwerhörig. Sieht mich an, schüttelt den Kopf und setzt sich wieder. Sehe sie kichern, die zwei Frauen auf der Bank, mir gegenüber, eng aneinander gerückt. Lachen lauthals über mich. Über wen oder was sonst? Die Prüfung haben sie noch vor sich, wie ich.

Zweifel überfällt mich. Soll ich überhaupt bleiben. Mich dem Prüfungsverfahren aussetzen? Diesem unausweichlichen Entscheid über gut oder sehr gut? Der Professor schien über unser Spiel nicht sehr erfreut gewesen. Obwohl er so tat, als dirigiere er uns. Das letzte Wort des Ordinarius entscheidet. Oder ist es ein Gremium? Mehrere Kenner, die dabei sind, wenn ich spiele? Mir zuhören, kritisch und wohlwollend, wie sie meinen. Sechs oder acht Musikprofessoren, die ihre Ohren spitzen, damit ihnen kein 32stel entgeht. Zu viel oder zu wenig ist. Zu laut oder zu leise. Zu schnell das Ganze oder zu langsam. Viele Köche verderben den Brei, heißt es. Warum sollte es bei Musik-Professoren anders sein?

Bast kommt heraus, strahlt: „Zugelassen! Nächste Woche Montag meine erste Unterrichtsstunde." Alle springen auf, schütteln seine Hände, umarmen ihn. Die beiden Frauen küssen ihn auf die Wange, die rechte, die linke. Und strahlen, als wären sie selbst schon zugelassen. Es ist wie eine ansteckende Krankheit, die sich ausbreitet. Nur macht sie nicht krank, sondern optimistisch. Musik ein Medikament, das kein Arzt verschreiben muss. Das man sich selber verschreibt. Beschließe: Ich bleibe hier und stelle mich dem Professor und allen Professoren der Welt.

Sie müssen vorspielen in einem der Räume hinter der Tür Nr. 1. Höre es leise weinen, so wie nur Geigen weinen. Weinen wie ein Mensch. Ob die Prüfer sie weinen lassen bis zum Schluss? Mitten im Ton reißt es ab. Nicht lange und heraus kommt einer, die Klinke der dick gepolsterten Tür noch in der Hand. Als könnte er sie nicht loslassen nach so viel hoffen. Tränen in seinen Augen, wischt sie mit dem Rücken seiner linken Hand weg. In der rechten jetzt sein Geigenkasten. Aus Holz wie meiner. Schwarz wie meiner. Sarg, in dem die Hoffnung zu Grabe getragen wird.

„Frau Reling bitte!“ Ah, Reling heißt die mich eben noch angesprochen. Mit h oder ohne? Ausgesprochen kann man es nicht hören, steht es mitten in einem Wort. Ausnahme, sie heißt Helene. Oder einer komponiert ein Lied in der Tonart h, gesprochen wie ha. Wie Johann Sebastian Bach seine h-Moll Messe. Dieses unerhörte Meisterwerk erlebten wir im Stefans-Dom, Wien. Musik, gegen die alles andere unfertig ist, stümperhaft.

Tagelang ließ ich meine Geige im Kasten. Jeder Ton wäre mir wie eine Beleidigung vorgekommen. Selbst wenn ich Bach gespielt, hätte es wie ein misslungenes Bubenstück geklungen. Dieser größte aller Großen müsste Meer heißen, nicht Bach. Wie Beethoven einmal schrieb, der selber ein Großer war.

Mit oder ohne h kommt durch die Tür, lässt sie geöffnet hinter sich wie eine Siegerin. Lächelt vor sich hin. Schaut mich kurz an und verschwindet zum Ausgang. Die runde Uhr an der Wand dreht ihre Zeiger. Schneller als anfangs, kommt mir vor. Sitze nun schon vier Stunden hier und warte. Bis auf diesen einen haben alle bestanden. Nur noch drei auf drei Bänken von zehn. Eine Frau und zwei junge Männer. Einer von denen bin ich.

Jeder von uns allein auf seiner Bank. Sitzt wie festgenagelt und schweigt. Schweigt, denkt an Gott weiß was. Könnte sich ausbreiten, seine Taschen leeren. Sich vergewissern, ob alles noch da ist, was er eingesteckt. Mit Thermosflasche und Butterbrot frühstücken. Oder sich hinlegen und ein Stündchen schlafen. Jedes Mal auf einer anderen Bank. Warum eigentlich setzen wir uns nicht zusammen auf eine Bank? Drei zusammen sind nicht mehr allein.

