Читать книгу Aneurysma - Patricia Grotz - Страница 12

07. Neue Normalität

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Drei Monate später, als sich Peters Darm gefühlte hundertmal um sich selbst gewunden hatte, wurden die Bauchkrämpfe erträglicher. Seit langer Zeit waren wir das erste Mal so richtig entspannt – für einen Tag. Am nächsten Tag krümmte sich Peter vor Schmerzen und bekam kaum mehr Luft zum Atmen.

Sofort rief ich den Notarzt, schilderte Peters Zustand, fügte hinzu, dass es sich um einen relativ frisch operierten Aneurysma-Patienten handle und teilte den Namen der Klinik mit, in der er operiert worden war, sowie den Namen des Chirurgen. Es war ja nicht auszuschließen, dass die eingesetzte Prothese an den Nähten gerissen war.

Peter stand, mit den Knien an die Couch gelehnt, vornübergebeugt, die gestreckten Arme auf die Rückenlehne gestützt und konnte seine Position nicht mehr verändern.

Bereits vier Minuten später klingelte es. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, stürmte eine aufgeregte Truppe von vielen Männern mit großen Taschen an mir vorbei, von denen einige gleichzeitig riefen:

»Wo ist der Patient?«

Sie wurden angeführt vom örtlichen Feuerwehrkommandanten. Außer ihm trugen alle rote Anzüge. Ich streckte den Arm aus, zeigte stumm Richtung Wohnzimmer und blieb so stehen, denn der Strom von hereinstürzenden Menschen riss nicht ab und alle polterten am Kinderzimmer vorbei. Ich ließ die Eingangstür einfach offen stehen, holte den kleinen Jonas aus seinem Zimmer, nahm ihn auf den Arm und versuchte ihm ganz ruhig zu erklären, dass wir Besuch von ein paar Leuten in lustigen roten Anzügen hätten.

Unsere Wohnung war eigentlich gar nicht so klein, aber jetzt war sie voll und ich war überall im Weg.

Als Jonas das Treiben im Wohnzimmer sah, stellte er das Kauen auf seinem Schnuller ein. Ich erwartete einen seiner witzigen Kommentare, die er in ungewöhnlichen Situationen neuerdings von sich gab. Doch diesmal schien er wirklich überrascht. Sein Gesicht erstarrte mit offenem Mund und der Schnuller glitt unbemerkt zu Boden.

Leere Kanülen flogen durch die Luft, nicht benötigte Zugangsschläuche und Reste von Verbandsmaterial segelten auf den Boden. Die Sanitäter riefen sich hektisch Diagnosen und Anordnungen zu. Der Feuerwehrkommandant ging auf den Balkon und suchte prüfend den Himmel ab. Kurz darauf schrie er:

»Es kann losgehen!«

Sofort bediente einer der Männer sein Walkie-Talkie. Ja, der Krankenwagen, der den Patienten zum Rettungshubschrauber transportieren würde, stand vor dem Haus bereit. Ich vernahm die Geräusche eines Helikopters, die rasch lauter wurden. Jetzt wurde mir schlagartig klar, was der Kommandant der Feuerwehr eigentlich mit alledem hier zu tun hatte: Er war für die Sicherung des Landeplatzes und die Koordination verantwortlich!

Die fahrbare Trage war längst vorbereitet und wurde an Peter herangeschoben. Aus seinem Arm hing ein langer Schlauch, der in ein flaschenartiges Plastikgefäß mündete, das von einem der Sanitäter in die Höhe gehalten wurde. Vier andere hoben Peter auf die Trage, legten ihn vorsichtig hin und schnallten ihn fest. Nun bewegte sich alles Richtung Ausgang. Nachdem meine Person keinerlei Beachtung fand, rief ich der Gruppe hinterher:

»Wo bringen Sie ihn hin?«

Ich konnte nicht ausmachen, wer mir antwortete, war aber dankbar, dass überhaupt jemand auf meine Frage reagierte. Das Ziel war die Klinik, die ich am Telefon genannt hatte.

»Der Professor ist schon verständigt und auf dem Weg in den OP! Wir müssten es in sieben Minuten schaffen! Alles Gute für Sie!«

Dann eilte der Feuerwehrkommandant an mir vorbei und drückte kurz aber mitfühlend meine Hand.

»Scheiße, Scheiße! Das Herz! Alles Gute!«

Sekunden später war die Wohnung leer.

