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XVIII

Die Schule begann Anfang Oktober. Aufgeregt stürmten Almas Geschwister in den Laden und zeigten sich stolz in ihren Schuluniformen. Alma verabschiedete eine Kundin und fragte dann Attilio, der mittlerweile die letzte Klasse der elementari besuchte, ob er den Weg noch kenne.

«Ma certo! Was denkst du denn!», antwortete Attilio, der sich für den ersten Schultag noch mehr als sonst herausgeputzt hatte. «Palazzo Brancaccio, Via Giovanni Lanza hinunter, die Via Cavour überqueren und dann hinauf in Richtung Madonna dei Monti. Ganz einfach!»

«Geht jetzt, ihr seid spät dran!» Alma tat beeindruckt, lachte und strich Giacomo, der mit den Tränen kämpfte, über die Haare. Attilio nahm Giacomos Hand und mit den schweren Schultornistern auf dem Rücken und den Verpflegungsbündeln in der anderen Hand rannten die beiden die Via Merulana hinauf. Mittags bekamen sie Suppe, für den Rest des Tages musste das reichen, was Nazzarena ihnen mitgegeben hatte.

Auch der kleine Pietro, der schon längst lesen und schreiben konnte, strahlte. Endlich durfte er den Kindergarten besuchen! Die Nonnen werden bestimmt entzückt sein über den gescheiten Bub mit dem Engelsgesicht, dachte Alma. Sie beneidete die Geschwister dafür, dass sie noch zur Schule gehen durften.

Wie vermisste sie den Unterricht! Vor zwei Jahren hatte sie die complementari beendet. Zu ihrem grossen Bedauern war danach keine Rede davon gewesen, in das ginnasio überzutreten oder die Ausbildung zur Lehrerin zu absolvieren. Für Vater war das nicht in Frage gekommen, und ihre bange Frage hatte er damit abgetan, dass auch keine ihrer Freundinnen weiter zur Schule gehe. Ausser Angela, aber die sei ja ohnehin nicht ganz normal. Alma könne bei der Buchhaltung mithelfen, das habe sie ja gelernt. Ausgerechnet!, hatte Alma damals gedacht und seither keinen Schritt in das Buchhaltungszimmer mehr gemacht. Dann doch lieber die Geschwister hüten oder Wäsche waschen.

«Ciao, ciao!» Irene und Pietro drehten sich um und winkten.

Alma stand auf der Türschwelle des forno und sah ihnen nach. Mutter begleitete die beiden über die Strasse zum Istituto delle figlie di Sant’Anna an der Ecke zur Via Buonarroti. Das Institut, in dem auch Alma zur Schule gegangen war, befand sich in einem unscheinbaren Gebäude, in dessen Erdgeschoss ein Barbier und ein Stoffhändler ihre Geschäfte führten. Daneben war das Haushaltgeschäft der beiden älteren Damen.

Alma erinnerte sich an den Innenhof mit dem mit Mosaiken ausgelegten Fussboden, dem plätschernden Brunnen, dem purpurn blühenden Oleander und den Palmen, in deren Schatten sie die Pausen verbracht hatten. Wenn man Glück hatte, ging das Klassenzimmer auf die Via Merulana. Von dort waren die Geräusche der Strasse heraufgedrungen, und man hatte sich ausgemalt, was unten gerade los war. Doch wehe, wenn die Lehrerin eine Schülerin erwischt hatte, die nicht zuhörte! Erbarmungslos waren sie zurechtgewiesen worden. Die Schulzimmer zur Via Buonarroti hingegen hatten als langweilig gegolten, denn dort war nur das Hämmern des Steinhauers aus der Via Giusti zu hören gewesen.

Irene besuchte, wie in ihrem Alter auch Alma, die complementari. Diese Schulkurse sollten die Schülerinnen auf ihre Rolle als Mutter und Erzieherin, Hausfrau und Vorgesetzte vorbereiten. Im Laufe der Schuljahre hatte Alma mit Rachele und Marianna Freundschaft geschlossen. Und auch mit Rosa, der Tochter des Grysmayrs, eines österreichischen Pferdehalters. Ihr Schulweg war so kurz gewesen, dass die Freundinnen schon als kleine Mädchen um einen zusätzlichen Häuserblock herumgegangen waren, um nicht gleich nach Hause zurückkehren zu müssen. Später, in den oberen Klassen, mit vierzehn oder fünfzehn Jahren, waren sie regelmässig durch das Quartier gestreift. Oft hatten sie den Hof von Rosas Vater aufgesucht. Dort, im unteren Teil der Via Merulana, in der Nähe des Stadttors, hatte der Grysmayr die Pferde der Aristokraten, die an Turnieren geritten wurden, in Pension. Rosa hatte heimlich für den Stalljungen geschwärmt, der Tag für Tag die Pferdeboxen reinigte, und Rachele für den Sohn eines reichen römischen Bankdirektors. Kichernd hatten sie jeweils beobachtet, wie der eine das Pferd sattelte, mit dem der andere ausritt. Für Alma hatte es dort viel zu sehr nach Mist gestunken.

Dem Schulunterricht war stets ein Gottesdienst vorausgegangen. Alma sah sich kniend die Kommunion empfangen. In der Schuluniform, dem knöchellangen, dunkelblauen Rock und der weissen Bluse mit den langen Ärmeln. Dann der Marsch durch die langen, düsteren Korridore. Der Nonne nach, deren energische Schritte das schwarze Ordenskleid zum Rauschen brachten. Alma erinnerte sich an den strengen Geruch der Schulzimmer, ein Gemisch aus Seife und öligem Harz, der einem den Atem nahm. An die Leibesübungen bei aufgesperrtem Fenster. Arme nach oben, zur Seite, Rücken dehnen, andere Seite, und ja immer den Rücken gerade halten. Einatmen, ausatmen. Setzen. Gerade sitzen! Fenster schliessen!

Und dann die Strafen! Bei jedem Flüstern eine Kopfnuss, bei jedem gekrümmten Rücken, auch wenn er vom langen Sitzen schmerzte, für den Rest der Stunde vor die Klasse stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und abends den verpassten Schulstoff zu Hause nachholen! Unangenehm, dennoch, mit Ausnahme der zum Gähnen langweiligen Näh- und Sticklektionen, hatte Alma den Unterricht sehr gemocht. Allem voran ihre Lieblingsfächer Geografie und französische Konversation. Aber auch Italienisch, Religion und Moral, Arithmetik und Kalligrafie. Am allerliebsten hatte sie in der kleinen, institutseigenen Schulbibliothek nach Liebesgeschichten gestöbert, die es allerdings fast nur auf Französisch gab, und nach Reiseberichten und Büchern über fremde Länder.

Mutter, Irene und Pietro verschwanden um die Ecke. Die Schulkinder würden erst am Nachmittag wieder zu Hause eintreffen, Mutter würde dann in den Laden eilen, und Alma müsste, wenn man sie dort nicht mehr brauchte, bei den Hausaufgaben helfen und danach mit den Geschwistern nach draussen spielen gehen.

Alma trat wieder in den Laden, froh, vorerst ihre Ruhe zu haben. Im Vergleich zu den anderen war der daheimgebliebene Folco, wenn er allein war, ein Engel, und Romeo, der von der Backstube heraus «Tizio matto, mizio matto – Tiziano, du Spinner» in Richtung Kasse rief, um seinen Vetter zu ärgern, harmlos. Tiziano spielte den Beleidigten, und Romeo und Alma lachten. Dann kehrte sie hinter die Ladentheke zurück.

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