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Der rote Vulkan des Ostens. Die Sowjetunion als Sonderproblem Finnlands

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Die zielstrebige Herauslösung von Sowjet-Russland aus der Hochkultur Westeuropas ist in ihrem Ausmaß eine welthistorische Tat gewesen. Der Verlust von Millionen Menschenleben verringert auch in seiner Schrecklichkeit nicht die geniale Größe und die Zweckdienlichkeit. In Moskau ist mehr „Zukunft“ als vielleicht in jedem der heutigen Zentren Europas.28

Student der Philosophie Matti Kuusi über die Sowjetunion,

Finnlands Stamm I/1936

Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, die aus den Ruinen des russischen Imperiums 1922 entstand, war für die angrenzenden Länder ein schwieriger Partner. Der Kern des Problems war für Finnland und die übrige Welt, dass die Sowjetunion eine angriffswillige und expansionsbereite Diktatur war. In Beziehungen zu anderen Ländern hielt sich das Land nicht an die Regeln und befolgte nicht die Prinzipien der politischen Verantwortung, wie sie in offeneren politischen Systemen selbstverständlich sind, wie Demokratie, Parlamentarismus und Gesetzlichkeit. Die Bolschewiki sagten sich im Namen der revolutionären Ideologie von allen Einschränkungen los, die das staatliche Handeln bestimmten. Als Führer des bolschewistischen Umsturzes und als Gründer der Sowjetunion legte Lenin für die Sowjetführung gänzlich neue zu befolgende moralische Richtlinien vor, die bestimmten, dass alles richtig war, was dem Proletariat auf dem historischen Weg zum Kommunismus im Klassenkampf von Nutzen war.29

Die Sowjetunion war nicht und wollte nicht einmal ein Rechtstaat sein. Noch nicht einmal die vor der Sowjetmacht selbst verabschiedeten Gesetze waren für sie verbindlich, weil sie gemäß der selbst formulierten Definition von der „Sowjetgesetzlichkeit“ frei sein wollte, von Fall zu Fall selbst allein auf die Ziele der Revolution und des Klassenkampfes hinzuarbeiten.30 Nach derselben revolutionären Ethik betrachtete man die bürgerlichen Nachbarländer in erster Linie als Feinde. Im Kampf gegen sie waren für die Sowjetregierung keine Prinzipien oder Verträge verbindlich.31

Sowjetrussland und die Sowjetunion wurden von Anfang an mit Hilfe von Terror und Unterdrückung regiert. Nach der Lehre des Leninschen Klassenkampfes war ein Teil des Volkes schon aufgrund seiner Herkunft, Nationalität oder Bildung „antisowjetisch“ und damit „Feind des Volkes“. Sofern die Sowjetmacht ihre Macht stabilisieren und erhalten wollte, mussten die natürlichen Feinde, Gegner und Kritiker vernichtet, verhaftet und isoliert werden. Der Archipel Gulag, über den der Schriftsteller Aleksandr Solženitsyn später auch die westlichen Leser informierte, entstand schon in der 20er Jahren, als auf den Solowezki-Inseln (Solowki-Inseln) im Weißen Meer die ersten „Sonderlager“ errichtet wurden. Die Produktionsmaschinerie, die auf der Sklavenarbeit von Gefangenen basierte, wurde zu einem wesentlichen Teil der Sowjetwirtschaft und des Sowjetsystems. Die Gefangenenlager verlangten ständig nach neuen Arbeitskräften, die man beschaffte, indem immer mehr Sowjetbürger verhaftet wurden, bei Bedarf auch quotengemäß.32

In den Augen der Außenstehenden blieb die isolierte Sowjetunion lange das „Land der roten Dämmerung“, benannt nach dem in den 20er Jahren erschienenen und viel gelesenen Werk von Paul Dukes.33 In der Zeit des Bürgerkrieges, der auf den bolschewistischen Umsturz folgte und im Zuge der „neuen Wirtschaftspolitik“ in den 20er Jahren verhielt sich die Sowjetunion jedoch noch ziemlich passiv und war politisch ungefährlich. Ihre eigenen, hauptsächlich selbst verursachten Probleme waren so groß, dass sie nicht imstande war, die Weltrevolution zu verbreiten, außer vielleicht in Festreden.34