Vielleicht sollten wir ein Terzett spielen von Johann Nepomuk Hummel. Damit wir in Stimmung kommen. Von Musik glücklich gestimmt, die Prüfungsangst vergessen. Ohne Absicht fällt mir Hummel ein. Johann Nepomuk, seinen Vornamen im Kopf. Nepomuk wie der Heilige an Brücken. Nicht zu fassen, was das Gehirn alles speichert. Miteinander verbindet. Ob man will oder nicht. Es ist da, ob es passt oder nicht. Jetzt passte es. „Ich hab eine Idee. Kommen ʼs mal bitte zu mir auf die Bank.“

Der Mann zögert, die Frau schon aufgestanden, eilt schnellen Schrittes mit ihrer Geige zu mir, setzt sich. Rutscht, bis ihre Hüfte meine berührt, Absicht oder? Heiser ihre Stimme: „Und nun Herr Kapellmeister?“ Sieht mich an, öffnet ihr Geigen-Etui, stimmt die Saiten. Ihr rechter Ellbogen berührt meine Schulter. Jedes Mal, wenn sie ausholt, mit dem Bogen über zwei der vier Saiten streicht. Scheint hartnäckig bestrebt, mich zu berühren. Das aber mag ich jetzt ganz und gar nicht:

„Kennt Ihr Hummels Terzett für drei Geigen? In F-Dur geschrieben, meine ich mich zu erinnern. Dann lasst es uns jetzt spielen. Damit wir in Bestform kommen.“

Jetzt steht auch der junge Mann auf, keine Geige in der Hand. Beantwortet meine Frage nicht. „Ich tät ja so gerne mit Ihnen spielen, aber ich habe kein eigenes Instrument. Muss mir immer eine Geige leihen von einem Freund, will ich üben. Der Ton einer Geige macht mich verrückt. Jauchzen möchte ich und zum Himmel fliegen. Auf Tönen, die nur die Geige von sich gibt.“

Auch so einer, der spielen muss wie ich. Aber nicht kann.

Schlimm muss sich das anfühlen. Versuche mir vorzustellen, spontan Geige spielen zu wollen und nicht können. Weil ich keine besitze, auf der ich spielen kann. Aber große Lust dazu habe. Schaffe es nicht, mir keine Geige vorzustellen. Papa schenkte mir eine, als ich sechs war. Die Geige wurde mein ein und alles. Konnte schon bald spielen was und sooft ich wollte. Frage den jungen Mann, der schüchtern vor mir steht:

„Wie wollen ʼs denn vorspielen bei der Prüfung?“ „Am Mozarteum haben sie Instrumente, die sie an Prüflinge verleihen – ohne Gebühr.“ „Kommen ʼs denn damit zurecht?

Ein Instrument muss man kennen wie einen Menschen. Bevor man sich ihm anvertraut. Und lange spielen, um ein Meister zu werden.“

Jetzt hab ich wie ein Schulmeister geredet. Aber nur wiederholt, was mir mein Geigenlehrer und mein Vater gepredigt all die Jahre. Immer wiederholt haben. Sodass es in mir ist und ohne Absicht herauskommt, wie jetzt.

Vor mir der Gemaßregelte, die Augen niedergeschlagen. Leid tut er mir plötzlich: „Hier nehmen ʼs meine Geige und spielen das Stück, das Sie bei der Prüfung spielen wollen. Um schon mal in Schwung zu kommen. Nachdem Frau …“ „Elisabeth heiße ich“ „ihres gespielt hat.“

Elisabeth hastig: „Ich spiele das Menuett in F-Dur von Josef Haydn“. „Gut und Du Kollege?“ Auf das kollegiale Du umgeschwenkt erhellt sich seine Miene: „Ich habe ein ruhigeres ausgewählt. Hoffe, es beruhigt auch mich. Bin schon ganz nervös, so kurz vor der Prüfung.“

„Nun nicht mehr lange gefackelt, gerade noch Zeit, wie es scheint, es noch einmal durchzuspielen. Also, was hast ausgewählt?“ Seine Augen leuchten: „Den ersten Satz der Sonate in C-Dur von Johann Sebastian Bach.“ „Wie heißt Du übrigens? Vielleicht sehen wir uns mal wieder.“ „Franz Schubert.“

Doch nicht ein Verwandter unseres Franzl? Bevor ich ihn fragen kann: „Frau Schmude zum Herrn Professor.“

Elisabeth heißt also Schmude. Geht jetzt hin und hat nicht nochmal geübt. Na ja, so ist das Leben. Es kommt immer was dazwischen, hat man Wichtiges vor. Wir Roma kennen das und haben uns daran gewöhnt. Der stille Franz steht noch vor mir, meine Geige in der Linken, den Bogen in der Rechten. „Nun fang schon an, Franz Schubert. Ein Enkel des berühmten Franzl muss doch keine Angst haben.

