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Das Jahrzehnt der Lügen Wilhelm Kernig. Der Mann ohne Gesicht

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Am Donnerstag, den 15. Dezember 1937 um ein Uhr nachmittags, klingelte das Telefon in der Zentrale der Geheimpolizei in der Ratakatu in Helsinki. Der Anruf kam von der Kriminalpolizei in Stockholm, die die baldige Ankunft eines Besuchers in Finnland ankündigte. Es handelte sich um den in Schweden wegen Spionageverdacht verhafteten und des Landes verwiesenen tschechischen Bürger namens Vilem Jaderny, der zu diesem Zeitpunkt schon im Flugzeug von Stockholm nach Helsinki saß. Die Geheimpolizei fasste den schnellen Entschluss, Jaderny sofort nach seiner Ankunft zu beschatten. Diese Aufgabe übernahmen die Geheimpolizisten Erkki Kuosmanen und Kalle Thomenius. Die Männer fuhren sofort mit dem Dienstwagen los und begaben sich zum Flughafen Helsinki-Malmi, der noch im Bau war, aber den Betrieb schon aufgenommen hatte.2

Das Linienflugzeug aus Stockholm hatte jedoch Verspätung, und die zum Flughafen geschickten Geheimpolizisten mussten in der runden Empfangshalle auf die Maschine warten. Währenddessen hatten sie Zeit, ihren Auftrag mit dem dritten Geheimpolizisten, dem jungen Beamten Olavi Viherluoto zu besprechen, der verdeckt in der Passkontrolle des Flughafens arbeitete und als zuverlässig und begabt galt.3

Das Junkers-Passagierflugzeug der Aero-Fluggesellschaft erschien plötzlich mit fast einer Stunde Verspätung am bewölkten winterlichen Himmel.4 Die Passagiere stiegen aus und gingen über das windige Flughafenfeld zur Passkontrolle im Terminal. Der Geheimpolizist Viherluoto saß in seinem Schalter und konnte Jaderny beobachten, der in einer Schlange stehend auf seine Abfertigung wartete. Der Mann war mittelgroß und korpulent, gepflegt angezogen und hatte zwei schwarze Koffer bei sich. Die an der Stirn schon ergrauten, sandfarbenen Haare waren über den beginnenden Glatzenansatz gekämmt, welcher zahlreiche Sommersprossen aufwies. Das Gesicht zierten eine Brille und ein rötlicher Schnurrbart. Viherluoto stempelte den vorgezeigten tschechoslowakischen Pass des Mannes ab und gab Kuosmanen und Thomenius ein Zeichen, dass es sich um den angekündigten Mann handelte.5

Die Passagiere und unter ihnen die Geheimpolizisten stiegen nach der Passkontrolle in den Zubringerbus von Aero, der sie ins Zentrum von Helsinki brachte. Während der Fahrt untersuchten Kuosmanen und Thomenius unauffällig die Koffer ihrer Zielperson. Der größere und schwerere Koffer war abgeschlossen, aber den leichteren Koffer konnten sie öffnen. Der Inhalt war jedoch eine Enttäuschung. Im Koffer waren nur einige Kleidungsstücke und ein deutschsprachiger Roman mit dem Titel „Menschen ohne Gesicht“.6

Dieser Mann, der gerade mit dem Flugzeug in Finnland angekommen war, war laut dem gerade abgestempelten Pass ein in Bratislava geborener Tscheche namens Vilem Jaderny. In Wirklichkeit war er heimatlos und eigentlich nirgendwo willkommen. Der Name in seinem Pass war falsch. Der richtige Name des Mannes lautete Wilhelm Kernig, und er war 1902 in Berlin geboren. Sein Vater war Jude, aber der außerehelich geborene Sohn war bei der Mutter aufgewachsen. Kernig war 1935 aus Deutschland in die Tschechoslowakei geflohen, weil er als Sozialist politisch aktiv war.7

Als Flüchtling hatte Kernig das bittere Schicksal eines Emigranten kennen lernen müssen, das von Unsicherheit, finanzieller Not, Misstrauen der Behörden und Angst geprägt wurde. Wie manchen anderen Flüchtling hatte diese Ausnahmesituation des Emigrantenlebens auch Kernig in die dunkle Welt der geheimen Aufklärungstätigkeit und der Spionage geführt. Von Haus aus war er eigentlich Journalist, aber schon seit einiger Zeit war er hauptberuflich im Dienst der tschechischen Militäraufklärung tätig. Ausgestattet mit den falschen Papieren war aus dem in geheimer Mission agierenden Flüchtling wieder ein Mensch ohne Gesicht geworden, der sein Leben mit einer zunehmenden Zahl von Schicksalsgenossen im Vorkriegseuropa teilte.8

