Читать книгу Liebst Du mich auch? - Patricia B. McConnell - Страница 10

1 GEFÜHLE Eine Erklärung der Gefühle und warum sie bei Tieren so widersprüchlich sind

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Am Anfang war alles, was ich aus dem Augenwinkel heraus wahrnahm, etwas verschwommen Weißes. Es war weit weg, so um die fünfhundert Meter, und ich war zuerst nicht sicher, was es war. Meine Konzentration galt meinem Border Collie Luke, der in etwa zweihundert Meter Entfernung mit Höchstgeschwindigkeit rannte. Ich hatte ihn zu einer weit entfernt grasenden Schafherde geschickt. Wir waren auf einem dieser »Spaßtreffen« von Hütehund-Enthusiasten, an dem alle in der Atmosphäre von Hunden, Schafen und den schlabbrigen Liebesbezeugungen kleiner Welpen baden.

Viele Menschen, die an diesem Tag da waren, nahmen sonst ernsthaft an Hütehundwettbewerben teil und waren dankbar für die Gelegenheit, irgendwo auswärts einmal ihre Fertigkeiten verfeinern zu können. Luke und ich hingegen waren einfach nur zum Spielen da. Luke war zu alt für die Teilnahme an Wettkämpfen und wir waren aus reinem Vergnügen hergekommen. Wir arbeiteten gerne zusammen, Luke und ich, wenn wir ruhig, vorsichtig und mit aller Raffinesse Schafe übers Land trieben. Als klassischer Workaholic liebte Luke die Arbeit an den Schafen so sehr, dass er weder an Futter noch an Tennisbällen oder sogar an läufigen Hündinnen interessiert war, wenn es einen Job zu erledigen gab. Meinem verlässlichen schwarzweißen Hund dabei zuzusehen, wie er vor dem smaragdgrünen Hügel einen perfekten Outrun hinlegte, weitete mein Herz und füllte meine Seele. So fühlte ich auch an diesem Morgen, als ich zuschaute, wie mein guter alter Hund perfekt und zuverlässig auf die Wollknäuel da hinten auf dem Hügel zulief.

Aber all meine Gefühle änderten sich schlagartig, als mir bewusst wurde, dass das verschwommen Weiße, das da auf Luke zurannte, ein fünfzig Kilo schwerer Pyrenäenberghund war, ein Herdenschutzhund, der sich aus seiner vorübergehenden Gefangenschaft befreit hatte und nun auf Luke zuwalzte, um seine Herde zu schützen. Wir waren auf einer riesigen, allein gelegenen Farm, auf der mehrere Schafherden verteilt lebten – ein gedeckter Tisch für die häufig hier übers Land streunenden Kojoten und verwilderten Hunde. Viele Schafhcüter im Süden Wisconsins brauchen Schutzhunde, um ihre Herden zu sichern, und diese Farm hatte zwei davon. Im Gegensatz zu meiner Herdenschutzhündin Tulip, die die Farm nun von der Wohnzimmercouch aus bewacht, lebten diese Hunde ausschließlich in der Herde und nahmen ihren Job todernst, alles und jeden umzubringen, der ihre Schafe bedrohte.2

Als ich den Herdenschutzhund auf Luke zurennen sah, verwandelte sich mein Gefühl der freudigen Erfüllung in blankes Entsetzen. Der Gedanke, dass ich vielleicht gleich zusehen müsste, wie mein Hund angegriffen und möglicherweise getötet werden würde, überwältigte mich. Ich liebe Luke so sehr, dass es schon beinahe schmerzt.3 In Der Hund ist mein Copilot, einem Aufsatz darüber, warum wir Hunde so sehr lieben, hatte ich über Luke geschrieben: »Ich liebe ihn so tief und vollkommen, dass ich mir seinen Tod so vorstelle, als ob aller Sauerstoff aus der Luft genommen würde und ich ohne ihn zu überleben versuchen müsste.«

Voller Horror bei dem Gedanken an das, was meiner Meinung nach gleich geschehen würde, schrie ich: »Der Schutzhund ist raus, der Schutzhund ist raus!« Das, was alle sehen konnten, auszusprechen, trug zwar nicht zur Problemlösung bei, aber mir schien es alles zu sein, was ich tun konnte. Eine Sekunde lang, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, war mein Verstand ein schwarzes Loch, so, als ob meine Gefühle den rationellen Teil meines Gehirns aufgesogen und nur eine leere Schädelhöhle mit nichts als Angst darin zurückgelassen hätten. Ich kann mich jetzt noch an die Panik erinnern und mir die Szene vor meinem inneren Auge wie auf einem Foto vorstellen: Die smaragdgrüne Weide, der schwarzweiße Luke in vollem Lauf genau da, wo er sein sollte und eine weiße Kugel voller Unheil, die über das Gras auf ihn zuschoss.