Nach Lenins Tod lähmte der Kampf um die Führungsposition, der offen zwischen den Parteiführern ausgebrochen war, die Sowjetunion. Im Laufe der 20er Jahre konnte Stalin seine Macht festigen. Infolgedessen wurde er gegen Ende des Jahrzehnts zuerst der Primus inter Pares und danach rückte er zum unumstrittenen Alleinherrscher der Sowjetunion auf. Ein Zeichen von Stalins Aufstieg war, dass der von ihm und seinen Anhängern ausgearbeitete erste Fünfjahresplan 1928 in Angriff genommen wurde. Mit dem Plan begann man den Widerstand, den es noch möglicherweise bei den Bauern und innerparteilich gab, zu ersticken. Das endgültige Ziel war die sozialistische, klassenlose Gesellschaft, in der die Ausbeuterklassen und die Reste des kapitalistischen Bewusstseins mit Hilfe des von oben geführten, systematischen und beschleunigten Klassenkampfes beseitigt werden sollten.35

Mit dem Aufstieg von Stalin trat die von einem autoritären Regime und von der Parteidiktatur geführte Sowjetunion in die gewalttätigste Phase ihrer Geschichte ein. Der Plan, das Land schnell zu industrialisieren, bedeutete in der Anfangsphase die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft; mit anderen Worten wurde der spärliche Rest der wirtschaftlichen Selbstständigkeit der Bauern vernichtet. Die ständig wachsende, von Stalin abhängige Gruppe von Parteifunktionären begann unter seiner Leitung diese Aufgabe mit beispielloser Erbarmungslosigkeit durchzuführen. Die Zwangskollektivierung führte zur selbstverursachten Hungersnot, die menschliche Dimensionen übersteigenden Industrieprojekte verschlangen zahlreiche Opfer, und der Archipel Gulag begann sich in eine riesige Schattengesellschaft zu verwandeln.36 Gleichzeitig griff Stalin die Elite des Landes an. Die Schauprozesse an führenden Kommunisten begannen nach der Ermordung des Parteisekretärs von Leningrad – das frühere St. Petersburg – Sergei Kirov im Jahre 1934. Einige Jahre später begann auf Veranlassung Stalins die als „Großer Terror“ bekannte Festnahme-, Verhaftungs-, und Hinrichtungswelle von gigantischem Ausmaß, die als Ziel hatte, der kommunistischen Partei und der ganzen Sowjetgesellschaft endgültig seinen Willen aufzuzwingen.37

Als ob diese Besonderheiten bei der inneren Entwicklung noch nicht gereicht hätten, verstärkte die Sowjetunion das im Ausland ohnehin vorhandene Misstrauen und die Feindseligkeit gegen den „Staat der Arbeiter und Bauern“ noch, indem sie umfassende Spionagetätigkeit betrieb und weiterhin offen an der Vorbereitung von Revolutionen im Ausland festhielt. Für diese internationale Arbeit hatte sie eine Organisation, die sogenannte „Dritte Kommunistische Internationale“ (Komintern), gegründet, die als „Vorhut der Weltrevolution“ die Tätigkeit der ausländischen kommunistischen Parteien zu kontrollieren und zu leiten hatte.38

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Die durchsickernden Informationen über die innere Entwicklung in der Sowjetunion führten lange dazu, dass ihre potenzielle Macht und Gefährlichkeit in Finnland unterschätzt wurden. Den gewöhnlichen Finnen war das Leben der Sowjetbürger größtenteils unbekannt, und sie verspürten keine Angst, da sie den Nachbarn wegen seiner Handlungen als rückständigen und tollpatschigen Riesen einschätzten. Die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gemachten militärischen Erfahrungen mit die Russen, die den Hauptteil der Sowjetbevölkerung stellten, gaben Anlass zu glauben, dass Finnland auch in zukünftigen Auseinandersetzungen aufgrund seiner qualitativen Überlegenheit bestehen könne.39

Finnlands politische Führung suchte jedoch während der ganzen Zeit zwischen den Weltkriegen nach einer Lösung um die durch die Nähe zur Sowjetunion entstandene Sicherheitsfrage, die im Laufe der 30er Jahre immer prekärer wurde. In der finnischen Außen- und Sicherheitspolitik rückte das aus diesem Grundproblem entstandene und mit der Zeit immer deutlicher gewordene Primat der Sowjetunion an die vorrangige Stelle.40