„Bin weder verwandt noch verschwägert mit ihm. Aber Geige möchte ich schon so gut spielen können wie der Franzl das Klavier.“

Nicht schlecht, finde ich, der Bogen zittert manchmal. Der Ton nicht rein genug. Jetzt ist er sauber. Aber an Tempo könnte er zulegen an dieser Stelle. Die Sonate kenne ich und habe sie sogar einmal im Gottesdienst gespielt. Von leisen, ganz leisen Orgeltönen begleitet. Im Subbass und Gedakt.

Elisabeth Schmude verschwindet wie ein Geist. „Herr Schubert bitte!“ Nehme ihm das Instrument rasch aus der Hand, damit er es nicht fallen lässt vor Schreck. So laut die Stimme, die ihn zum Jüngsten Gericht rief. Gut zu spielen oder schlecht. Das Urteil des Herrn zu hören.

Es muss ihn vernichtet haben. Gebückt verlässt er den Prüfungsraum. Geschlagen von eigener Unvollkommenheit. Nun bilde dir nicht ein, du wärst besser. Mein Gewissen meldet sich wieder. Es folgt mir, wo ich auch bin. Und mahnt, erinnert, erpresst mich sogar. Wenn ich meinen Willen durchsetzen, nicht klein beigeben will. Bin ich wirklich schon ein Künstler? Ohne Hochschulbildung und Unterschrift des Professors Dr. Dr. Kowaĉević. Der Name klingt kroatisch.

Erinnere mich, wir lebten etwa drei Jahre in diesem Land. Von Ort zu Ort gezogen wie überall. Niemanden kennengelernt außer Bettler, von denen wir die kroatische Sprache lernten. Doch da war noch was, fällt mir der Küster einer Kirche ein. Ort vergessen, den Namen des Heiligen, nach dem die Kirche genannt. Aber diesen Mann sehe ich vor mir. Sehr alt muss er gewesen sein. Achtzig mindestens.

Er ging gebückt, stützte sich auf einen Stock. Mit dem er auch herum fuchtelte, Hunde und Tauben zu verjagen. Er hatte einen jüngeren Bruder, der musikalisch war. Sang im Chor, spielte die Orgel, war der Organist krank. Hörte ihn sogar einmal auf der Geige spielen mit anderen auf der Orgelbühne. Gesehen habe ich ihn nie. Nur seinen Bruder, den Küster. Wenn er den Altar mit frischen Blumen schmückte oder neue Kerzen einsteckte. Wie hieß denn der nochmal? Irgendwas mit Kowaĉ. So oder ähnlich heißen alle Kroaten. Gespannt, ob der hier der Bruder des Kerzensteckers ist.

„Herr Rôm bitte.“ Die Frau wartet, bis ich die Türe passiert hatte. Drückt sie fest zu und legt den Riegel vor. Bin ich jetzt ein Gefangener? „Warum verschließen Sie die Tür so fest? Ich bin kein Dieb, der Noten stiehlt. Spiele immer ohne Noten. Habe ich ein Stück intensiv geübt. Wir Roma tun nichts anderes seit 600 Jahren.“ So, das weiß sie jetzt.

„Was tun Sie seit 600 Jahren?“ Ohne dass ich es bemerkt, ist der Professor ins Zimmer getreten. Erkenne ihn wieder. Sieht mich an, als kenne er auch mich. Er muss mich für den Anstifter halten, als sich, rein zufällig, dieses chaotische Zusammenspiel ergab.

„Ich spiele auch ohne Noten wie meine Vorfahren. Vor 600 Jahren sind sie von Indien in Richtung Westen aufgebrochen. Mein Name ist Enis Rôm“.

Der Professor: „Ich weiß, ich weiß, Sie stehen als letzter auf meiner Liste. Was wollen Sie spielen, mir und meinen Kollegen beweisen, dass Sie mehr als begabt sind? Ein Instrument spielen, das der menschlichen Stimme am nächsten kommt? Wissen Sie übrigens, dass alle großen Komponisten auch Solostücke für Violine geschrieben haben? Sie war ihr liebstes Instrument. Wichtiger noch als das Klavier. Mozarts Hammerklavier nicht zu vergleichen mit einem von heute, einem Flügel von «Steinway & Sons». Geigenbauer aber waren schon berühmt zu ihrer Zeit: «Stradivari», «Guarneri» zum Beispiel. Sie sind bis heute immer noch die besten.“

„Und eine Geige aus Mittenwald von «Jakob Steiner»“ kann ich mir nicht verkneifen.