Die letzten Fahrgäste des Zubringerbusses stiegen vor dem Büro der Fluggesellschaft an der Nördlichen Esplanade (Pohjoinen Esplanadi) aus. Der Wintertag dämmerte schon, und der aus Stockholm eingereiste Gentleman blieb mit seinen Koffern im Straßengewühl zurück. Die Geheimpolizisten hatten keine Schwierigkeiten, unauffällig seine nächsten Handlungen zu beobachten. Kernig nahm seine Koffer auf und betrat das Büro von Aero. Nachdem er seine Formalitäten erledigt hatte, verließ er kurz danach das Büro mit einem Kofferträger und lenkte seine Schritte zum Hotel „Kämp“.9

In Finnland, wo man gerade mit den Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt war, gab es noch die Möglichkeit, die Ereignisse der übrigen Welt zu vergessen, wo sich die Lage immer mehr verdüsterte und zuspitzte, aber in Finnland glaubte man noch daran, dass es möglich sei, die Probleme gewaltlos zu lösen. Vom Krieg wurde jedoch schon oft gesprochen. Fern im Osten war er schon entflammt, denn der Eroberungsfeldzug des japanischen Kaiserreiches in China entwickelte sich im Juli 1937 zu einer handfesten militärischen Auseinandersetzung. Die japanische Armee hatte im August Shanghai erobert und der gegen die alte chinesische Hauptstadt Nanking fortgesetzte Angriff endete mit einem überragenden Sieg der Japaner. Am 13. Dezember hatten sie die chinesischen Truppen gezwungen, sich aus der Stadt zurückzuziehen. Die darauf folgenden Ereignisse ließen schon die unheilvollen Folgen des bevorstehenden Weltkrieges erahnen. Während Wilhelm Kernig am 15. Dezember 1937 in Helsinki die Pohjoinen Esplanadi entlang zum Hotel „Kämp“ ging, wurden die Einwohner von Nanking erschossen, vergewaltigt, als lebendige Ziele für Bajonettübungen benutzt und lebendig begraben.10

China war weit weg, aber der Krieg kam beständig näher nach Europa und nach Finnland. Am Abend des 15. Dezember 1937, als die Beschatter von Kernig wenig später das Hotel betraten, nachdem sie einige Zeit auf der Straße gewartet hatten, meldeten die Zeitungsredaktionen den Angriff der spanischen Republikaner auf die Stadt Teruel. Der Angriff hatte am selben Morgen überraschend im Schutz eines dichten Schneesturms und ohne Artillerievorbereitung begonnen. Bis zur Abenddämmerung hatte die Operation trotz der auch für spanische Verhältnisse schwierigen Topografie zu großen Geländegewinnen geführt, vor allem auf der Hochebene von La Muela de Teruel.11

Der Spanische Bürgerkrieg dauerte schon den zweiten Kriegswinter an. Die Ereignisse im Fernen Osten hatten gezeigt, wie hemmungslos sich ethnischer Hass entladen kann, die in Spanien wiederum, zu welch brutaler Gewalt ideologische Spannungen führen können. Der Krieg in Spanien bewegte sowohl die Rechten als auch die Linken in Spanien sowie anderswo in der Welt, sich für eine Seite zu entscheiden, und der bittere Bürgerkrieg erhielt darüber hinaus eine universelle Bedeutung. Manche waren auch der Ansicht, dass die Entscheidung in Spanien Einfluss auf das zukünftige Schicksal von ganz Europa haben würde.

Kernig und die ihn beschattenden Geheimpolizisten befanden sich nun im Hotel „Kämp“, das vor und während des Krieges ein Treffpunkt von vielen Journalisten, Heimatlosen, Abenteurern, Flüchtlingen – und Spionen in der finnischen Hauptstadt gewesen war. Wie in vielen anderen Hotels in Helsinki befanden sich unter dem Personal des Hotels „Kämp“ auch mehrere inoffizielle Mitarbeiter der Geheimpolizei. Sie beobachteten die Hotelgäste, erstatteten ihren jeweiligen Ansprechpartnern bei der Geheimpolizei Bericht; der eine tat es für Geld, der zweite hatte andere Beweggründe. Während sich Kernig sein Zimmer anschaute, stellten die in der Empfangshalle wartenden Geheimpolizisten dem Hausmeister Fragen, um weitere Informationen über ihn zu erfahren.12

Auch in Moskau wurde es allmählich Abend. Der erste Staat der Arbeiter und Bauern in der Welt bereitete sich auf die Nacht vor, nach einem Tag, der – jedenfalls laut den Parolen – das Leben noch fröhlicher und glücklicher als früher gemacht hatte. Die Sowjetunion hatte die vor kurzem ratifizierte „demokratischste Verfassung der Welt“, und nur ein paar Tage zuvor hatte das Sowjetvolk den Beweis seiner politischen Reife gezeigt, indem es eifrig, wie in der Verfassung vorgesehen, an den Wahlen zum Obersten Sowjet teilgenommen hatte. Gleichzeitig wurden die Schauprozesse fortgesetzt, in denen die führenden Mitglieder der kommunistischen Partei und der Sowjetgesellschaft immer absurdere Verbrechen gestanden hatten. In den Kellern und im Hinterhof des Hauptquartiers des sowjetischen Geheimdienstes am Lubjanka-Platz in Moskau fielen die Stahltüren krachend ins Schloss.13

