Читать книгу Aneurysma - Patricia Grotz - Страница 8
03. Liebe auf den ersten Blick
ОглавлениеIn der Nacht vor der Operation konnte ich keinen Schlaf finden. Ich versuchte, mich zu entspannen, schloss die Augen und erinnerte mich an den Tag, an dem ich Peter kennengelernt hatte.
Es war im Sommer 1985 gewesen. Ich war sechsundzwanzig, von Beruf Maskenbildnerin und eigentlich glücklich. Ich hatte mich nur unlängst entschlossen, den Rest meines Lebens alleine zu verbringen, da es das, was ich mir unter einem Mann vorstellte, auf dieser Welt nicht zu geben schien. Für eine erkrankte Kollegin hatte ich einen Drehtag übernommen und war auf dem Weg zum Büro des Produktionsleiters, um mich vorzustellen. Ich erwartete das laute, geschäftige Treiben, das ich von Produktionsbüros kannte, klopfte kurz an die Tür, öffnete sie – und hatte das Gefühl, in eine andere Welt einzutreten. Es war vollkommen still. Ich stand in einem großen, hohen, halbdunklen Raum, der eine Atmosphäre ausstrahlte, die mich mit Wohlbehagen erfüllte. Rauchschwaden waberten durch die Luft, in denen sich die Sonnenstrahlen brachen, die zu dieser Tageszeit ihren Weg durch das Fenster fanden. Ein massiver dunkler Schreibtisch stand mitten im Raum – und dahinter stand er! Ein großer, kräftiger Mann mit dunkelblonden, halblangen, lockigen Haaren. Der melierte Dreitagebart gab dem weichen Gesicht einen perfekten Rahmen. Zwischen Mittel- und Zeigefinger seiner rechten Hand steckte eine brennende filterlose Zigarette, die Ursache der Rauchschwaden. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er trug eine ausgewaschene Jeans, die seinen wirklich atemberaubenden Körperbau betonte. Ein weißes Hemd war locker in die Hose hineingestopft und fiel leger über den kräftigen Brustkorb.
Er stand nur da und sah mich an. Plötzlich dachte ich an meine Mutter, die mich erst neulich wieder besorgt gefragt hatte, wie denn ein Mann sein sollte, der mir gefallen würde, nachdem ich Männer als eine lästige Anhäufung von Machos bezeichnet hatte. Hier war die Antwort, liebe Mami, so, genau so stellte ich mir einen Mann vor. So sollte er aussehen und so sollte er sein, ruhig und zurückhaltend.
Er stand immer noch nur da und sagte nichts und ich hatte Zeit, sein Gesicht zu betrachten – in dem ich alles fand, was ich mir je gewünscht hatte in einem Gesicht lesen zu können: Wissen, Tiefgründigkeit und Bescheidenheit. Eigentlich sah ich alles in diesem Gesicht, das Leben und die ganze Welt.
Leider hielt ich dieses herrliche Kribbeln in meinem Körper nicht lange aus und quasselte los. Ich stellte mich vor und fragte nach den Maskenräumen. Er stellte sich ebenfalls vor und beschrieb mir den Weg. Er hieß Peter! In diesem Moment war das für mich der schönste Name der Welt. Ich sagte, ich würde nach Drehschluss noch einmal vorbeikommen, ging hinaus und schloss die Tür. Atemlos lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wand. Offensichtlich hatte ich vergessen Luft zu holen, während mich diese tiefe, angenehm warme Stimme durchflutete. Die Beschreibung des Weges zum Studio dagegen war nicht bis in mein Gehirn vorgedrungen, ich fragte den nächsten Menschen danach, der mir begegnete. Am Ende des Arbeitstags ging ich wieder zu Peter. Er lächelte mich an, sagte, der Tag sei gut verlaufen, alle wären sehr zufrieden gewesen und ob er mich wieder buchen dürfe. Ich antwortete, wie immer spontan und ohne nachzudenken:
»Aber nicht für diese Gage.«
Peter zuckte mit den Schultern.
»Schade, ich hätte mich gefreut, wenn wir uns wiedergesehen hätten.«
Die Verabschiedung fiel kurz aus. Kopfschüttelnd wankte ich den Gang entlang. Was hatte ich getan! Ich war doch nicht ganz bei Sinnen! Könnte ich nicht einmal eine Ausnahme machen und etwas weniger verlangen, nur bei dieser Firma? Nein, das konnte ich nicht. Ich hielt an meinen Prinzipien fest, vor allem, was die Gagenforderung betraf, immer. Doch diesmal litt ich eine Weile darunter.
