Читать книгу Aneurysma - Patricia Grotz - Страница 14
09. Irland
ОглавлениеPeter war nicht nur ängstlicher geworden, sondern auch noch nachdenklicher. Der geborene Optimist war er noch nie gewesen, aber jetzt überschritt seine sonst von mir so geliebte Tiefgründigkeit eine pathologische Grenze. In immer kürzeren Abständen teilte er mir mit, dass er überzeugt sei, das Rentenalter nicht zu erreichen. Seine Äußerungen, die nichts anderes waren als Ausdruck seiner Ängste, wurden bald unerträglich.
Ich schlug vor, bei diesen Aussichten unsere Rentenzeit dann eben vorzuziehen und zwischen unsere Filmarbeiten einzubauen. Peter war begeistert und hatte gleich schon eine Idee. Er äußerte den Wunsch, an unsere Unternehmungen der jüngeren Vergangenheit anzuknüpfen – an unsere Reisen durch Europa auf der Suche nach einem zweiten Zuhause. Ohne lange zu zögern taten wir genau das. Das heißt, wir bereisten, nun mit Jonas, die Gebiete, die wir nicht schon von Auslandsdreharbeiten oder unseren privaten Exkursionen kannten. Viel blieb da nicht mehr übrig und ein klarer Favorit war schnell gefunden: Irland. Die Insel bietet ein weites raues Land mit einem gesunden Klima, ist von atemberaubend schönen Küsten umgeben, weist eine sehr geringe Bevölkerungsdichte auf und besitzt nicht ein einziges Atomkraftwerk!
Wir entschieden uns für einen kleinen weißen Bungalow mit Meerblick und drei Hektar Land an der dünn besiedelten Nordwestküste der Grafschaft Sligo.
Jonas war gerade zwei Jahre alt geworden, als wir im Herbst 1996 einzogen. Zu Fuß zu erreichen waren ein Postamt, eine Schule und drei Nachbarhäuser. Ein älteres Ehepaar aus Dublin, beide schon Pensionäre, die nur die Wochenenden hier auf dem Land verbrachten, eine irische Farmerfamilie mit sechs Kindern, in beinahe jeder Altersstufe eines, und Anton, ein Einwanderer meines Alters, der seinen Frieden in der Einsamkeit suchte, sein Haus selbst gebaut hatte und sehr schöne Bilder malte. Mit ihm verband Peter von Beginn an die Leidenschaft des Kochens. Alle Nachbarn waren ausgesprochen hilfsbereit und gaben uns sehr brauchbare Tipps bei nötigen Instandhaltungsarbeiten am Haus.
Es war perfekt!
Wir befanden uns auf Höhe des Meeresspiegels, also in gesündester Wetterlage. Die Luft tat uns gut, wir fühlten uns prächtig. Peters Blutdruck sank, sodass er kaum noch Medikamente nehmen musste. Er fand zur Ruhe und genoss den weiten Blick über sein Land, das Meer und die Küste Donegals. Seine Projekte konnte er größtenteils von Irland aus vorbereiten. Im Gegensatz zu den üblichen Ausfällen bei der Stromversorgung bot Irland ein stabiles, funktionierendes Telefonnetz. Peter hatte einen kleinen Laptop dabei, mailte, faxte, telefonierte und buchte online die vielen Flüge, die wir brauchten. Zu seinen beiden Drehtagen im Monat musste er natürlich nach Deutschland fliegen, aber sonst blieb er zusammen mit Jonas überwiegend in Irland und genoss die Zeit! Nur wenn sich meine Filme mit Peters Drehtagen überschnitten, flogen wir alle drei nach Deutschland.
Jonas gewöhnte sich an das viele Reisen. Er war keines dieser quengelnden Kinder, denen man nie etwas recht machen konnte. Überdies schien ihm lediglich wichtig zu sein, dass wir alle drei zusammen waren. Und Irland oder Deutschland, er hatte sowohl hier wie dort Freunde. In Irland hatte er die Auswahl von sechs Nachbarskindern als Spielkameraden, verbrachte beinahe den ganzen Tag draußen, ahmte schnell den Slang der Iren nach und plapperte einfach drauflos. Er war vollkommen ausgelastet mit seinen neuen Gefährten und wollte, als er vier Jahre alt wurde, mit ihnen zur Schule gehen. Das Eintrittsalter für Schüler liegt in Irland bei vier Jahren. Erfreulicherweise war der Schulbesuch völlig unbürokratisch für alle möglich, wir benötigten kein einziges Stück Papier, geschweige denn ein Dokument!
Also schlenderte jetzt eine lustige Gruppe von sieben Kindern morgens um zehn Uhr los. Der Weg war einfach. Es gab nur eine Straße und die führte auf anderthalb Kilometern direkt zur Schule. Es war eine Gesamtschule, das heißt, es gab nur zwei Klassen, eine für die kleineren und eine für die größeren Kinder und die Einrichtung der Räume erinnerte mich an die Zeit der Jahrhundertwende. Anfangs war ich neugierig und ging im Laufe des Tages öfter mal am Schulgelände vorbei. Zu jeder Zeit fand ich die Kinder rennend und Basketball spielend im Hof. Der Unterricht schien überwiegend aus Pausen und Ballspielen zu bestehen. Egal, sie hatten Spaß und Jonas hatte meist nur Zeit für ein kurzes Winken, wenn er mich sah. Anfangs war es auch schwierig, ihn um drei Uhr nachmittags loszueisen. Aber Vierjährige durften nun mal nicht länger bleiben.
Meine Lieblingsbeschäftigung war der tägliche Marsch zur Küste. Der Anblick des aufgewühlten Atlantiks und die Geräusche der Wellen, die an die Klippen klatschten, erfüllten mich mit so vielerlei Gefühlen, dass ich alles um mich herum vergaß. Besonders in den Wintermonaten geschah es oft, dass der Himmel sich verdunkelte, die Wolken sich auftürmten, sich zusehends purpurn färbten und so bedrohlich dicht über meinen Kopf hinwegrasten, dass ich mich unvermittelt duckte, um nicht mitgerissen zu werden. In solchen Augenblicken schien mir nichts erstrebenswerter als dieses Erlebnis – das überwältigende Gefühl, mit der Natur zu verschmelzen!
Wir hatten viel Spaß und haben viel gelernt in unserer "vorgezogenen Rentenzeit" in Irland. Nach fünf Jahren endete sie. Die Schulpflicht für Jonas in Deutschland war nicht länger hinauszuzögern, er war im Sommer sieben Jahre alt geworden. Die Sitzungen des Familienrates, die deswegen stattfanden, hatten ein klares Resultat ergeben: Wir alle drei fanden es zwar ganz wunderbar in Irland, aber Deutschland ganz zu verlassen und Iren zu werden mit allen Konsequenzen, dafür reichte die Liebe offensichtlich bei keinem von uns aus.
Innerhalb von vierzehn Tagen hatten wir das Haus ohne größeren Verlust verkauft. Noch zu verwendenden Hausrat schenkten wir den Nachbarn und das Wenige, auf das wir nicht verzichten wollten, packten wir in kleine Kartons. Als Peter das vollgestopfte Auto in Bewegung setzte und die Nachbarn winkten, war das keinesfalls ein schmerzvoller Abschied. Die nette Familie, die nun ihr Leben in dem süßen Bungalow verbringen würde, hatte uns eingeladen, bei jeder Gelegenheit zu Besuch zu kommen. Und genau das hatten wir vor. Jonas kurbelte das Autofenster hinunter, winkte und rief:
»We'll come back – during all school holidays!«