Von Helsinki aus gesehen waren der Krieg wie auch die Ereignisse in Moskau noch weit weg. „Da der Winter ungewöhnlich früh begonnen hat, lohnt sich der Kauf eines Skianzugs“, hieß es in einer Werbeanzeige des Warenhauses „Stockmann“ und in Erwartung des baldigen Weihnachtsfestes wurde den Leuten „Le Coq-Weihnachtsglühextrakt“ sowie fertig gebratener Weihnachtsschinken im Teig angeboten. Im „Bio Rex“, im „Capitol“ und im „Kino-Palast“ liefen die neuen amerikanischen und deutschen Filme, es gab weiter die beliebten Theater-Dinner im Hotel „Kämp“ und die Cafés waren voll von Menschen, die Einkäufe in der Stadt machten.14 Diesen schloss sich auch bald Wilhelm Kernig an, der in seinem Hotelzimmer ein paar Briefe geschrieben hatte und dann unter Beobachtung der Geheimpolizisten erneut in die Stadt ging. Er gab die Briefe in der Hauptpost auf und die finnische Geheimpolizei informierte die schwedische Sicherheitspolizei über die Empfänger. Dann ging er ins Restaurant „Fazer“ in der Kluuvikatu, wo Kuosmanen und Thomenius ihre Schicht beendeten und ein neues Beschatterpaar den Beobachtungsauftrag übernahm.15

Während die Geheimpolizisten bei „Fazer“ ihre Schicht wechselten, ging der Tag auch in Berlin zu Ende. Obwohl es schon spät war, blieben die Fenster der Verwaltungsgebäude in der Hauptstadt des nationalsozialistischen Deutschlands beleuchtet. Immer weitergehende Pläne für die Zukunft Europas wurden sowohl in dem eleganten Gebäude des deutschen Außenministeriums und im bedrohlich aussehenden Bau des Reichsluftfahrtministeriums in der Wilhelmstraße sowie im Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei in der Prinz-Albrecht-Straße geschmiedet.

Gerade heute, am 15. Dezember 1937, standen die gespannten Beziehungen zwischen Deutschland, dem ehemaligen Heimatland von Wilhelm Kernig und seiner neuen Heimat, der Tschechoslowakei, im Mittelpunkt des Interesses. Der Anlass des Streites war, wie üblich, die Zukunft des ganzen Sudetenlandes sowie die Situation der Deutschen in diesem Gebiet, das zur Tschechoslowakei gehörte. Die Haltung Deutschlands zur Tschechoslowakei hatte sich ständig verschärft. Es war üblich geworden, dass die Tschechen der Diskriminierung und der wachsenden Unterdrückung der sudetendeutschen Minderheit beschuldigt wurden. Während Kernig von seinen Beschattern im Café „Fazer“ in Helsinki beobachtet wurde, versicherte die tschechische Regierung dem französischen Außenminister, der gerade in Prag zu Besuch war, die strittigen Fragen durch Verhandlungen lösen zu wollen. Gleichzeitig forderte sie Großbritannien und Frankreich, die Staaten, welche nach dem Ersten Weltkrieg im Friedensvertrag von Versailles die darin enthaltenen Staatsgrenzen garantiert hatten, nachdrücklich dazu auf, die Tschechoslowakei zu unterstützen. Normalerweise hatte man in gut unterrichteten Kreisen in Berlin die Verständigungsbereitschaft Prags notiert. Die Situation war angespannt, aber vielleicht könnte man auch ohne einen neuen Krieg die strittigen Fragen regeln.16

Die Zeitungen, die am Morgen des 16. Dezember erschienen, hatten schon in Erfahrung gebracht, dass der aus Schweden kommende und in Finnland eingereiste Herr Jaderny in Stockholm wegen Spionage verhaftet worden war. Die schwedische Polizei hatte ihn laut Zeitungsberichten unverzüglich des Landes verwiesen, und er war einfach in das Flugzeug nach Helsinki gesetzt worden. Das Endziel war Prag, wohin Jaderny über Helsinki und Warschau fliegen sollte. So geschah es auch. Nachdem Kernig ein paar Tage in Helsinki unter der ständigen Beobachtung der Geheimpolizei verbracht hatte, bestieg er am Flughafen Malmi das Flugzeug ein, welches über Reval (Tallinn) nach Warschau flog.17

Die Geschichte über Wilhelm Kernig und die finnische Geheimpolizei wäre hier zu Ende, wenn Kernig nicht im Mai 1939 nach Finnland zurückgekehrt wäre. Da hatte sich seine Lage entscheidend verschlechtert. Deutschland hatte die Tschechoslowakei, die ihm den Pass ausgestellt hatte, besetzt, und er gehörte nun endgültig zu den Menschen, die als Staatenlose in Europa herumirrten. Als die finnische Staatspolizei im Frühjahr 1939 zu verstehen gab, dass sie mit Kernig zusammenarbeiten wollte, ergriff er die Gelegenheit wie der Ertrinkende den Strohhalm und fuhr gleich nach Helsinki. Das war eine Entscheidung, die sein zukünftiges Schicksal bestimmte.

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