Diese letzten, eiligen Worte hallten in mir nach. "Scheiße, Scheiße! Das Herz!" Bisher hatte ich gedacht, Peters Herz wäre vollkommen in Ordnung. War ich jetzt beunruhigt? Nein, na ja eine Spur, aber nur ganz kurz. Ich wusste ja, dass Peters Herz gesund war. Verwechslungen von Aneurysmen mit Herzerkrankungen kamen oft vor. Meines Wissens nach verband die beiden Erkrankungen nichts, außer vielleicht ihre Bedrohlichkeit – und natürlich die Notwendigkeit einer schnellen Behandlung. (Wie ich später erfuhr, hatte der Feuerwehrkommandant aufgrund der gebotenen Eile auf einen Herzinfarkt geschlossen.)

Ich ging mit Jonas auf den Balkon. Drei Minuten später schwoll das Motorengeräusch an und der startende Hubschrauber stieg vor unseren Augen auf. Ich sah auf die Uhr und fasste zusammen: Vier Minuten vom Anruf bis zum Eintreffen der Notärzte, weitere vier für die Transportvorbereitungen des Patienten. Drei Minuten bis zum Hubschrauber, sieben Minuten Flug. Schätzungsweise weitere fünf Minuten bis in den Operationssaal. Wow! Was für eine Leistung! Was für ein perfekt ineinandergreifendes System! Ich war begeistert, dass so etwas möglich war! Dann addierte ich die Zeiten: dreiundzwanzig Minuten – Mist. Bei einem Platzen der Aorta hat man höchstens zwanzig Minuten Zeit, um das Leben des Patienten zu retten. Ich rechnete nochmal, ließ die fünf Minuten bis zum OP als Variable offen und hoffte auf Rückenwind beim Flug.

»Schau, Jonas, da fliegt der Papa.«

Ich winkte, bis der Hubschrauber über den Hausdächern verschwunden war. Jonas sah mich an, als sei ich nicht ganz bei Verstand, sprach aber noch immer nicht. Er wurde mir langsam schwer auf dem Arm, als ich jedoch das Chaos im Wohnzimmer betrachtete, umklammerte ich ihn noch fester. Die Möbel standen nicht mehr an ihrem Platz. Der Boden war übersät mit Infusionsnadeln, Schläuchen, Klebebändern, leeren Kanülen und aufgebrochenen Glasampullen, die sehr scharfe Kanten hatten. Die meisten hatten die gleiche Aufschrift: DIAZEPAM. Ich erinnerte mich. Die Ärzte hatten immer wieder eine Dosis injiziert, bis Peters Blutdruck und sein rasender Puls endlich gesunken waren. Für seine hundert Kilo Körpergewicht hatte es offensichtlich etwas mehr gebraucht.

Jonas streckte seine Hand aus und zeigte stumm auf seinen Schnuller am Boden.

»Weißt du was, Jonas. Heute ist dein Glückstag. Du bekommst einen neuen Schnuller.«

Ich ließ ihn zwischen zwei bunt verpackten Modellen auswählen, stülpte mir einen Handschuh über und stellte den Mülleimer mitten ins Wohnzimmer.

»Viele Leute mit schmutzigen Schuhen sind heute hier durchgegangen. Wir werfen einfach alles weg, was auf dem Boden liegt und du passt auf, dass ich nichts übersehe.«

Als sein Schnuller im Müll landete, zuckte Jonas ein wenig, zeigte dann aber auf jeden noch so kleinen Glassplitter. Diese Prozedur dauerte.

Danach wusste ich nicht so recht, was ich anfangen sollte. Eigentlich wollte ich hinterherfahren. Aber Peter hatte sowohl das abgelehnt, als auch die Benachrichtigung seines Bruder. Er sagte, die Anwesenheit von Familienmitgliedern oder auch Freunden im Krankenhaus wäre sinnlos und für ihn nur eine Belastung. Ich würde sowieso telefonisch über alles informiert werden.

Gefühle der Angst durchfluteten mich. Ich wollte meinen Peter wiederhaben. Ich konnte mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen.

Um mich abzulenken, entschied ich mich für ein Spiel mit Jonas, bei dem man von verdeckt aufgelegten Karten jeweils zwei zusammengehörige finden und umdrehen musste.

Ich verlor.

Aneurysma

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