Die damalige Presse fütterten die Finnen ständig mit neuen, mehr oder weniger wahrheitsgetreuen Geschichten über die Sowjetunion und über die Unzuverlässigkeit, die Boshaftigkeit und die Hinterhältigkeit ihrer Einwohner. An der finnisch-sowjetischen Grenze gab es immer wieder Zwischenfälle, Schießereien und oft verschwanden Personen aus unerklärlichen Gründen. Die Fischer, Rentierzüchter und Holzarbeiter, die sich in den Grenzgebieten aufhielten, wurden schnell zum Opfer von brutalen und willkürlichen Maßnahmen der diensteifrigen sowjetischen Grenzwächter, und auf beiden Seiten der Grenze bewegten sich Schmuggler und Spione.41

Aus den Gebieten jenseits der Ostgrenze erhielten die finnischen Zeitungen in den 20er und 30er Jahren viele Nachrichten über die Zwangsumsiedlung der Karelier und der Ingermanländer sowie über den Staatsterror gegen die Bauern. Die aggressive Tätigkeit der Sowjetspionage in Finnland sorgte ein über das andere Mal für Aufsehen und Empörung. Die Aufdeckung des „großen Spionagefalles“ 1933, von der Flucht des Leutnants Vilho Pentikäinen und der Verhaftung von Marija-Emma Şūle sowie der Tod des Leiters der Patronenfabrik in Lapua, Volter Asplund, der sich später als Mord erwies, waren Aufsehen erregende Beispiele für den Ehrgeiz und die Skrupellosigkeit der sowjetischen Aufklärungstätigkeit.42

Mitte der 30er Jahre tauchten auch die sogenannten Geisterflugzeuge bei ihren nächtlichen Spionageflügen am Himmel in Nordfinnland auf. Es handelte sich dabei um ein offenes Geheimnis. Allen war klar, dass die Flugzeuge aus der Sowjetunion kamen und ebenso klar war, dass die Sowjetunion mit Sicherheit konsequent sowohl die Verletzungen des finnischen Luftraumes durch ihre Luftstreitkräfte dementierte als auch alle Spionagefälle als „antisowjetische Provokation“ zurückwies. Mit den Geisterflügen bereitete die Sowjetunion jedoch ihre militärischen Operationen im Norden vor. In den späten 30er Jahre kamen der finnischen politischen Führung deutliche Hinweise zu Ohren über die veränderte Einstellung der Sowjetunion zu Finnland und zu dessen Neutralität in Bezug auf einen möglichen zukünftigen Krieg.43

Die Polizei, besonders die Geheimpolizei und deren Nachfolger, die Staatspolizei, führte einen ständigen Kampf gegen die von der Sowjetunion unterstützte kommunistische Untergrundbewegung und gegen die in den 30er Jahren immer mehr zunehmende Sowjetspionage. Die wirkliche sowie die scheinbare Bedrohung durch den internationalen Kommunismus schuf auch zwischen den europäischen Sicherheitsbehörden ein besonderes, die nationalen Grenzen überschreitendes gemeinsames Gefühl einer beruflichen Zusammengehörigkeit. Besonders in dem von der Sowjetunion unmittelbar bedrohten Osteuropa schufen die Angst vor dem Bolschewismus, die Wirtschaftskrise und die ständig zunehmende Kriegsbedrohung das Fundament für eine umfassende und weit reichende Einigung über die Ziele der Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden. Bewegungen wie den Faschismus und den Nationalsozialismus beurteilte man in diesem Zusammenhang als Reaktion gegen den von der Sowjetunion vertretenen Bolschewismus und stufte sie deshalb schon von Anfang an als positiv ein.44

Spätestens gegen Ende der 30er Jahre ergaben sich auch für den Durchschnittsfinnen bei der Beurteilung der Sowjetunion neue Nuancen. Der aus dem Unabhängigkeitskampf und aus dem Bürgerkrieg stammende überhebliche Nationalismus begann allmählich zu verblassen. Neben das Überheblichkeitsgefühl, das auf Unwissenheit und Russenhass basierte, begann sich zunehmend ein Bewusstsein über die wachsende Macht und die Angriffsbereitschaft der Sowjetunion zu entwickeln.45 Gegen Ende der 30er Jahre war aus dem Symbol der Sowjetunion, beschrieben als „Land der roten Dämmerung“, das von unfähigen und einfältigen Bolschewiki bewohnt wurde, schon der am Horizont rauchende „rote Vulkan des Ostens“ geworden, der „sich anschickte, seine Lava über dieses Volk und dieses Land auszugießen“. Diese vom Schriftsteller Eino Hosia am Vorabend des Winterkrieges verfasste literarische Schilderung entsprach gut dem unter Finnen immer deutlicher werdenden Gefühl von der unberechenbaren und unkontrollierbaren sowjetischen Bedrohung.46

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