Aber was war mit Luke? Was ging durch seinen Kopf, als er im Gras kauerte und dieser Killer in Hundegestellt auf ihn zurannte? Hatte er genauso viel Angst wie ich? Und wenn ja, wie sehr ähnelte seine Version von Angst der meinen?

Luke und ich waren beste Freunde, so wie viele Hunde und Menschen auf der ganzen Welt beste Freunde sind. Wie Freunde das so tun, teilten wir lange Spaziergänge in schattigen Wäldern miteinander, leckere Abendessen mit Brathühnchen oder Lamm und lange, schläfrige Schmusestunden auf der Couch im tiefen Winter. Wir teilten harte Zeiten miteinander, wenn wir mit wilden Augen dreinschauende Marktlämmer auf den Laster verluden, uns spät in der Nacht auf fremden, einsamen Straßen verfahren hatten oder bei der Hütearbeit Fehler machten, die uns wertvolle Zeit und Energie und bei einer Gelegenheit auch eine blaue Schleife auf einem Hütehundwettbewerb gekostet hatten. Wir spielten zusammen, arbeiteten zusammen, trösteten einander und zankten gelegentlich ein bisschen. Unsere beiden Leben waren in vielerlei Hinsicht so eng miteinander verbunden wie die von zwei menschlichen besten Freunden.

All diese Erfahrungen sagen aber nicht viel darüber aus, wie wir die Welt im Inneren unseres Kopfes erlebten. Wir haben zwar äußerliche Erfahrungen wie die Spaziergänge im Wald und Schlummerstündchen auf der Couch geteilt, aber was ist mit den inneren Erfahrungen? Wie viel hatten wir da gemeinsam? Ich sagte bereits, dass Luke manchmal die Geduld mit mir verlor – aber woher wollte ich das wissen? Wie kann irgendjemand von uns ohne Sprache als Brücke wissen, was in den Köpfen unserer Hunde vorgeht?

In gewisser Hinsicht können wir es auch nicht. Wir werden nie erfahren, wie es ist, ein Hund zu sein; manche sind der Meinung, dass wir es auch gar nicht erst versuchen sollten. Aber viele von uns versuchen jeden Tag, das Geistesleben unserer Hunde zu verstehen und wir werden bestimmt nicht aufgeben, nur, weil das schwierig ist. Eine meiner ersten Kindheitserinnerungen ist, dass ich auf dem Wohnzimmerboden lag und mich fragte, was wohl im Kopf unserer Hündin Fudge vorginge. Ich wollte wissen, was sie dachte und fühlte. Schon im Alter von fünf oder sechs hatte ich mich gefragt: Wie sieht das Leben in ihrem weichen, pelzigen, kleinen Kopf aus? Ist sie glücklich? Ist sie traurig?

Dies sind vernünftige Fragen für jeden Hundebesitzer. Unsere emotionale Verbindung zu unseren Hunden ist der Leim, der uns an sie bindet, und es ist nur allzu natürlich, dass wir mehr über ihre emotionale Bindung an uns erfahren möchten. Mit unseren Hunden können wir nicht wie mit unseren menschlichen Freunden stundenlange intellektuelle Diskussionen führen – vielleicht macht auch das einen Teil der Anziehungskraft aus. Unsere Intelligenz und unsere Fähigkeit zum Sprachgebrauch können unsere zwischenmenschlichen Beziehungen manchmal ganz schön kompliziert machen, wie jeder Ehe- oder Familienberater Ihnen bestätigen kann. Unsere Beziehungen zu Hunden sind in vielerlei Hinsicht einfacher als die zu Menschen, aber dass es etwas einfacher ist, heißt noch nicht, dass es weniger wichtig ist. E = mc2 ist eine einfache Gleichung, die einen sehr hohen Wert hat. Vielleicht ist unsere emotionale Bindung zu Hunden so ähnlich: rein, ursprünglich und so grundlegend wichtig wie Sauerstoff und Wasser.

Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich in dieser endlosen Sekunde, in der Luke in Gefahr war, losrannte oder vor Schreck erstarrt stehen blieb, aber es dauerte nur einen Moment oder zwei, bis eine ruhige Frauenstimme hinter mir sagte: »Legen Sie Ihren Hund ins Down.« Ich werde ihr ewig dankbar sein, denn das war die perfekte Anweisung. Ein Herdenschutzhund im Dienst wird vermutlich nicht aggressiv auf einen Hund reagieren, der sich flach hinlegt und ruhig bleibt, anstatt wie ein hungriger Wolf auf die Schafe zuzurennen. »Lie down!« schrie ich, und zweihundert Meter entfernt ließ sich Luke in den Dreck fallen wie ein Marinesoldat im Manöver. Wäre Luke noch ein jüngerer Hund gewesen, wäre er vielleicht weitergerannt. Von einem Hund zu verlangen, mitten in einem Outrun zu stoppen, geht gegen seine Natur, und auch wenn ein erfahrener, wettkampffertiger Hütehund das beherrschen sollte, ist es doch eine schwierige Übung, die viel ernsthafte gemeinsame Arbeit voraussetzt.

Vielleicht haben sein Alter und seine gute Ausbildung Luke das Leben gerettet, weil er sich auf meine erste Aufforderung hin ins Gras fallen ließ. Gerade noch rechtzeitig: Der Herdenschutzhund war in wenigen Sekunden bei ihm angekommen. »Bleib da,« sagte ich mit langsamer, gleichmäßiger Stimme, und kam allmählich endlich wieder so zur Besinnung, dass ich funktionieren konnte. Luke blieb bewegungslos wie gegen den Hügel geklebt liegen, während der Pyrenäenberghund ihn vom Kopf bis zu den Zehen abschnüffelte. (Na ja, genaugenommen schnüffelte er vom Hinterteil angefangen bis zum Fang, aber Sie wissen, was ich meine.)

Auch wenn ich immer noch schreckliche Angst hatte, dass Luke etwas passieren könnte, arbeitete mein Gehirn doch wieder und ich konnte mich daran erinnern, dass auch mein eigener Herdenschutzhund darauf bestand, jeden Hund, der zu Besuch kam, vom Kragen an abwärts zu inspizieren. Nur ein einziges Mal hatte Tulip aggressiv auf einen zu Besuch gekommenen Hund reagiert – als dieser vor ihr wegrannte, anstatt zur Leibesvisitation stillzustehen. Das erinnert mich an die Sicherheitskontrolleure auf dem Flughafen, die uns wohlgesonnen sind, wenn wir ihren Anweisungen folgen, aber sofort auf jeden reagieren, der irgendwie Widerstand leistet. Tulip verhält sich ganz ähnlich, und sobald sie festgestellt hat, dass die hündischen Touristen kein Äquivalent zu scharfen oder spitzen Gegenständen in der Tasche haben, ignoriert sie sie oder fordert sie zum Spielen auf. Genau das geschah auch an jenem Morgen auf dem Hütehundtreffen. Nach einer Runde intensiven Beschnüffelns trottete der Hund fort, um nach seiner Herde zu sehen. Schon bald kam sein Besitzer und brachte ihn weg, Luke konnte seinen Outrun fortsetzen und die Schafe den Hügel hinab zu mir bringen.

Nach dem Zwischenspiel mit dem Herdenschutzhund hatten wir noch viel Spaß bei der Arbeit mit der Herde und fuhren müde von dem Tag an der frischen Luft nach Hause. Später erzählte ich einer Kundin, was passiert war, und sie befürchtete, dass Luke eine Traumatisierung davongetragen haben könnte. »Sehen Sie meinen armen alten Brandy hier an (der Hund, der zu ihren Füßen lag und wegen eines schwerwiegenden Aggressionsproblems zu mir ins Büro gekommen war). Er hat nie vergessen, wie er einmal von diesem schwarzen Labrador auf der Hundewiese angegriffen wurde. Sie können es ja jetzt noch in seinen Augen sehen.«

Es war schwierig, in Brandys Augen zu sehen, weil diese von champagnerfarbenen Ponyfransen verdeckt waren, aber was ich erkennen konnte, sah ziemlich nach einem Hund aus, der glücklich an dem von mir geschenkten Kauknochen herumnagte. (Wir werden später noch darüber sprechen, wie traumatische Ereignisse das Verhalten von Hunden noch Jahre nach dem Geschehen beeinflussen können, genau wie das bei Menschen vorkommt.) Wenn ich meine eigene Vermutung darüber hätte anstellen sollen, welchen inneren Zustand Brandys Augen in meinem Büro ausdrückten, dann hätte ich Zufriedenheit gesagt, nicht Trauma.

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