Ein Jahr später führte uns der Zufall wieder zusammen. Ich war, zu meiner normalen Gage, für einen einwöchigen "Auswärts-Dreh" gebucht worden. Der zuständige Produktionsleiter hatte keine Lust auf Hotels und wollte in heimischen Gefilden bleiben. Peter übernahm, er war gerne unterwegs und das am liebsten in Gesellschaft. Er rief mich an, war erfreut darüber, dass wir wieder zusammenarbeiten würden und lud mich ein, mit ihm zu fahren. Er versicherte mir, dass mein gesamtes Equipment in den Kofferraum seines alten Autos passen würde.
Auf der vierstündigen Fahrt ergaben sich interessante, offene und ungewöhnlich tiefgehende Gespräche, wie man sie nur selten mit einem Menschen führt, den man kaum kennt. Allerdings endeten sie abrupt am Ortsschild unseres Zielortes, bei dem Peter anhielt, um mir den Stadtplan zu reichen und mich bat, ihn zum Hotel zu lotsen. Ich wunderte mich, er war doch der Produktionsleiter! Ich hielt es für einen Test, ob ich eine Straßenkarte lesen konnte, hatte aber weder Zeit, darüber nachzudenken, noch darüber zu diskutieren. Wir standen an einer roten Ampel und Peter fragte, wohin er fahren sollte. Ich überflog die Straßenkarte, war aber doch neugierig.
»Ich glaube dir nicht, dass du den Weg zum Hotel nicht kennst.«
»Ich habe keine Ahnung. Gelb.«
»Was?«
»Grün.«
Die Autos hinter uns hupten. Peter blieb ganz ruhig hinter dem Steuer sitzen und wartete auf meine Ansage. Ich sah wieder auf die Karte.
»Links.«
Peter setzte den Blinker und bog ohne Eile nach links ab. Zumindest schien er links und rechts unterscheiden zu können.
»Hast du nicht vorhin erzählt, dass du letztes Jahr schon hier warst, im selben Hotel?«
Peter nickte.
»Ich habe keinen Orientierungssinn auf Straßen.«
So etwas hatte ich noch nie gehört. Ich erinnerte mich an jede Straße, auf der ich schon einmal gefahren war, auch wenn es Jahre her war.
»Findest du wenigstens nach Hause?«
Peter lächelte.
»Meistens.«
Er fragte mich an jeder Kreuzung, wohin er fahren sollte. Meine Verwunderung hielt noch bis zur dritten Ampel an, danach fand ich es komisch. Am Hotel angekommen, liefen mir vor Lachen die Tränen herunter. Ein orientierungsloser Produktionsleiter, wie sympathisch! Und ein Mann, der nicht daran dachte, ein Unvermögen zu verheimlichen, wie außergewöhnlich erfrischend!
In der folgenden Woche fand ich heraus, dass Peter Angst vor elektrischem Strom hatte, deswegen ungern Glühbirnen auswechselte und auch sonst kein begeisterter Handwerker war. Zum Austausch von Glühbirnen brauchte ich wahrlich niemanden und Männer, die vorgaben, alles zu können, langweilten mich. Ich interessierte mich eher für den Intellekt eines Menschen. Und was Peter an Scharfblick und Klugheit bot, übertraf noch meine Wunschvorstellung eines vollkommenen Charakters. Noch dazu besaß er, was mir fehlte: Demut und Belesenheit.
Am fünften Tag unseres Aufenthaltes rief ich meine Mutter an, um ihr zu sagen, dass sie mir keinen Mann mehr backen müsse, den, den ich immer gesucht hatte, gab es aus Fleisch und Blut.
Seit diesem Tag arbeiteten wir zusammen, lebten zusammen, unternahmen viele Reisen gemeinsam und ergänzten uns in allen Bereichen. Aber unsere anfängliche Lebensplanung, niemals zu heiraten oder Kinder bekommen zu wollen, stellte Peter nach neun Jahren in Frage. Wir waren erfolgreich im Beruf und verdienten genug für ein angenehmes Leben. Aber wir waren wohl zu sehr mit der Welt der Illusionen, dem Film, beschäftigt, um zu merken, wie schnell die Zeit verging. Irgendwann, so sagte Peter, würde uns die Oberflächlichkeit dieser glitzernden Scheinwelt nicht mehr zufriedenstellen. Irgendwann wollten wir vielleicht in der wirklichen Welt leben, und wenn es noch lange dauerte, das zu erkennen, würde es für ein eigenes Kind zu spät sein. Damit verblüffte er mich, aber ich musste ihm natürlich Recht geben. Seine nächste Idee dagegen überstrapazierte mein Entgegenkommen: Als ich schwanger wurde, wollte er mich auch noch heiraten! Ich versuchte, mich aus der Affäre zu ziehen, indem ich einfach nicht darauf reagierte. Aber Peter stocherte er verbal in meinem Gewissen herum. Ob ich ihm tatsächlich zumuten wolle, dass er sein eigenes Kind werde adoptieren müssen?
Mir wurde klar:
Das Zusammenleben mit einem anderen Menschen war ein einziger Kompromiss.