Als hätte er es nicht gehört, schreitet auf eine breite Tür zu, deren zwei Flügel sich wie von selber öffnen. „Folgen Sie mir.“ An einem langen Tisch ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Herren. Nur Herren, keine Frau. Schauen auf, sehen mich an. Wieder herunter auf ein Blatt Papier. In der rechten Hand einen Stift. Gut frisiert sehen sie aus. Gescheitelt, das Haar hinter die Ohren gelegt. Die nun frei und offen, meine Geigentöne einzulassen. Um sie zu verarbeiten in einem Gehirn, das größer sein muss als meines. So viele Geigentöne von so viel unterschiedlichen Temperamenten zu hören, zu prüfen und mit einer Note zu versehen. Prüfer möchte ich nicht sein.

„Was, Herr Rôm, wollen Sie uns vorspielen?“ „Zuerst dachte ich, ein Stück von Paganini könnte Sie überzeugen, dass ich begabt bin. Sehr begabt bin, sagten meine Lehrer. Aber so gut wie er bin ich noch nicht. Beim Tempo muss ich noch zulegen und trotzdem präzis spielen wie Paganini.“ Auf ihre Gesichter gespannt, wenn ich sie mit dem Gegenteil überrasche.

„Mozart fiel mir ein. Nach dem auch diese Universität benannt ist. Im Mozarteum kann ich nur Mozart spielen. Sie hören jetzt sein Rondo in Es-Dur – presto gespielt von mir, einem, der ein Roma und guter Geigenspieler ist und bleibt. Ob er die Prüfung besteht oder nicht.“

Sehe die Herren ihre Bärte streichen, die Krawatte richten, das Papier vor ihnen. Ihre Augen wieder auf mich. Den sie betrachten wie ein Kuckucksei. Wer hat ihnen dieses Ei ins Nest gelegt? Wer traut sich so aufzutreten. Ein Schüler ist.

Noch nicht einmal das. Wir, die Herren der Schöpfung müssen es erst genehmigen. Ob sie so denken, weiß ich nicht. Mir kam es jedenfalls so vor. Sie sitzen aufrecht. An die hohe Rückenlehne ihrer Stühle gelehnt. Aufgereiht wie Papageien. Stelle mir vor, sie neigen ihre Köpfe, zu hören. Schauen am Ende wieder hoch. Reißen die Schnäbel auf, Laut zu geben. Zu bewerten, was sie hörten. Krakeelen eine lange Weile gegeneinander, durcheinander. Klappen die Schnäbel wieder zu. Nacheinander klapp, klapp, klapp, klapp, klapp, klapp, klapp, klapp. Krakeln ihre endgültige Note auf ʼs Papier.

Streiche den Bogen ein paarmal übers Kolophonium. Prüfe die Spannung der Haare. Schön stramm und keines, das heraus will aus dem Gespann. Über GDAE gestrichen, zwei-, drei Mal. Gezupft jede Saite, ob es auch so stimmt. Lege das Tüchlein unters Kinn, die Geige darauf. Vom Kinn fest gehalten und schon geht’s ab wie der Blitz. Nur knappe fünf Minuten dauert es. Vier Saiten erfasst mit einem einzigen Bogenstrich zum Schluss. Mozart, wie ich ihn höre und liebe. Tausend Mal mehr als die kleine Nachtmusik.

Die Herren beeindruckt. Auch Professor Dr. Dr. Kowaĉević nickt ein paar Mal, sieht mich an: „Gehen ʼs bittschön wieder ins Wartezimmer, wir beraten uns.“ Na dann, beraten ʼs mal. Weggeschickt haben sie mich jedenfalls nicht. Getröstet wie viele andere: Üben ʼs fleißig und kommen ʼs wieder, wenn ʼs besser sind. So oder ähnlich müssen sie Bewerber abspeisen. Die Herren Götter von der Zunft. Nie, nie werde ich Prüfer in Musik. Musik muss frei sein. Sonst kann sie nicht klingen. Frei auch von solchen, die meinen, über Musik besser Bescheid zu wissen als andere. Wissen allein begreift nicht, wenn das Gefühl fehlt. Mögen sie noch so gut honoriert werden von denen, die Steuern zahlen. Musikalisch sind oder nicht. Mozart lieben, Franz Lehar oder einen unbekannten Liedermacher. Ach Jelena, könntest du doch bei mir sein. Ich sehne mich. Klatschmohnmund, du süßer.

„Glückwunsch Herr Rôm! Ihr Mozart-Rondo, auch wenn es sehr kurz war, hat die Prüfer überzeugt. So sehr, dass sie es mit der höchsten Note bewerteten. Ihr Professor ist Dr. Dr. Jaron Darko Kowaĉević. Ihre erste Stunde nächsten Mittwoch um 10 Uhr Vormittag im Gebäude Mozarteum IV.“ Frau, die mich herein ließ, verabschiedet mich, als wäre sie der Chef.

Weil wir anders sind

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