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Die politische Landschaft Europas in den 30er Jahren
ОглавлениеIch vermute, dass ich diesmal angeklagt werde, da ich die Fragen mit Parolen gelöst habe. Aber ist es meine Schuld – wenn das ganze Zeitalter nur aus Schlagwörtern bestand!18
Olavi Paavolainen im Vorwort seines Werkes „Kreuz und Hakenkreuz“ (1938)
Die Geschichte von Wilhelm Kernig ist mit ihren vielfältigen, überraschenden, spannenden und traurigen Phasen nur eines der Flüchtlingsschicksale, wie sie immer wieder in Kriegszeiten vorkommen. Die Geschichte von Kernig, die mit der geheimen Aufklärungstätigkeit verknüpft war, verbindet sich jedoch untrennbar mit dem Hauptziel dieser Forschungsarbeit, nämlich mit den Entwicklungsphasen der finnischen Staatspolizei.19 Schicksalhaft wurden besonders für ihn die engen Beziehungen der Staatspolizei zu den Sicherheitsbehörden des nationalsozialistischen Deutschlands sowie die Zusammenarbeit dieser Institutionen während des Krieges und ihre gemeinsamen Feindbilder. Um das Geschehene zu verstehen, muss man die langjährige Zusammenarbeit zwischen den finnischen und deutschen Sicherheitsbehörden von der Machtübernahme der Nationalsozialisten bis zu den Kriegsjahren untersuchen. Es reicht nicht, sich lediglich auf die Tätigkeit der Behörden zu konzentrieren, sondern man muss zuvor einen Überblick über das Zeitalter geben, um zu zeigen, wie die Menschen in den Ämtern arbeiten und denken mussten. Deshalb sollte man für einen Moment noch einen Blick auf die unruhige politische Landschaft der 30er werfen.20
Das 20. Jahrhundert wurde zum „Zeitalter der Ideologien“, als dessen Leitthema sich die lang anhaltende Krisenphase des traditionellen Liberalismus und des liberalen Gesellschaftsmodells herausbildete.21 Die Auseinandersetzung, die 1914 in Europa begann und globale Dimensionen annahm, verwandelte sich schnell zum Todeskampf der Imperien und führte zur vom ethnischen Hass geprägten blutigen Neuverteilung der Ressourcen und der Lebensräume. Das liberal-bürgerliche Gesellschaftsideal wurde gleichzeitig zum Gegenstand des Angriffs, zuerst von Seiten der revolutionären und radikal gesinnten Linken, dann von Seiten der reaktionären Rechten. Der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gilt als Phase des scheinbaren Friedens, als nur kurze Atempause vor der Lösung der Konflikte. Denn die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges begann in den 30er Jahren in Asien und in Afrika, bevor die Krise nach Europa überschwappte. Der Endpunkt des Krieges, der dann als sog. Kalter Krieg seine Fortsetzung fand, wurde erst mit dem möglicherweise bedeutendsten Ereignis des ideologischen Zeitalters, dem Zerfall der Sowjetunion und des Sowjetkommunismus im Jahre 1991 erreicht.22
Die endgültige Zuspitzung der liberalen Krise, die den Weg für das Zeitalter der Ideologien eröffnete, ereignete sich im Laufe der 30er Jahre. Ihr geistiges Startzeichen war der Börsenkrach im Oktober 1929 in New York. Er stürzte fast über Nacht sowohl die Volkswirtschaft der USA wie auch die mit ihr verbundenen internationalen Handelspartner in eine tiefe Krise. Es sah so aus, dass der vorausgesagte Untergang der westlichen Länder unmittelbar bevorstand.23 Eine Rettung schienen nur die kommunistische Planwirtschaft der Sowjetunion, die nur schwach mit der Weltwirtschaft verflochten war, sowie die autoritären und nationalistischen Rechtsgruppierungen zu bieten, die in der nationalen Lösung einen wirtschaftlichen Neuanfang suchten.24
Die 30er Jahre wurden ein Jahrzehnt des politischen Radikalismus, das auch für die Zeitgenossen nur schwer verständlich war. Die Versuche, totalitäre Staatsformen in Russland, Italien und in Deutschland zu errichten, waren sich darin einig, dass Ideale wie Wahrheit, Recht, Gesetzlichkeit und Demokratie nur relative Begriffe waren. Deren Inhalt hing immer davon ab, was jeweils zweckmäßig war. Die Ziele der gewaltsamen Diktaturen wurden in unverbindliche Reden und in gespielte Entrüstung für angeblich erhabene Prinzipien eingehüllt. Ein ganzes Zeitalter lebte nur von Parolen, wie der Schriftsteller Olavi Paavolainen anmerkte.25
Sowohl die Sowjetunion als auch das nationalsozialistische Deutschland waren radikal und revolutionär, aber in den Augen der Zeitgenossen schienen beide einen unversöhnlichen ideologischen Krieg gegeneinander zu führen. Die westliche Linke schaute auf die Sowjetunion, die behauptete, als einziger Staat in der Welt die sozialistische Revolution verwirklicht zu haben. Daher verdiene sie sowohl die Führungsposition in der sozialistischen Bewegung als auch die uneingeschränkte Unterstützung derer, die sich für wahre Sozialisten hielten. Die Rechten wiederum suchten Schutz bei Faschisten und Nationalsozialisten, die für sich proklamierten, die erbittertsten Gegner des Kommunismus zu sein. Näher betrachtet waren diese jedoch schwer von den vermeintlichen Erzfeinden zu unterscheiden.
Auch vom Standpunkt der Faschisten aus konnten die liberal-bürgerlichen Staatsideale nur sporadischen Wert haben, denn das Ziel des staatlichen Lebens sei nicht die Suche nach Idealen, sondern der Kampf um die durchschlagskräftigste Weltanschauung. Adolf Hitler, der nationalsozialistische Führer Deutschlands, hatte schon in der 20er Jahren eine Definition vorgestellt, wonach der Nationalsozialismus eine „prinzipiell antimarxistische, leidenschaftliche und machthungrige neue Ideologie“ sei. Nur eine solche Lehre wäre imstande, den Kampf gegen den Kommunismus zum Sieg zu führen, der allein mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratien nicht zu erreichen sei.26
Bewegungen wie der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus gewannen einen großen Teil ihrer politischen Triebkraft ausdrücklich daraus, dass sie lautstark gegen die Sowjetunion und gegen den Kommunismus auftraten. Dadurch bekamen sie Unterstützung auch von solchen Kreisen, die sonst kaum radikale Gruppen unterstützt hätten, welche nur ansatzweise nach Revolution und Sozialismus rochen. Die Bürger in ganz Europa mit einer kritischen Einstellung zur Sowjetunion fanden so wenigstens etwas Positives an Hitlers neuem Deutschland, das mit scharfen Worten die Sowjetunion attackierte und noch härter agierte, wenn es darum ging, die eigenen Kommunisten zu unterdrücken. Wegen der eigenen grenzenlosen Dynamik und wegen der Maßlosigkeit der in der Folge entstandenen Gegenbewegungen entwickelte sich aus der politischen Ideologie in der Sowjetunion eine der wichtigsten Triebkräfte des Zeitalters.27